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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1099–1100

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kolbinger, Florian

Titel/Untertitel:

Zeit und Ewigkeit. Philosophisch-theologische Beiträge Bonaventuras zum Diskurs des 13. Jahrhunderts um »tempus« und »aevum«.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. 488 S. m. 2 Abb. = Münchener Universitätsschriften. Katholisch-Theologische Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, 55. Geb. EUR 99,80. ISBN 978-3-05-005666-1.

Rezensent:

Wolfgang Beinert

Man erfährt leicht selbst, was schon Augustinus wusste: Zeit ist das Alltäglichste und Allgewöhnlichste im Leben – solange man darüber nicht reflektiert. Dann freilich wird sie mit einem Male zum Allerfremdesten und höchst Komplizierten unseres Denkens: Was ist die Zeit, wie ist sie beschaffen (linear oder zirkulär), wie verhalten sich Zeit und Ewigkeit zueinander, gibt es eine Einheit der Zeit – des Fragens nimmt es kein Ende, so man sich erst einmal darauf eingelassen hat. Florian Kolbinger, Priester der Diözese Augsburg, führt das am Beispiel des Doctor seraphicus, des bedeutendsten mittelalterlichen Theologen aus dem damals neuen Orden der Minderbrüder, sehr anschaulich, sehr gelehrt und für die Mediä-vis­tik außerordentlich gewinnbringend vor.
Zunächst sucht K. Zugänge zum Thema Zeit – Ewigkeit überhaupt zu öffnen. Sein Ziel ist es, die Gedanken Bonaventuras zur Sache umfassend darzustellen. Diese sind zwar an keiner Stelle systematisch und geschlossen zusammengefasst, sondern finden sich übers ganze Werk verstreut. Allenfalls im Sentenzenkommentar von 1250/52 (der merkwürdigerweise im Literaturverzeichnis nicht ausdrücklich genannt ist) kann man reichere Funde machen. Dennoch wird ein aufmerksames und umfassendes Textstudium fündig: Zeit ist ein Primärobjekt bonaventuranischen Denkens. Natürlich kann man über die Zeit nicht nachdenken ohne Unterstützung der Philosophie, doch der Franziskaner ist in erster Linie Theologe und hat theologische Absichten. Tatsächlich ist die Theologie sozusagen vom ersten bis zum letzten Traktat zeitgeprägt: Die Grundsignatur der Schöpfung ist, wie gezeigt wird, die Zeit – und damit auch eine Grundbestimmung des Menschen, der wie diese auch auf die Vollendung der Zeitlichkeit im ewigen Leben hinläuft. Im Neuen Testament wird Christus als »Fülle der Zeiten« charakterisiert; dann aber hat auch die Christologie am Thema interessiert zu sein.
K. arbeitet sein Thema in vier Schritten ab. Im ersten Teil geht es um »Zugänge zu ›Zeit und Ewigkeit‹«. Er ordnet sie in die Begrifflichkeit des 13. Jh.s ein und hebt besonders den Einfluss von Aris­-toteles und Augustinus heraus, der beiden einflussreichsten Zeit-Denker noch bis heute. Die theoretische Untersuchung beginnt mit dem zweiten Teil (»Die Frage nach der Zeit«). Hier setzt K. eine wichtige Einschränkung: Er möchte lediglich die quantitative Seite (Wesen der Zeit), nicht die qualitative, geschichtstheologisch wichtige (Bedeutung der Zeit) betrachten. Das ist an sich schade, da gerade Bonaventura ein bedeutender Vertreter der Geschichtsthematik ist, allerdings zeigt sich im Lauf der Lektüre rasch, dass eine strikte Separation gar nicht möglich ist. Mit den meisten mittelalterlichen Autoren unterscheidet Bonaventura drei Gestalten von »Zeit«: tempus (die Weltzeit mit dem Werden und Vergehen), aeternitas (Ewigkeit: die Zustandsform Gottes) und aevum (die Zu­standsform geschaffener, aber unsterblicher Wesen wie der Engel oder der menschlichen Seelen als Fortsetzung des einmal gesetzten Anfangs). In den beiden letzten Kapiteln wendet sich unsere Aufmerksamkeit den philosophischen (Maßbegriff, nunc) und theologischen Vorabklärungen zu (Zeit und Schöpfung, Zeit als habitudo concreata).
Das alles geschieht mit großer Bedachtsamkeit, getragen von einem profunden Wissen und in ausgedehnter Beschreibung. Sie füllt mehr als die Hälfte des voluminösen Buches. Erst im dritten Teil wendet sich K. endgültig seinem Protagonisten zu. Er behandelt dessen Anschauungen zu tempus und aevum auf dem Hintergrund der Ewigkeit Gottes. Im abschließenden vierten Teil zeigt er schließlich die Auswirkungen der philosophischen Spekulationen auf die Theologie, d. h. vor allem auf Schöpfungslehre (Protologie), Christologie, Anthropologie sowie auf die Eschatologie. Die sich durchhaltende Gottesrelation der Zeit ermöglicht Bo­naventura in der Nachfolge von Platon und Averroes eine relativ optimistische und der evolutiven Dynamik der Schöpfung gerecht werdende Welt-Anschauung. Das ist angesichts der generellen Verfallstheorien der Epoche sehr beachtenswert. Gegen Aristoteles, dessen Gott nur passiv geliebt werden, selbst jedoch nicht lieben kann, vertritt Bonaventura nachdrücklich die Personalität Gottes, aufgrund derer reale Relationen zu seinen Geschöpfen in der Zeitlichkeit möglich und erforderlich sind. Vermittelt werden sie durch Jesus Christus, in dem Zeit (als Mensch) und Ewigkeit (als Gott) Mitte und Ziel haben. Die Zeit mindestens nach Christus bekommt dadurch geradezu eine sakramentale Dimension.
Zu­sammenfassend kann der seraphische Lehrer sagen: »Also ist in Christus, der in allem die Mitte einnimmt, aller Anfang und alle Ausrichtung auf den Schöpfer gegeben« (Hex. Princ.1 [1] 10 – übersetzt nach dem Zitat 370). Dadurch bekommt die Zeit einen heilenden, therapeutischen Charakter für den auch mit der sündhaft gewordenen Schöpfung konfrontierten Menschen: Zeit ist Ausgang (exitus) wie Heimkehr (reditus) zu Gott, also immer die Zeit des Ewigen.
Das von K. vorgelegte Buch stellt eine eindrucksvolle, ebenso gründliche wie klare Forschungsarbeit dar, wie man sie nicht oft so mustergültig vorgelegt bekommt. Nicht zuletzt ein Blick auf den 75 Seiten starken Anhang (Literatur- und Abkürzungsverzeichnis, umfangreiches Personen- und Sachregister, Liste der Diagramme und Tabellen, Bibelstellenverzeichnis) verweist auf die Akribie, die für diese mediävistische Arbeit aufgewendet worden ist. Hervorzuheben ist des Weiteren – und auch das ist nicht mehr selbstverständlich heutzutage – die kristalline Darstellung der äußerst komplexen und schwierigen Materie. Weil keine Regel ohne Ausnahme ist: Die Kommasetzung im Deutschen sollte einmal repetiert werden.