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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1019–1021

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Eskola, Timo

Titel/Untertitel:

Theodicy and Predestination in Pauline Soteriology.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1998. 353 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 100. Kart. DM 128,-. ISBN 3-16-146894-5.

Rezensent:

Günter Röhser

Der Vf. hat sich viel vorgenommen. Er will nichts Geringeres bieten als einen neuen Zugang zur Soteriologie des Paulus als dem Zentrum von dessen Theologie. Den Schlüssel dazu liefert ihm die Prädestinationstheologie, die er schon in der Literatur des Zweiten Tempels als eine Antwort auf die Theodizeefrage begreift. Gleich zu Beginn macht er deutlich, daß er erstens zu den Kritikern der "new perspective on Paul" im Gefolge von E.P. Sanders’ Bundesnomismus-Theorie zählt (VII, 18 ff.) und daß er zweitens mit einem weiten Begriff von "Prädestination" arbeitet, der die herkömmliche Unterscheidung von "vorherbestimmendem" und "richtendem" Handeln Gottes hinter sich läßt: "Predestinarian theology treats above all the question of how God sentences sinners to damnation or how he elects the righteous to salvation" (6).

Methodisch sachgemäß will E. Paulus nur vor dem Hintergrund der "Second Temple Jewish theology" verstehen (25 f.). Kap. 1 ("God’s Chosen People in Crisis") bietet deshalb einen Durchgang durch weisheitliche, apokalyptische und qumranische Konzepte einer Antwort auf die beiden Grundprobleme der Epoche: das Überhandnehmen der Sünde in Israel und die Herrschaft gottloser, teilweise fremder Machthaber über das Land. Durch beides ist Gottes Güte, Treue und Heilswille grundlegend in Frage gestellt.

Antwortversuche sind: ein soteriologischer Dualismus von Sündern und Gerechten mit ihrem jeweiligen eschatologischen Schicksal (Gericht und Heil), eine starke Betonung des Gerichtsgedankens ("Tag des Zorns") in der Apokalyptik und zusätzlich der Umkehrforderung sowie der Möglichkeit von "Sühne durch Gehorsam" in Qumran; zugrunde liegt überall ein "synergistischer Nomismus", welcher dem Toragehorsam des Menschen eine konstitutive Rolle bei seiner Errettung beimißt, da sein eschatologisches Ergehen auf der Grundlage seines Handelns von Gott "prädeterminiert" wird.

Kap. 2 und 3 übertragen nun diese Fragestellung auf die Theologie des Paulus. In Röm 3,3 ff. erkennt E. eine Antwort auf die Theodizeefrage angesichts der "Untreue" und Ungerech-tigkeit der Juden: Gott ist für die Sünde nicht verantwortlich, vielmehr ist er deren gerechter Richter. In Röm 1,16 f. gibt Paulus folgende Antwort auf die Frage nach Gottes rettendem Eingreifen: Gott hat Gericht und Heil aufgeschoben, weil er letzteres in Christus anbieten wollte - als Gerechtigkeit aus Glauben. Dementsprechend tritt an die Stelle des traditionellen Gehorsams der Glaube bzw. der Gehorsam des Glaubens. So erklärt sich auch die Veränderung des LXX-Zitats von Hab 2,4 in Röm 1,17. Horizont des Ganzen bleibt wie im zeitgenössischen Judentum der Tag des "Zornes Gottes" (Röm 1,18). Sehr zu Recht stellt E. heraus: "In Paul’s theology, judgment is a premise without which soteriology cannot be formulated" (116). Schon jetzt steht die Welt unter dem Gericht Gottes und bedarf der Offenbarung seiner rettenden Gerechtigkeit in Christus. Allen, die diese Gerechtigkeit nicht ergreifen, ist die endgültige Verurteilung durch Gott "vorherbestimmt".

Ausgangspunkt der neuen Soteriologie des Paulus ist eine radikale Anthropologie, welche die ganze Menschheit unter der Herrschaft der (personifizierten) Sünde und damit "prädestiniert zum Tode" sieht. An die Stelle des Dualismus von Sündern und Gerechten im Judentum tritt deshalb "another kind of polarization" (125), nämlich zwischen zum Tode Bestimmten und aus Gnade Gerechtfertigten. E. nennt dies eine "paradoxical polarization" (137), da jetzt auch die "Gerechten" des erwählten Gottesvolkes unter die gerichtsverfallenen Sünder gezählt werden und der Gnade in Christus bedürfen. Die allgemeine Sündenverhaftung ist Teil des göttlichen Heilsplans (vgl. 303: "divine coercion"), wie er besonders in den Prädestinationsaussagen Röm 11,32 und Gal 3,22 zum Ausdruck kommt (144 ff.). Auch für Röm 9-11 insgesamt als "the climax of Paul’s soteriology" (157) findet E. seine an Gericht und Glaubensgerechtigkeit orientierte Interpretation bestätigt. Die Verstockung Israels wird nicht deterministisch verstanden, "but is rather a description of Israel’s sin and stumbling" (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser radikalen Anthropologie ändert sich auch die traditionelle Rolle des Gesetzes: Seine paradoxe Funktion besteht nunmehr darin, daß es - obwohl seinem Wesen nach gut und als Weg zum Leben gegeben - ausschließlich die Sünde aller Menschen aufdeckt und die Sünder dem Tode zuspricht. "In this world of sin law is given a judicial function" (200). Deswegen ist es jetzt auch sinnlos und verfehlt, zur Erlangung des Heils den Weg des traditionellen Toragehorsams (Avodat Israel, Werke des Gesetzes) zu gehen. "Outside Christ even positive obedience to the law turns into self-righteousness" (244).

In Kap. 4 ("Paul’s Universalist Soteriology") sucht der Vf. zu zeigen, daß die eigentliche Ursache für jene neue paulinische Antwort auf die Theodizeefrage und die damit verbundene radikalisierte Prädestinationstheologie in der Christologie zu suchen ist. Daß der Sohn Gottes am Kreuz den Sühnetod gestorben war, zeigte für Paulus einerseits das ganze Ausmaß der menschlichen Verlorenheit an, wie es andererseits die entscheidende und einzige Heilsmöglichkeit bot und auch einen Beweis für Gottes Treue darstellte. Daher gilt ebenso: "Christ is the solution to the problem of theodicy. This results in a concept of ’strong’ predestination according to which no man on earth can be saved without the Son of God" (273). Anders als in der "solution before plight"-These der Bundesnomismus-Theorie stellt diese Lösung keine bloße nachträgliche Konstruktion des Paulus von der Christologie her dar, sondern eine neue Antwort auf eine alte Frage (nach dem "principle of contemporary application", der Anwendung von Tradition in einer neuen Situation). "Paul’s theology is not a mere deduction, but a radical re-interpretation of his own Jewish tradition" (285). Von daher sucht E. sowohl die Position von Sanders als auch - unter Aufgreifen, jedoch ohne Lösung der hermeneutischen Frage (277-282, vgl. 287-292) - H. Räisänens These von der Inkohärenz der paulinischen Theologie zu überwinden und liefert dabei wichtige Beobachtungen und Argumente zur kritischen Auseinandersetzung. Eine gute Zusammenfassung, Literaturverzeichnis, Stellen-, Autoren- und Sachregister beschließen das Buch.

Eine kritische Würdigung wird zunächst herausstellen, daß E. mit der Theodizee-Problematik zweifellos ein entscheidendes Movens frühjüdischer Theologie erkannt und zutreffend dargestellt hat. Kommt diese Fragestellung jedoch zumindest bei Paulus nicht sehr schnell an ihre Grenzen? Betrifft sie nicht wesentlich das zukünftige Schicksal Israels, nicht aber in gleichem Maße (vgl. Röm 1,16) dasjenige der Heiden überhaupt? Bereits im "Second Temple Judaism" gehört die Endgerichtserwartung zu den Grundelementen der Eschatologie und bedarf wohl nicht in jedem Falle der Anschärfung durch die Theodizeefrage.

Die neuartige Verwendung des Prädestinationsbegriffs ist überdies recht gewöhnungsbedürftig und erleichtert nicht gerade die Lektüre und das Verständnis. Vor allem scheint sie mir sachlich nicht notwendig und nicht gerechtfertigt, da der Vf. das berechtigte theologische Anliegen genauso gut mit anderen und herkömmlichen Begriffen zum Ausdruck zu bringen vermag ("coercion", Gericht, Strafe usw.). Prädestination meinte bisher "Gottes freie Verfügung über Heilsteilhabe oder Heilsverschlossenheit des Menschen" (so zuletzt R. Bergmeier, TRE 27 [1997] 102) - und dabei sollte es auch bleiben. Hinzu kommt, daß E. Vorherbestimmung im herkömmlichen Sinne immer noch nur als im Gegensatz zur menschlichen Verantwortlichkeit stehend zu sehen vermag (183 f.); in dieser Hinsicht hat er sich mit meiner eigenen Studie zum Thema (Prädestination und Verstockung, TANZ 14, 1994) leider gar nicht auseinandergesetzt. Ob sich seine völlige Bestreitung jeglicher wirklicher Vorherbestimmungsaussagen sowohl in Qumran (83 ff., 181 f.) als auch in Röm 9-11 (152-160) durchsetzen wird, wage ich zu bezweifeln.

Den jüdisch-apokalyptischen Gerichtsgedanken als Hintergrund der paulinischen Heilsbotschaft herausgearbeitet zu haben, halte ich für das eigentliche Verdienst der Arbeit. Natürlich ist es ebenso richtig, daß nach jüdischem Verständnis der menschliche Gehorsam ausschlaggebend für das Bestehenkönnen im Gericht ist. Aber dies heißt doch noch lange nicht, dass dem Handeln des Menschen (Tun des Gesetzes) soteriologische Bedeutung zukommt (vgl. z. B. 51, 296). Gefragt wird im Gericht danach, ob der Mensch der ihm in der Erwählung eröffneten Lebensmöglichkeit gerecht geworden ist, und nicht, ob er einen Beitrag zu seiner "Errettung" (eschatological salvation, z. B. 55, 78, 236) geleistet hat. Die Schwierigkeiten liegen m.E. darin begründet, daß E. nicht klar genug zwischen initialer Heilstat Gottes (in seiner gnadenhaften Erwählung) und endgültiger (eschatologischer) Errettung unterscheidet und insofern dem Endgeschehen "soteriologischen" Charakter ("salvation") im engeren Sinne zuerkennt (vgl. 236). Doch wird dies dem eigenen Verständnis des Frühjudentums nicht gerecht - hier hat der so viel gescholtene E. P. Sanders klarer gesehen.

Fazit: Es liegt ein wichtiger, trotz ermüdender Wiederholungen (auch in Fußnoten) lesenswerter Forschungsbeitrag vor, der jedoch die Anhänger einer "new perspective on Paul" nicht überzeugen wird. Die Diskussion muß und wird weitergehen.