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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

1004–1005

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Jakob, Joachim

Titel/Untertitel:

Ostsyrische Christen und Kurden im Osmanischen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. 240 S. = orientalia – patristica – oecumenica, 7. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-50616-0.

Rezensent:

Claudia Rammelt

Ob innerhalb der gesellschaftlichen Diskussion oder im akademischen Diskurs, die christliche Vielfalt des Nahen Ostens steht weniger im Mittelpunkt des Interesses. Im Kontext der derzeitigen Flüchtlingsbewegung ist gelegentlich die Rede von Christen in den Flüchtlingsunterkünften und ihren besonderen Sorgen. Dass es da speziell ostsyrische Christen unter ihnen geben könnte, ist ein Differenzierungskriterium jenseits des durchschnittlichen Bewusstseins. Die ostsyrischen Christen, die wohl größte Missionskirche des Mittelalters, deren Mitglieder selbst in China anzutreffen wa­ren, hatten sich schließlich aufgrund der historischen Ereignisfolge ins Bergland »Kurdistans« zurückgezogen und überdauerten in der Grenzregion zwischen Osmanischem Reich und Persien die Jahrhunderte mit ihren Glaubensvorstellungen und Ritualen.
Die Situation dieser Kirche im 19. und frühen 20. Jh. als Vorgeschichte der dramatischen Ereignisse des Genozids an Armeniern, Syrern und eben auch den Mitgliedern der Kirche des Ostens aufzuarbeiten (11), ist eine dringend gebotene und sehr lohnenswerte Aufgabe, die sich das aus einer Masterarbeit erwachsene Buch von Joachim Jakob zur Aufgabe gemacht hat. Als Grundlage für die Aufarbeitung der Wahrnehmung und die Beschreibung der Entwicklungen in diesem Zeitraum dienen J. Quellen von englischen Missionaren, die sich im Kontext der assyrischen Mission des Erzbischofs von Canterbury auf den Weg in den Osten gemacht hatten (18–22). Das Quellenmaterial lässt J. den Fokus dahingehend präzisieren, dass er der Frage nachgehen möchte, »wie die Missionare das Verhältnis zwischen den ostsyrischen Christen und den Muslimen in Kurdistan wahrnahmen und es für die Rezipienten ihrer Berichte in England beschrieben« (18). Diese Situation steht im großen Kontext der osmanischen Minderheitenpolitik und ist auch nur von dorther zu verstehen (11).
Die intensive Beschäftigung mit der Stellung der nichtmuslimischen Minderheiten im Osmanischen Reich eröffnet daher das Buch (25–87). Stichworte wie millet-System (33–59), genauso wie der Zerfall der traditionellen Ordnungen im 19. Jh. (59–77) und das brisante Thema der Konversion zum Islam (77–87) werden in einer dichten, die gegenwärtigen Forschungsmeinungen diskutierenden Weise ausgeführt. Den überaus komplexen historischen Entwicklungen der Kirche des Ostens im Spannungsfeld von ausländischen Einflüssen, kurdischen Interessen und der Politik des osmanischen Reichs geht J. auf den folgenden gut 60 Seiten nach (88–151). Auf diesen Seiten sind freilich auch Ausführungen über die »Assyrische Mission« des Erzbischofs von Canterbury zu lesen (143–151). Das dritte große Kapitel lenkt den Fokus nunmehr auf die Darstellung des Verhältnisses von Christen und Muslimen/Kurden aus der Perspektive der britischen Missionare. Hierfür werden zu­nächst die Darstellungen von Edward L. Cutt, Arthur John Maclean und William Henry Brown sowie Francis Nicholson Heazell und Jessie Margoliouth als das grundlegende Quellenmaterial vorgestellt (152–160), um dann nach ihrer Bewertung des Zustands der Kirche des Ostens zu fragen (160–164) und vor allem nach dem Verhältnis von Muslimen/Kurden und Christen (164–196). Es sind vor allem die kurdischen Übergriffe, die die Situation in dieser Zeit dominieren, doch genauso ist über positive Aspekte des alltäglichen Lebens zu lesen. Dies wird vor einem Resümee (217–223) noch mit den Verhältnissen jener ostsyrischen Christen in Persien (196–216) verglichen.
Der Leser wird mit der Darstellung historischer Ereignisse im Zusammenhang der osmanischen Minderheitenpolitik und der protestantischen Mission belohnt, denn diese sind grundlegend und in ihrer Komplexität, ja bisweilen ihrer Verworrenheit mithilfe der bisher erarbeiteten Forschungsergebnisse dargestellt. Diese Darstellung hilft, die gegenwärtigen Player in den Wirren um Nahost zu verstehen. Historisch-kritisch, nicht diskursanalytisch frivol fühlt sich J. dieser Aufarbeitung verpflichtet. Aus dem zugrunde gelegten Quellenmaterial arbeitet er wesentliche Aspekte zu dem Verhältnis von Christen und Kurden/Muslimen heraus, bei dem die mehrfach angekündigte Auseinandersetzung mit der Brille der Missionare für ihre Leserschaft in England schließlich nicht dominiert.
Dem Buch können und müssen nicht nur weitere historische Mikrostudien folgen. Gerade auch die Frage nach dem religiösen Hintergrund der englischen Missionare und dessen Auswirkungen auf die Arbeit vor Ort zu stellen, ist sicher genauso spannend, wie die Quellen auf die Interaktionen zwischen Ostsyrern und Missionaren hin zu befragen. Diese und weitere Fragen sind mit dem Buch grundgelegt und angeregt worden.