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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1022–1024

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Watts, Rikki E.

Titel/Untertitel:

Isaiah’s New Exodus and Mark.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. XVI, 479 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 88. Kart. DM 128,-. ISBN 3-16-146222-X.

Rezensent:

Manuel Vogel

Die von Christopher Rowland betreute und am Jesus College in Cambridge als Dissertation angenommene Studie hat die Bedeutung des Jesajabuches für die Interpretation des MkEv zum Gegenstand. Über die im forschungsgeschichtlichen ersten Kapitel (Scholarship on the OT in Mark) vorgestellten Arbeiten geht der Vf. v. a. mit seiner These hinaus, daß sich von Jes her der (bisher vergeblich gesuchte) theologische Gesamtduktus des Evangeliums erschließt. Näherhin sei es der bei Jesaja verheißene, aus der Perspektive des ersten Jh.s jedoch noch ausstehende und daher allgemein erwartete "New Exodus" (NE), den Jesus durch sein Leben und Sterben ins Werk gesetzt hat.

Die methodologischen Voraussetzungen der Studie werden in Kapitel 2 entfaltet (History as Hermeneutic: Ideology and Community Self-Understanding). Der Vf. setzt bei der "[s]ocial [f]unction of [i]deology" (34) an, bei gemeinsamen weltanschaulichen Schemata einer Gruppe oder Gesellschaft also, die wesentlich auf dem erinnernden Rekurs auf die Gründungsgeschichte, "the community’s founding moment" (37) basieren. Die Erinnerung an die gemeinsame Weltanschauung als "the group’s overall interpretative framework" (40) wird durch "icons" und "symbols" aktualisiert (40 ff.), d. h. durch einfache Sprachmuster, die als "compact and powerful conveyors of extensive webs of meaning" (41) funktionieren. Für das MkEv setzt der Vf. eine "shared Weltanschauung of the NT and OT authors" voraus (48), die auf der Gründungsgeschichte des Exodus fußt und sich in der Erwartung eines prophetischen Neuen Exodus fortsetzt (49). Hierfür nimmt der Vf. "a common underlying schema of deliverance, journey, and arrival at Yahweh’s dwelling" an. Dieses "simple pattern" (50) bildet auch die Makrostruktur in Jes 40-55 (50 Anm. 61) und gibt die Interpretationsgrundlage für das Jesajabuch insgesamt vor. Wenn der Verfasser des MkEv also mit einem "textual icon" auf eine Jesajastelle verweist, dann ruft er damit im Gedächtnis seiner Leser zugleich die Bedeutung dieser Stelle im Gesamtkontext des Buches bzw. des Neuen-Exodus-Schemas auf. Die atl. Zitate und Anspielungen gelten demnach nicht als isolierte Textverweise. Vielmehr war den Lesern des MkEv, deren "thorough-going Jewishness" vorausgesetzt wird (47), auch der jeweilige engere und weitere Kontext der Stelle präsent. Sie verstanden das Zitat oder die Anspielung als Teil des "Isaianic New Exodus" (INE), der ausweislich der zahlreichen Zitate und Anspielungen im Leben und Sterben Jesu Wirklichkeit wird.

Hierbei spielt Mk 1,2 f. eine herausragende Rolle (Kapitel 3: Mark’s Introductory Citation). Es handelt sich nach der Analyse des Vf.s um ein Mischzitat aus Ex 23,20, Mal 3,1 und Jes 40,3. Bereits Mal 3,1 steht in der Tradition des INE, doch ist hier die Heilserwartung des NE, wie sie sich in Jes 40,3 niederschlägt, zu einer Gerichtsankündigung umgedeutet (Mal 3,2). Aus diesem Doppelsinn von Mk 1,2 f. entwickelt der Vf. den Deutungsrahmen für das gesamte Evangelium: Jesus wirkt den INE, der sich aber dort, wo seine Botschaft und Person auf Ablehnung stößt, als Gericht ereignet. Der bis Mk 1,15 reichende Prolog (Kapitel 4: The Markan Prologue) ergänzt diesen Deutungsrahmen um weitere Elemente, die der Vf. sämtlich dem "overarching schema of the INE" zuordnet (120): den Begriff des "Evangeliums" 1,1.14 f. (96-99), das "Nahen" der Gottesherrschaft und die "Erfüllung" der Zeit Mk 1,14 (99-102), die "Zerteilung der Himmel" (vgl. Jes 63,19) und das "Herabsteigen" (vgl. Jes 63,19) des "Geistes" (vgl. Jes 63,10 f.) als Antwort auf die Klage über das Ausbleiben des NE in Jes 63,7-64,12 (102-108), die Bezeichnung "Sohn" Gottes, die Jesus als "son of God" und wahres Israel nach Jes 42,1 und zugleich als "Son of God" nach Ps 2,7 vorstellt (108-118), ein Sachverhalt, auf den im Verlauf der Studie mit der Wendung "S/son of God" Bezug genommen wird. Kapitel 5 (The Significance of the Prologue for Mark’s Literary Structure) dient dem Nachweis, daß das als im Frühjudentum geläufig vorausgesetzte dreiteilige NE-Schema (135: "Yahweh’s deliverance of his exiled people from the power of the nations and their demons" - "the journey along the ’Way’ in which Yahweh leads his people from their captivity among the nations" - "arrival in Jerusalem, the place of his presence, where Yahweh is enthroned in a gloriously restored Zion") auch die Makrostruktur des MkEv bestimmt: Auf die Taten Jesu im teilweise heidnisch bevölkerten Galiläa (1,16-8,21) folgen die Stationen des "Weges" (8,22-10,45) und das Wirken Jesu in Jerusalem (10,46-16,8).

Die Kapitel 6 bis 9 untersuchen den so strukturierten Text auf weitere Elemente des INE, die hier nur in einer kleinen Auswahl vorgeführt werden können. Kapitel 6 (Jesus as Yahweh-Warrior and Israel’s NE Healer and Provider in Mark 1:16-8:21/26) rückt die Taten Jesu in Galiläa in den jesajanischen Horizont des machtvollen Erlösungshandelns Gottes an seinem exilierten Volk. Der besessene Gerasener ist ein Jude in der Diaspora, der "Gott nicht gesucht hat" (Jes 65,1). An der Stelle der Knechtschaft unter den Völkern steht das Beherrschtsein von den Dämonen der Völker. In Mk 3,22-30 (Sünde gegen den heiligen Geist) wiederholt sich indes die Reaktion des widerspenstigen Israel, das Gottes "heiligen Geist betrübt" hat (Jes 63,10). Deshalb hat das Handeln Jesu in Übereinstimmung mit Jes 6,9 f. (Mk 4,12) und Jes 29,13 (Mk 7,6 f.) auch Gerichtscharakter (Kapitel 7: Isaiah’s Promise ... and Maleachi’s Threat: Part 1 Judicial Blinding). Kapitel 8 (The Way of Yahweh’s NE: Mark 8:21/26-10:45/11:1) deutet die Blindenheilungen Mk 8,22-26 und 10,46-52, die den "Weg"-Mittelteil des Evangeliums rahmen, sowie das Motiv des Jüngerunverständnisses von Jes 42,16 her ("Blinden will ich Führer sein auf dem Wege, auf Pfaden sie leiten, die sie nicht kennen") als Teil des INE-Geschehens. Während sich das Unverständnis Israels auf die Ablehnung des Cyrus als Gesalbten bezog, äußert sich das Jüngerunverständnis in der Ablehnung eines leidenden Messias. Mit der Verfluchung des Feigenbaums beim Eintreffen Jesu in Jerusalem kommt wieder der Gerichtsaspekt zum Tragen (Kapitel 9: Isaiah’s Promise ... and Maleachi’s Threat: Part 2 Arrival in Jerusalem). Jesus ist "der Herr, der plötzlich zu seinem Tempel kommt" (Mal 3,1) und die Zerstörung des Tempels ankündigt.

In Kapitel 10 (Conclusions) wird der Ertrag der Untersuchung, der in den Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel und Unterabschnitte schon gut aufbereitet ist, nochmals ausführlich dargestellt. Die Studie ist in ihrer methodischen Konsequenz zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Erforschung des MkEv. Sie weist ihren Verfasser als guten Kenner der Forschungsprobleme aus, mit denen er in der Bewältigung einer immensen Sekundärliteratur souverän umzugehen versteht. Daß er selbst für seine Hauptthese nicht ungeteilte Zustimmung erwartet, lassen die vielen vorsichtigen Formulierungen erahnen, wie auch der Versuch, mögliche Einwände sämtlich namhaft zu machen und zu entkräften. Bedenken sind m. E. hauptsächlich gegen den angenommenen Zusammenhang von "ideology" und Text anzumelden. Welche Hinweise gibt es darauf, daß die unterschiedlichen Textschichten des Jesajabuches die Heilserwartungen des nachexilischen Judentums nicht nur mit prägten, sondern daß - und nur in diesem Fall wäre die Hauptthese des Vf.s tragfähig - das Jesajabuch im 1. Jh. der zur Artikulation dieser Heilserwartungen maßgebliche Text war, auf den zu verweisen selbst vage "allusions" genügen konnten, um bei den Lesern präzise Erinnerungen an den Kontext der angespielten Stelle wachzurufen, die wiederum zu einem Verständnis der im MkEv erzählten Handlung als Aktualisierung des "Isaianic New Exodus" führten? Die (plausible) Vorausset-zung einer gemeinsamen "ideology", welche durch "icons" und "symbols" im Gedächtnis der Adressaten eines literarischen Textes oder einer Rede aufrufbar ist, sagt noch nichts über die intertextuelle Relation von Evangelium und Prophetenbuch. Selbst wenn das vom Vf. angenommene (eher behauptete als nachgewiesene) Exodus-Schema im Frühjudentum vorhanden war, bleibt immer noch zweifelhaft, ob man das Jesajabuch als Entwurf eines solchen dreiteiligen Heilsdramas verstanden hat, und erst recht, ob man aufgrund dieses Schemas in der Lage war, derart detaillierte (und nur zu oft wenig naheliegende) Querverbindungen zwischen Jes und MkEv herzustellen. Der Schritt vom (mutmaßlichen) gemeinsamen Schema zur Analogie im Detail, den der Vf. auf S. 50 beschreibt, scheint mir daher der entscheidende methodologische Schwachpunkt zu sein, von dem aus das ganze Unternehmen fragwürdig wird. So trägt der originelle und an sich nicht uninteressante Zugang zum Thema (trotz der auf 375-377 zusätzlich entwickelten methodologischen Kriterien) für das alte Problem, welche Rolle der Kontext eines atl. Zitats spielt und wie Zitat und Anspielung zu unterscheiden sind, kaum etwas aus.

Auch die Beweiskraft der durchweg ausführlich herangezogenen zwischentestamentlichen Texte (v. a. PssSal, TestPatr, Qumran) ist mir zweifelhaft. Deutlich wird doch nur, daß die Artikulation von Heilserwartungen anhand jesajanischer Motive im Frühjudentum verbreitet war, nicht aber, ob und inwiefern man diese Motive in einem größeren "ideologischen" und /oder literarischen Rahmen interpretierte. Einen paradoxen Effekt haben sodann die z. T. ausufernden Nachweise von "verbal allusions".

Je ausführlicher der Vf. in die Diskussion mit der Sekundärliteratur eintritt, je weiter er ausholt, um den jesajanischen Einfluß einer Mk-Stelle nachzuweisen, desto weniger mag man ihm folgen, weil so eine Vieldeutigkeit der Textverweise zu Tage tritt, die schon in der ursprünglichen Rezeptionssituation des MkEv bestimmend gewesen sein muß. Schließlich bleibt die Frage offen, wie der Standort der Gemeinde des MkEv im Heilsdrama des "Neuen Exodus" zu bestimmen ist. Ist dieses Geschehen mit dem Heilstod Jesu abgeschlossen und damit selbst schon wieder ein Stück Geschichte geworden? Welche Deutungsmuster standen dann der mk Gemeinde für ihre eigene Gegenwart zur Verfügung?

Die vorgebrachte Kritik will den Wert der Studie nicht in Abrede stellen. Der Versuch eines methodischen Neuansatzes in der Frage nach der Bedeutung des AT für die Komposition und Theologie des MkEv verdient allen Respekt. Die mit philologischer Gründlichkeit erarbeiteten Teilergebnisse verdienen es allemal, in der weiteren Forschung berücksichtigt zu werden.