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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1076–1079

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weingart, Kristin

Titel/Untertitel:

Stämmevolk – Staatsvolk – Gottesvolk? Studien zur Verwendung des Israel-Namens im Alten Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVII, 439 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 68. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-153236-8.

Rezensent:

Ina Willi-Plein

Eine längst fällige und erfreulicherweise erschöpfende Untersuchung zu einem ebenso wichtigen wie aus mancherlei Gründen schwierigen, auch enzyklopädischen Thema liegt mit diesem Buch von Kristin Weingart vor.
Eine »Annäherung« stellt zunächst »Forschungsstand und Fragestellung« vor. Die wenigen, aber zum Teil gewichtigen, außerbiblischen »Israel«-Belege werden auf S. 4–7 kurz behandelt; kontroverse Urteile der Epigraphik sind im vorliegenden Zusammenhang zurückzustellen. Für die Forschung über die 2514 Belege des Wortes »Israel« im Alten Testament und seine Bedeutung oder Ge­brauchsweise gilt auch nach Erscheinen dieses opus magnum noch, wenngleich besser begründbar: Es »ist im Alten Testament […] auch deswegen eine schillernde Bezeichnung, […] weil in zahlreichen Texten eindeutige, für eine rasche Disambiguierung auswertbare Signale fehlen.« So wird nach der hilfreichen Übersicht über »Trends in der Forschung« (8–37) der »Gegenstand und Gang der Untersuchung« mit einem methodischen Blick auf »elementare Codes kollektiver Identität« justiert. Die Arbeit soll zudem vom eher Sicheren aus auf weniger Sicheres gelenkt werden.
Im Hauptteil »B. Analysen« stellt daher Teil »1. ›Israel‹ in Texten der Perserzeit« vor (54–169). Das ist einerseits einleuchtend, andererseits nicht ohne zwar vorgegebene, aber zum Teil sehr unsicher bleibende Hypothesen durchführbar. »Der exklusive Israel-Begriff« als Untertitel, die Rubrik »1.1 Die Abgrenzung gegen Samaria« und die für den ersten behandelten Text gewählte Überschrift »Keine Israeliten in Samaria – 2Reg 17,24–41« (54) sind allerdings gewagt. Das vorausgesetzte Verständnis des Abschnitts als »einer ironisch-polemischen Erzählung« (54) mag zurzeit zumindest hinsichtlich der Einschätzung als »polemisch« eine Mehrheitsmeinung sein, ist aber dennoch nicht ohne Weiteres konsensfähig. Inwiefern überhaupt Ironie als Kunstgriff uneigentlicher Rede in einer »Erzählung« der alttestamentlichen Historiographie belegbar oder we­nigstens denkbar ist, bleibt der Rezensentin unsicher (Ri 9,7–15 bietet eine andere Gattung, deren Doppelbödigkeit wie bei einer Fabel literarisch signalisiert wird). Zwar wissen die Nicht-Israeliten nach 2Kön 17 als Landfremde von JHWH »am Ende lediglich, wie er zu verehren ist«, aber das reicht für die erzählte Situation völlig aus und hat mit Ironie nichts zu tun, sondern passt in die altorientalische Umwelt. Es geht um praktischen Respekt vor dem zürnenden, weil vernachlässigten Landesgott.
Der Einstieg der Untersuchung ausgerechnet beim Problem der Samarier/Samaritaner, das zunehmend im Mittelpunkt wichtiger neuer Forschungsansätze steht, legt so aber– auch im Blick auf den Ich-Bericht Nehemias und erst recht auf Esra – gerade kein festes Fundament für die Annahme, dass das »hier angesprochene Israel […] eine ethnische Einheit [sei], deren Grenze […] gegen den Bereich des früheren Nordreichs bzw. die Provinz Samaria klar gezogen ist« (72). Denn gegen einige Charakterisierungen des Esra-Nehemia-Werkes lassen sich Einwände nicht unterdrücken:
Zu S. 69 ist zu bemerken, dass der semantisch spezialisierte Begriff יבשׁה nur auf die 586 abgeführte Gefangenengruppe bezogen werden kann, die aus der Bevölkerung von Juda gebildet wurde, aber nicht mit ganz Juda identifiziert werden kann. Zu S. 72: Auch wenn »Israel« im Ich-Bericht Nehemias selten verwendet wird, ist mit W. der Schluss abzuweisen, dass der Name in der Abfassungszeit keine Rolle als Identifikationsgröße gespielt habe. Aber auch die von ihr postulierte ethnische Abgrenzung Israels kann nicht mit Neh 13,27 begründet werden, wo es nicht um die religiöse Mischehenproblematik, sondern um das Problem der Minderheitensprache geht (so u. a. S. Japhet; J. Tropper, auch die Rezensentin). Die Vermutung einer Grenzziehung des »in Kontinuität zum vorexilischen Gottesvolk« stehenden Israel »gegen […] die Provinz Samaria« wird sich kaum aufrechterhalten lassen. Nicht »trotzdem« ist festzuhalten, dass die Exilserfahrung in der Einwohnerliste »in Esr 2/Neh 7 nicht das entscheidende Kriterium für die Zugehörigkeit zu Israel« ist.
»Das Zwölf-Stämme-Volk im Exil« (84) wird anhand der Zeichenhandlung von Ez 37,15–24, im Einzelnen einer Fortschreibung von Ez *34,1–37,14, eingehend besprochen, danach auch die »Restitution des exilierten Israel« aus Jer 3,18; 30,1–3; 31,27 ff.; Sach 10,3–12 entnommen und schließlich eine »neue Landnahme« vor allem in Ez 47 gefunden. Zwar kann man auch gegenüber den so gewonnenen Zwischenergebnissen nicht zuletzt wegen der implizierten Voraussetzungen skeptisch sein und bleiben, alle vorgelegten Textdiskussionen sind aber in den philologischen Einzelbeobachtungen unbedingt lesenswert und im besten Sinne »beachtlich«.
Das nächste Teilthema ist »2. ›Israel‹ in Nord und Süd – Der inklusive Israel-Begriff« (99–170), darunter zunächst als 2.1 »Israel« in den Chronikbüchern: »Von den 152 Belegen für ›Israel‹ als Kollektivum in den Genealogien 1Chr 1–9 sowie der Darstellung der davidischen und salomonischen Reiche, verwendet lediglich 1Chr 5,17 mit לארשׂי־ךלמ םעברי ›Israel‹ für das Nordreich« (102). Dazu wären auch die Implikationen von 1Chr 5,1–2 (vgl. T. Willi, Chronik, BKAT XXII/1 [2000], bes. 164–167) zu bedenken, mit denen zudem die S. 105 notierte Übernahme von »ganz Israel« in 2Chr 10,1 aus 1Kön 12,1 mit der Erzählung zur Trennung der Nordstämme Israels vom Davidshaus zusammenhängen könnte. Wichtig ist W.s Resultat (102): »Die übrigen Belege beziehen sich auf Israel in seiner Gesamtheit«.
»2.1.3.2 Israel und seine Stämme I – die Anordnung der Stämme (1Chr 5,1–2)« (121) vermag nicht alle Fragen ganz befriedigend zu lösen, die der Text vor allem in Bezug auf eine Erstgeburtsstellung Josefs aufwirft (s. o.). Es geht nicht um die väterliche »Erstgeburt Israels« – diese bleibt genealogisch bei Ruben, obwohl der Text der Vorlage von Chr (Gen 49) auf die Vormachtstellung Judas führt. So kann man auch zweifeln, ob bzw. in welcher Weise durch Chr »die Koordinaten innerhalb des 12-Stämme-Systems verschoben werden, das System aber als für die Größe Israel grundlegend beibehalten wird« (127). Ob »exogame Einheirat« von Frauen einen »innerhalb des genealogischen Prinzips möglichen Weg zur Integration von Nicht-Israeliten in den Stamm Juda darstellt« (131), ist kein Problem, weil Genealogien über die Manneslinie geführt werden; ob das Ergebnis tatsächlich Nicht-Israeliten in einen Stamm Juda integriert, bleibe dahingestellt, falls nach Chr »zu Israel gehört, wer vom Stammvater« [aber nicht Stammesvater! IWP] »Israel abstammt«. Ob und ab wann Juda ein Stamm war oder wurde, ist eine andere Frage.
Wichtig, aber weiterhin diffizil bleibt die Beurteilung von 1Chr 9,1–2.3 (131–135), wo es um die genealogische Registrierung von »ganz Israel« geht. Demnach habe Chr in I 5,25 lediglich die Deportation der ostjordanischen Stämme Ruben, Gad und Halb-Manasse notiert, wogegen die übrigen Stämme Israels im Land blieben, aber Juda ins babylonische Exil musste. Falls diese philologisch ansprechende Interpretation zutrifft, gilt: »1Chr 9,2 übernimmt also eine Scharnierfunktion, die derjenigen von 1Chr 2,1 vergleichbar ist« (135), und das bedeutet: »›Ganz Israel‹ schließt also alle genannten Stämme, Sippen und Familien bzw. ihre Abstammungslinien ein« (136), und so »ergibt sich, dass Chr mit der Vorstellung der Registrierung eine tendenziell offene Israel-Konzeption argumentativ stützt.« (137)
Sicher bleibt, dass Chr »Israel« inklusiv versteht, ebenso auch W.s Fazit (159): »Die […] gesamt-israelitische und zugleich Jerusalem-zentrierte Perspektive prägt Sach 9–11 insgesamt.« Und »gesamt-israelitische Erwartungen« bestimmen auch Jes 11,11–16; Hos 2,1–3; Ob *15–21.
Teil II »›Israel‹ als Bezeichnung Gesamt-Israels oder Judas vor dem Ende des Nordreichs« (171–287) geht nun mit philologischem Rüstzeug zunächst für »Israel« in judäischen Texten die (noch so ge­nannte) Thronfolgegeschichte durch, dann die »Semantik des Israel-Namens bei Proto-Jesaja« und den »JHWH-Titel ›Heiliger Israels‹« sowie »Israel« als alternative Bezeichnung für Juda in Mi­cha 1–3. Dass manches exegetische Teilproblem nicht definitiv gelöst werden kann – vor allem der »Heilige Israels« wird weiter überdacht werden müssen –, ist eine banale Feststellung, kein Ta­del. Wer zu einem derart großen Thema getreulich auch kleine, aber gewichtige Einzelheiten der Texte diskutiert, leistet Grundlagenarbeit.
Unterteil 2 behandelt »›Israel‹ in Texten aus dem Nordreich« (235–287). Hier wird vor allem im Blick auf die Gen-Texte vieles strittig bleiben. Von Israel in der Erzelterngeschichte über besonders Gen 29,31–30,24 nähert sich W. der für das Thema ebenso wichtigen wie in Bezug auf die literarische Gestalt(ung) immer noch umstrittenen Josephsgeschichte. Im Einzelnen geht es um »Benjamin zwischen Joseph und Juda (Gen 37–50)« als »Thema und Einheitlichkeit der Josephsgeschichte«, die somit zu Recht in ihren – auch – historiographischen Zielen gewürdigt wird. Der Abschnitt »Zum historischen Ort der Erzählungen« führt dann über die Rahmenbedingungen der Jakoberzählung, deren überlieferungsgeschichtlicher oder literarischer Charakter etwas diffus bleibt, zur Erschließung der »historisch-politischen Rahmenbedingungen der Josefsgeschichte«. Das Problem sei nicht, dass einer über Israel herrscht, sondern dass Josef das tut: »Insgesamt stellt die Jo­sephs­geschichte die Vorherrschaft Josephs als eine von JHWH intendierte Einrichtung dar, die für das Überleben des ganzen Hauses Israel positive Auswirkungen hat.« (266)
Der »Nordreich«-Teil wird mit dem Blick in schwierige Texte und Probleme der Bücher Amos und vor allem Hosea abgeschlossen, wobei sich W. auch mit besonnener Diskussion den gegenwärtig vielfältig betriebenen Forschungen zur Redaktionsgeschichte des Zwölfprophetenbuches stellen muss und kann. Das Verhältnis von »Israel« und »Ephraim«, zu dem A. Alts These vom »Rumpfstaat E.« nicht mehr einfach zu übernehmen ist, kommt u. a. in Hos 5,3–7 zur Sprache, also im Anschluss an das »Haus Israel« (Hos 5,1), das – nicht überraschend – »an keiner Stelle im AT für eine spezielle Gruppe innerhalb des Volkes steht, sondern stets das Volksganze meint (sei es das Volk des Nordreichs, des Südreiches oder Gesamt-Israel)« (283). Ein Fazit führt über die »Stämme Israels« in Hos 5,9 zu dem Schluss, »dass der gesamt-israelitische Zusammenhalt im Text durch den Rückgriff auf die tribale Israel-Konzeption eingespielt wird, d. h. Ganz-Israel ist ein Juda einschließendes und in Stämme gegliedertes Volk. […] Die Kenntnis dieser Konzeption ist bei den Adressaten vorausgesetzt […] und dass Juda dazugehört, muss nicht erläutert werden.« Letzteres stimmt gewiss, doch wirkt das »Konzept« der Stämme, vor allem dessen Alter und praktische Bedeutung, auch nach der Relektüre der Hoseatexte seltsam unsicher – obwohl nicht zu be­zweifeln ist, »dass JHWH wie auf Nord-Israel ebenso auf Juda bezogen ist und an Juda wie Israel gleichermaßen handelt« (287).
So geht man mit vielen wieder neu geschärften Fragen an den dritten Teil des Buches: »C. Synthesen. Das Stämmevolk Israel.« (288–373 + Ergebnisse: 12 Thesen) Auch hier bildet die Perserzeit mit »Volk, nicht Kultgemeinde« den Ausgangspunkt. Dazu gehört eine Tabelle, die nahelegt, »dass die weite Verwendungsweise […] die grundlegende ist.« (289). Im Einzelnen geht es (1.1) um eine Semantik der Mehrdeutigkeit, in 1.2 die Konzeption eines primordial codierten Ethnos, wobei (1.2.2) Israel als Zwölf-Stämme-Volk zu sehen sei, und (1.3) um einen Diskurs über die Grenzen. Ist Samaria als Teil Israels zu erkennen? Zu allem kann man mancherlei (auch anders) diskutieren (319).
Abschnitt 2 zu »Israel vor dem Ende des Nordreichs« (340–373) wird Diskussionen auslösen: Die Rezensentin würde weiterhin statt von der »Thronfolgegeschichte« lieber in Bezug auf den von W. gemeinten Erzählzusammenhang von der »Davidshausgeschichte« sprechen, ohne dass damit der Israel-Aspekt ausgeblendet wäre (s. o. zu 2.1.3.2!). Zu nordisraelitischen Texten (346) stellt sich ein Alternativen-Parallelismus: Israel als Staatsvolk oder Gottesvolk? Oder als Staatsvolk oder Stämmevolk? Dabei geht es dann auch (351 ff.) noch um außerbiblische Belege zu Aram/Israel, aber auch zur Sfire-Stele.
Teil 2.2.1–3 benennt m. E. weiter zu diskutierende Konsequenzen: »Insgesamt erweist sich die Marginalisierung der tribalen Israel-Konzeption somit als problematisch.« (355) So muss noch einmal die Josefsgeschichte, aber auch die oder eine »JE«-Schicht und ihre Konzeption im Pentateuch überdacht werden, und auch die These (Schüle) einer Imperialisierung des Nordreichs durch die Selbstbezeichnung als Jakob. Man könnte freilich auch an der Annahme einer frühen, sozusagen am Anfang stehenden »tribalen« Israel-Konzeption selbst zweifeln.
Ob und wie »der Israel-Name ab dem 7. Jh. in Juda ›Karriere gemacht‹ hat« (362), hängt davon ab, wie man seine Primärfunktion in der Zeit davor beurteilt, aber auch von anderen Vorentscheidungen, so etwa, was die Flüchtlinge aus dem Norden und ihre »Vermittlungsrolle« für eine »›Israelitisierung‹ Judas ab dem 7. Jh. v. Chr.« (363) betrifft. Zu W.s eigener Kerninterpretation von Gesamt-Israel als Stämmevolk, aber nach einem riskanten, doch nicht falschen Vergleich ( mutatis mutandis!) mit denkbaren Möglichkeiten der deutschen Geschichte im 20. Jh. n. Chr., ergibt sich (365), dass die Israel-Konzeption einer »Abstammungsgemeinschaft, die die politische Teilung in Nord- und Südreich transzendiert« als vorgegebene »Alltagsgewissheit« erkennbar ist. Daher sei, wie W. im Schlusssatz (373) formuliert, der »primordiale Code« zwar zeitweise in den Hintergrund getreten; als »Ausdruck und ›Zeugnis für das Einheitsbewußtsein des israelitischen Volkes‹ (Noth) blieb er jedoch ausweislich seiner Bedeutsamkeit in nachexilischer Zeit eine fundamentale Konstante für die kollektive Identität Israels«.
Auch wer meint oder nicht ausschließt, dass es sich beim Zwölf-Stämme-Israel auch um eine systematisierende Rückprojektion handeln könnte, wird durch These 10 der zusammenfassenden Zwölf Thesen zur Verwendung des Israel-Namens im Alten Testament nicht irritiert, das Zwölf-Stämme-System sei »nicht aus den Gegebenheiten der Perserzeit erklärbar«. Und wer die in These 11 sozusagen der Forschungstradition konzedierte Annahme einer exklusiven Bezeichnung »Israel« im Juda des 5. Jh.s als durch den Bau des JHWH-Tempels auf dem Garizim ausgelöste »Minderheitenposi-tion für durch die Texte nicht gedeckt« hält, kann sich dafür auf W.s eigenen Hinweis der »kulturellen Kontinuität zwischen Juda und Samaria« berufen. So ist man mit diesem Buch kompetent und auf dem Stand gegenwärtiger Forschung in eine außerordentlich komplexe Thematik von zentraler Wichtigkeit für die alttestamentliche Exegese eingeführt worden.