Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1017–1019

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Carter, Warren, and John Paul Heil

Titel/Untertitel:

Matthew’s Parables. Audience-Oriented Perspectives.

Verlag:

Washington: The Catholic Biblical Association of America 1998. IX, 255 S. gr.8 = The Catholic Biblical Quarterly Monograph Series, 30. Kart. $ 10.-. ISBN 0-915170-29-9.

Rezensent:

Jirí Mrázek

Das einführende, theoretische Kapitel (1-21) ebenso wie die abschließende Zusammenfassung (210-214) hat Carter geschrieben. Er grenzt sich darin von den bislang vorherrschenden Tendenzen in der Auslegung der Gleichnisse ab: der Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlauts, der Rekonstruktion des ursprünglichen "Sitzes im Leben", der Wirkung des Gleichnisses als Metapher. Gemeinsamer Wesenszug dieser Vorgehensweisen ist, daß sie nicht den heutigen Kontext des Gleichnisses im Rahmen des Evangeliums respektieren. Carter proklamiert dagegen "reading the parables within Matthew’s gospel" (1), genauer "within the plot of Matthew’s gospel" (ebd.). Mit der Betonung auf "plot", auf die Endgestalt des Textes und seine kontextuelle Ganzheitlichkeit, bekennt er sich zu der narrativen Kritik Kingsburys (und über ihn zu Chatman), ergänzt und korrigiert ihn aber wohldurchdacht um Herangehensweisen, die sich an der Interaktion des Lesers (Hörers) mit dem Text orientieren. Dabei nutzt er Iser, vor allem aber auch Rabinowitz. Die Gleichnisse innerhalb des "plot" will er mit den Augen des ersten Zuhörers lesen. Zu Wort kommt so eine zweifache Interaktion: des Textes mit dem Leser sowie des Textes (der jeweiligen Gleichnisse) mit dem Kontext, wobei der Leser (Hörer) seine Rolle auch insofern spielt, als daß es wiederum er es ist, der die Interaktion zwischen dem Text und dem Kontext entdecken und begreifen muß.

Audience-oriented approach, das die beiden Autoren in ihrem Buchtitel anführen, unterscheidet sich nach Carter von Kings-burys (und Chatmans) Konzept des implied reader vor allem durch zwei Aspekte: (a) der Terminus audience soll die Vorstellung eines individuellen, auf seinen Text fixierten Leser eliminieren. Diese Vorstellung ist für die ersten Adressaten des Matthäusevangeliums anachronistisch und abwegig. (b) implied reader verweist darauf, welche Vorstellung von seinem Leser der Autor dem Text eingegeben hat; C. und H. wollen dagegen auch aus außertextueller Evidenz, aus soziokulturellen Erkenntnissen über die Zeit des Matthäus und den Gesichtskreis seiner Zuhörer schöpfen.

Im zweiten bis achten Kapitel, abwechselnd von C. bzw. H. geschrieben, werden die einzelnen Gleichnisse dann strikt in der Reihenfolge der Lektüre des Matthäusevangeliums ausgelegt. Eine wichtige Rolle spielt dabei zum einen narrative progression - die Entwicklung des Geschehens aus der Sicht des Lesers, zum anderen pragmatics - das, was sich der erste Zuhörer hat aus dem Text in seine eigene Situation als Impuls, Ermunterung oder Warnung mitnehmen können.

Erfrischend ist, daß die beiden Autoren nicht Schritt für Schritt gemeinsam arbeiten, sondern indem sie die Texte untereinander aufteilten. Das Ergebnis ist weniger uniform (z. B. im Falle Mt 13 handelt es sich fast um zwei alternative Auslegungen), dafür um so wertvoller und spannender: Wir haben die Möglichkeit, eine Vorgehensweise, eine Methode in der Darstellung zweier ausgeprägter Persönlichkeiten, die sich gegenseitig respektieren, zu verfolgen. - Schade ist, daß die beiden Autoren bei der Wichtigkeit, die sie der narrative progression beimessen, den plot des Matthäusevangeliums als Ganzes nicht übersichtlicher bearbeitet haben. C. beschränkt sich darauf, auf eine andere seiner Arbeiten zu verweisen - während die Gleichnisse so detailliert nacherzählt werden, daß sich der Leser nicht einmal bemühen muß, die Bibel zu öffnen, ist er, was den Entwurf des Matthäusevangeliums als Ganzes betrifft, auf die Lektüre eines anderen Buches angewiesen. Dabei ist gerade die Gliederung des Matthäustextes bei beiden Autoren an vielen Stellen inspirierend. So grenzt H. z. B. den community discourse Mt 18 von 17,22 bis 18,35 ab und gliedert nach den Vergleichen und Gleichnissen, die darin vorkommen, in sieben Teile (17,22-23; 24-25; 18,1-5; 6-9; 10-14; 15-20; 21-35), so daß jeweils nach einem solchen Vergleich die Rede um einen Schritt vorangeht. Auch für Mt 13 bietet C. eine nicht völlig geläufige Gliederung an, und zwar auf der Grundlage expliziter Adressaten, an die sich Jesus wendet (die Menge/die Jünger/die Menge ...).

C. und H. legen somit am Ende des Jahrhunderts ein weiteres Buch über die Gleichnisse vor. Dabei ist die Verschiebung, welche sich in der Auslegung der Gleichnisse in den zurückliegenden Jahrzehnten vollzogen hat, charakteristisch: Während zu Beginn unseres Jahrhunderts der Haupttrend darin bestand, die Gleichnisse von dem geltenden Kontext zu befreien (und sie dem authentischen Jesus oder dem "Leben der Urgemeinde" zurückzugeben), mehren sich nun wieder die am Kontext orientierten Auslegungen. Während es zu Beginn des Jahrhunderts erforderlich schien, sie als selbständige narrative Einheit herauszuschälen, stellt sich nun die Frage, wie solch ein Erzählen innerhalb des Erzählens funktioniert und wie deren gegenseitiges Spiel das Verständnis des Lesers für das Ganze beeinflußt.

Das Banner in diesem Sinne hat Lambrecht1 aufgenommen, beschränkt sich bei der systematischen Auslegung aber auf die Gleichnisse des Matthäusevangeliums. Neu ist das Kriterium: Es handelt sich um eine Erforschung des Matthäusmaterials. Die Methode aber ist noch nicht entsprechend. Lambrecht widmet sich der Textentwicklung von der Urgemeinde über Q bis hin zu Matthäus und Lukas, während er die Entwicklung des Erzählens bei Matthäus, wo gerade die Gleichnisse die Handlung vorantreiben, im Grunde ignoriert. Wesentlich weiter ist Jones2 gegangen, aber sein Bemühen um ein komplexes Herangehen führt oft zu Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit. Ein Buch, das geglückt und übersichtlich an die narrativen Herangehensweisen anknüpft, legen daher erst C. und H. vor.

Ähnlich verhält es sich mit der Auslegung der Pointe: Seit den Zeiten Jülichers bis tief in unser Jahrhundert hinein war es fast ungehörig, in einem Gleichnis mehr als nur eine Pointe zu sehen, die kurz und bündig formulierbar ist. Erst eine neuere Umbewertung der Metapher (und des Gleichnisses als Metapher;
P. Ricur; H. Weder3) veränderte diese dominate Herangehensweise. Aber erst das Ende des Jahrhunderts brachte die Rückkehr zum traditionellen Verständnis, wonach z. B. von der Suche des verlorenen Schafes gesagt werden kann, der suchende Hirte sei 1. Gott, 2. Jesus, 3. die Jünger (110).

Charakteristisch ist drittens auch die Verschiebung bezüglich der Auswahl dessen, was wir als Gleichnisse auslegen werden. Während früher exakte Definitionen und exakte Kriterien überwogen, die an Gleichnisse "von außen" gestellt wurden, fragen sich C. und H. geduldig, was Matthäus selbst als parabol versteht (mag es auch nicht klassischen Kategorien entsprechen und sogar um den Preis, daß Matthäus in dieser Frage nicht konsequent sein muß).

Insgesamt beschließen C. und H. den Weg der Exegese im zwanzigsten Jahrhundert vom Zweikampf mit einem unverständigen Redakteur bis zum vollen Respekt für den Autor und sein ursprüngliches Publikum. Bezüglich ihrer Methode (und Terminologie) sei wohl die Frage erlaubt, inwieweit sich audience in der Ausführung tatsächlich vom implied reader im Sinne Chatmans unterscheidet. Konsequent gehen sie von zusammenhängendem Lesen von der ersten bis zur letzten Seite des Evangeliums aus. Das gerade ist es ganz sicher, was Matthäus von seinen Lesern erwartete (= implied reader). Es ist die Frage, ob jemals eine zahlreichere audience "aus Fleisch und Blut" diese Voraussetzung erfüllt haben mag oder ob von Beginn an das Matthäusevangelium als Basis für das Herausreißen einzelner Passagen zu liturgischen Zwecken oder zur Argumentation gedient hat. Auch bezüglich der Interessenerweiterung um den soziokulturellen Hintergrund der audience läßt sich einwenden, daß sie eher theoretisch geblieben ist und die praktische Seite konkreter Auslegungen sich überwiegend auf alttestamentarische Assoziationen, welche die Leser haben konnten, beschränkt. Aber auch diese Details können das Lektüreerlebnis nicht schmälern.

Fussnoten:

1) Lambrecht, J.: Out of the Tresure. The Parable in Gospel of Matthew. Leuven: Peeters 1992.

2) Jones, Ivor H.: The Matthean Parables. A Literary and Historical Commentary. Novum Testamentum Supplements, 80. Leiden: Brill 1995.

3) Weder, H.: Die Gleichnisse Jesu als Metapher, Göttingen, 21980.