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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1041–1043

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gösken, Urs

Titel/Untertitel:

Kritik der westlichen Philosophie in Iran. Zum geistesgeschichtlichen Selbstverständnis von Muhammad Hu­sayn Tabataba‘i und Murtaza Mutahhari.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. VIII, 485 S. = Welten des Islams – World of Islam – Mondes de l’Islam, 6. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-037515-2.

Rezensent:

Reza Hajatpour

Insbesondere die Geschichte des philosophischen Denkens in Iran verweist die im Abendland oft gehörte These, Intellektualität und Wissen seien im Islam seit dem 14. Jh. erstarrt und hätten sich nicht mehr weiter entwickelt, in das Reich der Legende. Urs Gösken führt uns mit seiner Dissertation in Aspekte und Themen ein, zu denen es oft überraschende philosophische Dispute gegeben hat und immer noch gibt. Doch dabei behandelt G. einen noch wichtigeren Aspekt: Seine Dissertation ist darauf ausgelegt, die Tendenzen der Westwahrnehmung bei iranischen Intellektuellen aufzuspüren. Es geht um die Auseinandersetzungen mit dem Westen, die im Iran ein eigenes schiitisches Bild vom Westen geprägt haben.
G. geht in seiner Arbeit der Ursache für dieses spezifische Bild des Westens nach. Als Beispiel nimmt er die philosophischen Werke zwei religiöser Gelehrter, deren Anschauung und Interpretation der westlichen Gedankenwelt für das religiöse Milieu enorme Wirkung hinterlassen haben. Es handelt sich um Muhammad Husayn Tabataba‘i und Murtaza Mutahhari, zwei angesehene religiöse Gelehrte, die zu den bekanntesten islamischen Philosophen des 20. Jh.s gezählt werden: Sie repräsentierten den religiös-intellektuellen Zeitgeist versus den westlichen Zeitgeist. Mutahhari war sogar jener Denker, der auch im Umfeld von Revolutionsführer Ayatollah Khomeini den Weg zu einem islamischen Gottesstaat mit eb-nete (6). Darüber hinaus will G. mit Tabataba‘i (1903–1981) und Murtaza Mutahhari (1920–1979) keineswegs zwei Stellvertreter (2), sondern zwei Vertreter der iranischen Geistesgeschichte des 20. Jh.s thematisieren, die auch für die Entstehung neuer islamischer Philosophiegeschichte verantwortlich sind.
Die Auseinandersetzung mit dem Westen gehörte zur unverzichtbaren geistigen Suche nach eigener Identität iranischer Intellektueller. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jh.s wurde die Frage nach einer islamischen Identität noch häufiger gestellt. Doch wie gestaltet man eine moderne Gesellschaft, die unter einer islamischen Ordnung fungiert? Anders als in den Debatten im 19. Jh., in denen man die westliche Moderne als alternativloses Modell für den Fortschritt thematisierte, waren die Debatten der 50er und 60er Jahre von Ideen der Abwehr gekennzeichnet. Nun verherrlichte man die islamische Religion als einzige Alternative für den geis-tigen Fortschritt einer islamischen Gesellschaft. Tabataba‘i und Mutahhari äußerten sich kritisch gegenüber dem westlichen Denken, obwohl Tabataba‘i anders als sein Schüler Mutahhari zu jenen Gelehrten gehörte, die sich von der Politik fernhielten. Nach der Revolution ließ Tabataba‘i sich kaum in der Öffentlichkeit sehen. Er pflegte vornehmlich den Dialog mit den westlichen Denkern. Seine Diskussionen mit Henry Corbin, dem berühmten franzö-sischen Orientalisten, sind sehr bekannt.
In beiden Figuren sieht G. ein zentrales Beispiel für den islamischen Intellektuellen. Jedoch kann die Verwendung des Begriffes »Intellektuelle« aus der Sicht der westlichen Moderne heraus durchaus missverständlich sein – eine Tatsache, die G. natürlich be­wusst ist. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, erklärt G. im Vorfeld, was er konkret unter dem Begriff versteht (17). Ausführlich widmet er sich dem Leben, dem Werk und dem geistigen Werdegang Tabataba‘is, des Hauptprotagonisten seiner Dissertation. Dabei gewinnen wir interessante Einblicke und tiefe Erkenntnisse in die geistige Entwicklung eines Gelehrten, der versucht, als ein authentischer Vertreter seiner Zeit, seiner Religion und nicht zuletzt als wahrer Philosoph in seinem islamischen Umfeld zu fungieren (37 ff.). Die geistigen Merkmale eines wahren Philosophen im Islam – und damit geht auch die methodische Herangehensweise von Tabataba‘is »intellektuellem« Diskurs einher – sind durch drei Wege gekennzeichnet, wodurch Tabataba‘is geistige Infrastrukturen hervorgehoben werden: Offenbarung, Ratio und Mystik. Mit diesen drei Wegen demonstriert G. Tabataba‘is Sicht des »Begreifens des Wissensgehaltes des Islam« (44–82). In diesen drei Wegen spiegeln sich auch die drei geistigen Strömungen wider: die islamische, die griechische und die mystische Auslegung der islamischen Religion. Diese drei Wege führen zu einem vierten Weg, nämlich zu der »Lehre der Eigentlichkeit der Existenz«, die von dem iranisch-schiitischen Philosophen Mulla Sadra im 16. Jh. zu einem Gedankensystem entwickelt wurde (133 ff.) und seitdem den philosophischen Diskurs in Iran bestimmt.
G. geht auf die Lehre der »Eigentlichkeit der Existenz« ein und zeigt ihre Besonderheiten bei Mulla Sadra und schließlich, wie diese Lehre dann von Tabataba‘i für sein philosophisches Konzept gegen den »westlichen Materialismus« angewendet wurde (139 ff.).
Sowohl Tabataba’i als auch seine im vorliegenden Werk behandelten Schüler sind wie gewohnt der traditionellen Philosophie im Islam verpflichtet und bringen zahlreiche Werke hervor, in denen sie sich mit voller Kraft gegen den Positivismus und Empirismus und nicht zuletzt gegen die Weltdeutungen der materialistisch-marxistischen Dialektik, die sie zu den Sophisten ihrer Zeit zählten, einsetzten. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht jedoch das fünfbändige Werk »Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus« ( usul-i falsafah wa rawish-i rialism), das ein Produkt der Begegnung mit einem religiös-intellektuellen Kreis war, welches eigentlich den Zweck erfüllen sollte, eine philosophische Grundlage anzubieten, um die islamische Philosophie mit den beiden westlichen philosophischen Richtungen, dem Marxismus und dem Liberalismus, zu vergleichen.
Die Kenntnisse westlicher Philosophie, auf deren Grundlage Tabataba‘i und Mutahhari ihre Werke schrieben, entstammen hauptsächlich der marginalen Darstellung weniger Werke in persischer Sprache, ohne die Vergleichsmöglichkeit in der Originalsprache. Dadurch gelingt es ihnen, der religiös-philosophischen Lehre der Schia den Charakter einer ideologischen Weltanschauung zu verleihen, als eine Art aktive intellektuelle Agenda, die sich auf die neuen geistigen Strömungen und Herausforderungen einzustellen vermochte.
Ein integrales Kapitel der vorliegenden Untersuchung stellt die Auseinandersetzung mit der Philosophie dar. Es geht hierbei um eine Begriffsbestimmung, nämlich wie der Meister und Schüler ihre islamische Gesinnung gegenüber einer angeblich »abendländischen Philosophie« positionieren (189–205). Die islamische Philosophie ist nach Tabataba‘i und Mutahhari eine Philosophie des Realismus, was dasselbe sei wie Dogmatismus (202), da sie sich vom Relativismus und Idealismus und allen ihren Zweigen abgrenzt und sich als ein Gedankensystem der Philosophie Wirklichkeit darstellt. Das ist der vierte Weg, dem sich beide Gelehrte verpflichtet fühlen und nur darin den wahren Weg sehen. In diesem Sinne analysieren, kommentieren und beurteilen Tabataba‘i und Mutahhari die philosophische Lehre des Abendlandes (250). Anders formuliert: Im Zeichen dieses vierten Weges werden pauschal der Westen und seine Weltanschauung betrachtet und beurteilt!
Letztlich hat die westliche Philosophie, wie sie von Tabataba‘i und Mutahhari verstanden wird, einen Kulturkampf und einen apologetischen Zweck herausgefordert, dem beide Gelehrte und ihre gleichgesinnten Anhänger verhaftet waren. Das fünfbändige Werk »Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus« diente seitdem als apologetisches Manifest gegen die atheis­tischen, materialistischen und positivistischen Vorstellungen des modernen Westens.
Das Buch von G. ist zwar nicht flüssig geschrieben und für eine allgemeine Leserschaft auch nicht leicht verständlich. Es ist jedoch ein wichtiger Beitrag zur Erklärung der islamischen Positionierung im Lichte der Vorherrschaft der westlichen Gedankenwelt der Moderne. Ebenso zeigt das Buch die Art und Weise des »inneriranischen intellektuellen Westdiskurses« (472) im religiösen Kreis auf, der keine dialogische Funktion hat, aber weniger jedoch die philosophische Tiefe des Diskurses.