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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

998–1002

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rothgangel, Martin, Jackson, Robert, and Martin Jäggle [Eds.]

Titel/Untertitel:

Religious Education at Schools in Europe. Part 2: Western Europe.

Verlag:

Göttingen: Vienna University Press bei V & R unipress 2014. 319 S. = Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft, 10.2. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-8471-0268-7.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Bei diesem Band handelt es sich um den zweiten Teil des von den theologischen Fakultäten der Universität Wien angestoßenen Verbundprojekts »Religious Education at Schools in Europe« (REL-EDU). Ziel des Unternehmens ist es nicht nur, die sich gegenwärtig rasant verändernde Situation der »religious education« in europäischen Schulen zu dokumentieren. Es geht auch darum, Konzepte für deren Zukunft unter Einbeziehung supranationaler Organisationen wie etwa der OSZE zu entwickeln. Um eine gewisse Vergleichbarkeit der einzelnen Länder zu erreichen wurden auf zwei Wiener Konferenzen 13 Schlüsselfragen (»key issues«) entwickelt, die den Länderdarstellungen zugrunde liegen.
Es handelt es sich um folgende Parameter: 1. The socio-religious background of the country, 2. Legal framework for religious education and the relationship between religious communities and the state, 3. Developments in the country’s education policy, 4. Role of religious sponsored schools, including any changes and developments, legal relationships, 5. Conceptions and tasks of religious education, 6. Practice/reality of religious education in different schools, 7. Observations on alternative subjects/learning areas like ethics, philosophy etc., 8. Dealing with religious diversity, 9. Religion in school outside of religious education, 10. Training of teachers of religious education: institutes, structures, priorities issues, 11. Empirical research concerning religious education, 12. Desiderata/challenges for religious education in a European context, and 13. Further information (Jackson, 10–13)
Bereits mit der Bezeichnung »religious education« werde in den neun Ländern bzw. Territorien (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Republik Irland, Nordirland, England, Wales und Schottland) Unterschiedliches verbunden. Der Kontext, aber auch die verschiedenen, gemeinhin unter den Schlagwörtern Säkularisierung, Pluralisierung und Globalisierung verhandelten Veränderungsprozesse machen auf die Bedeutung von individualisierten Formen von Religion aufmerksam. Zudem habe jedes einzelne Land seine eigene geschichtliche Entwicklung – wie etwa das versäulte System ( pillarized) in den Niederlanden oder das laizistische System in Frankreich; bisweilen herrsche – wie in Belgien oder Luxemburg – eine offizielle Mehrsprachigkeit. In England, Wales und Schottland gehöre die Pluralität der Religion zum kulturellen Selbstverständnis hinzu. Zwar gebe es überall konservative Tendenzen, liberale Zu­gänge aber ständen im Vordergrund (Jackson, 15–18).
Im Einzelnen wird auf der supranationalen Ebene Europas zwischen europäischen Institutionen – wie dem Europarat (Council of Europe), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) –, der Professionalisierung von »religious education« betreibenden Organisationen – wie dem European Forum for Teachers of religious education (EFTRE), der Co-ordinating Group for Religion in Education in Europe (CoGREE) oder dem European Wergeland Centre (EWWC) – sowie der Erforschung von »religious education« in gemeinsamen Netzwerkorganisationen unterschieden (Jackson, 19–41).
Die Situation in Belgien scheint hoch komplex, so dass sich die Autoren auf die Darstellung einzelner Religionen beschränken. Zwar lässt sich Belgien als ein ursprünglich katholisch geprägtes Land begreifen, aktuell allerdings sei der islamische Unterricht in Ballungszentren wie Brüssel auf dem Vormarsch (bereits 43 % fragten diesen Unterricht in der Grundschule nach). Während in Flandern sieben verschiedene Religionen in öffentlichen Schulen unterrichtet werden, sind es in Brüssel und Wallonien jeweils sechs. Die Lehrergehälter werden vom Staat bezahlt, gleichwohl haben die Behörden zunehmend Schwierigkeiten, entsprechende Personen zu finden. Die religionsdidaktischen Konzepte sind nicht weniger plural, sie bewegen sich zwischen existentiellen Ansätzen ( Deroitte) und philosophischen Zugriffen (Laurent). Die Autoren sprechen sich am Ende für eine Humanisierung als Ziel des Religionsunterrichts aus, es solle weniger um Sozialisierung gehen. Sie fordern einen sogenannten »safe space« innerhalb des konfessionsbezogenen Unterrichts (confessionnel set-up) und plädieren dafür, dass der religiösen Diversität in einem kontextuellen Rahmen auch orga-nisatorisch Rechnung getragen werde (Deroitte/Meyer/Pollefeyt/ Roebben, 43–63).
In England ist religious education grundsätzlich inklusiv und nicht an spezifische Konfessionen oder Denominationen gebunden. Die religiöse Diversität ist groß. 2011 stehen 33 Mio. Christen 2,7 Mio. Muslime, 816.000 Hindus, 423.000 Sikhs, 263.000 Angehörige der jüdischen Religion und 247.000 Buddhisten gegenüber. Personen, die sich als Atheisten bezeichnen, umfassen ca. 10 % der Bevölkerung. Dies schließt nicht aus, dass es in einzelnen Landesteilen zu Extremverteilungen kommt: In Knowsley leben 80,9 % Christen, in Tower Hamlets (East London) 34,5 % Muslime, in Norwich bezeichnen sich 42,5 % als konfessionslos. Die Aufgaben und Konzepte des Religionsunterrichts sind vielfältig, sie bewegen sich zwischen dem Erwerb von Kenntnissen, dem Dialog, spiritueller, aber auch moralischer Erziehung. Es gibt kein Ersatzfach, son-dern nur die Möglichkeit des Sich-Entziehens, von der allerdings nur wenige Angehörige der Zeugen Jehovas Gebrauch machen (53–98).
In Frankreich überlässt das staatliche Schulsystem die religiöse Erziehung seit 1905 der Familie bzw. den religiösen Institutionen. Drei wichtige Etappen kennzeichnen die jüngeren Beziehungen zwischen der Religion und dem französischen Schulsystem: das Gesetz von Debré (1959), das die staatliche (Mit-)Finanzierung der Privatschulen regelt, die Einführung der »faits religieux« in das staatliche Schulsystem im Rahmen des Berichts von Debray (2002) sowie das Verbot, im schulischen Raum religiöse Zeichen und Symbole zu tragen (die sogenannte Laïcité scolaire vom 15.3.2004). Zwar gilt der offizielle Ferienkalender als »katholisch« beeinflusst, der Islam umfasst aber schon jetzt 7 % der 65 Mio. Einwohner und steht damit bereits vor den Protestanten (3 %), aber noch deutlich hin-ter den Katholiken. Angehörige der jüdischen Minderheit bilden mit 600.000 Mitgliedern die größte vergleichbare Religionsgruppe Europas. Die Verfassung der 5. Republik von 1958 beschreibt die Französische Republik in § 2 als unteilbar, säkular, demokratisch und sozial. Seit 2013 diskutiert man die Frage einer säkularen Moral ( Peillon). 18 % aller Schulpflichtigen besuchen private (katholische) Einrichtungen. Die Kenntnis religiöser Kulturen gilt offiziell als Ziel einer säkularen Didaktik. Konfessioneller Religionsunterricht wird in Elsaß-Lothringen (Alsace-Moselle) erteilt, ansonsten die sogenannten »faits religieux«. Der Überwindung der Differenz zwischen dem primären und sekundären Bildungssektor sowie der universitären Erforschung von Religion widmet sich das Institut Européen en Sciences des Religions (IESR). Der in der letzten Klasse (terminale) erteilte Philosophieunterricht leistet nicht nur die Ausbildung des Staatsbürgers, sondern befasst sich zunehmend auch mit ethischen Fragen ( Willaime, 99–119).
Mit 84,2 % Katholiken – nach einer Zählung von 2011 – hat Irland einen eindeutig christlichen Hintergrund. In jüngster Zeit besinnt man sich didaktisch betrachtet auf die Menschenrechte. Als Alternativfächer kommen Ethik und Jüdische Studien in Betracht (Mc Grady, 121–143).
2008 gaben 73 % aller befragten Luxemburger die christliche – überwiegend katholische – Religion als ihre Konfession an, 2 % rechnen sich dem islamischen Glauben zu, im Übrigen ist die Situation als eine sich zunehmend säkularisierende zu beschreiben. Am Religionsunterricht nehmen zunehmend auch nicht konfessionell gebundene Schülerinnen und Schüler teil, was auf die innovativen Lehrmethoden sowie das besondere Engagement der Religionslehrer auch außerhalb des Klassenraumes zurückgeführt wird. Vor dem 15. Mai eines jeden Jahres haben Schüler und Erziehungsberechtigte zu entscheiden, ob sie am Religionsunterricht oder am Ethik- und Moralunterricht teilnehmen. Ein besonderes System der Kirche organisiert den Vertretungsreligionsunterricht ( Zeien/ Weber, 145–170).
In den Niederlanden herrscht das Prinzip des »living apart together«, insofern die unberechenbaren Fluten seit dem 11. Jh. jegliche Form zentraler Herrschaftsausübung verunmöglichten. Das Prinzip prägt auch die aktuelle »post-pillarized« Gesellschaft, die seit den 1950er Jahren nicht länger durch die Trias »scripture, faith and mercy« (Berger) gekennzeichnet ist. Die offizielle Schulpolitik setzt sich seit Beginn des 21. Jh.s für einen Prozess der »knowledge construction« ein und folgt damit einer von Dürkheim und Giddens her eröffneten Traditionslinie. Neben einem christlichen Zugang findet vor allem ein auf der Basis der Tillich’schen Theologie entwickelter religionsphilosophischer Ansatz Zuspruch. 1988 gab es die ersten islamischen Privatschulen, 2012 zählt man 43. Die katholischen Privatschulen erfreuen sich nach wie vor, insbesondere aber auch aufgrund der Feiern, Zeremonien und Rituale eines hohen Zuspruchs. Insgesamt erkennt man die Notwendigkeit, die Lernenden mit Material über religiöse und weltliche Traditionen zu versorgen ( Geurts/ter Avest/Bakker, 171–204).
Über 90 % aller Schüler besuchen in Nordirland Schulen, die ihren religiösen Hintergrund berücksichtigen. In der Regel be­trachtet man die Einrichtungen de facto als protestantische Schulen. Einige katholische Privatschulen existieren neben Institutionen, die sich seit 1991 zunehmend für Angehörige aller Religionen öffnen (Richardson, 205–232).
Das Schulsystem in Schottland scheint immer noch von seinen aufklärerischen Wurzeln zu zehren, die sich ihrerseits einer langen universitären Tradition – bereits im Mittelalter wurden die Universitäten St. Andrew’s (1413), Glasgow (1451) und Aberdeen (1495) gegründet, 1583 kam Edinburgh hinzu – verdanken. 65 % der Bevölkerung bezeichneten sich 2011 als christlich, andere Religionen spielen eine untergeordnete Rolle. Die Gruppe der Konfessionslosen nimmt hingegen ständig zu. Religious education gibt es seit 1872 für alle, im Zentrum des phänomenologisch in der Tradition von Husserl ansetzenden Unterrichts stand lange Zeit der Erwerb von biblischen Kenntnissen (Conroy, 233–260).
In Wales spielt – anders als in anderen Teilen Großbritannien – vor allem die Sprache und die ethnische Zugehörigkeit eine große Rolle. Die Religion wird erst seit 2001 erfragt. Dabei geben 72 % an, dass sie der christlichen Religion angehören. Der Unterricht hat den »syllabus for religious education« zu berücksichtigen, der die Unterrichtenden darauf verpflichtet, dem Christentum als der wichtigen Religion ausreichend Raum zu geben, ohne andere Religionen zu vernachlässigen (Siôn/Francis, 261–285)
Oddrun Marie Hovde Braten stellt am Ende ihre »Methodology for Comparative Studies in Religious Education« vor, die drei Ebenen, die subnationalen, nationalen und supranationalen Prozesse, unterscheidet. In diese ordnet sie die 13 Schlüsselfragen ein. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Entwicklung von Säkularisierung vor allem dort erkennbar wird, wo religiöse Erziehung stattfindet. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen institutionellen Strukturen und der nationalen Erziehungsgeschichte, die sich aber beide zu supranationalen Faktoren – wie der Säkularisierung, Pluralisierung und Globalisierung – verhalten müssen. Die spezifischen Kennzeichen dieser neuen Pluralität bestehen in kultureller Pluralität, einer größeren Gruppe Konfessionsloser sowie in einer neuen starken muslimmischen Minderheit. Die (Religions-)Lehrerbildung dürfte wegen des geringer werdenden Wissens langfristig fast überall problematisch werden. Insgesamt gilt dabei, dass sowohl nationale als auch supranationale Faktoren (s. o.) eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Die Menschenrechte sind dabei ebenso zu bedenken wie der Umstand, dass konfessionelle Zugänge oft einen guten Ansatz für inklusives Vorgehen bieten. Dabei ließen sich die großen europäischen Einrichtungen – wie etwa der Europarat – als Katalysator für internationaleres Denken einbringen (287–313).
Der Band fördert insgesamt interessante Beobachtungen zutage, vor allem die vergleichende Zusammenstellung von Material zur religiösen Erziehung dürfte auch künftigen Generationen sehr hilfreich sein. Das alte Europa wird in einem Moment eingefangen, in dem es sich schon fast in post-moderne Pluralität und entsprechende Metastrukturen verwandelt hat. Erstaunlich scheint mir, dass gerade der konfessionelle Unterricht in einem Übermaß inklusive Möglichkeiten zu eröffnen und Strategien zu befördern scheint. Dieser Spannung wird in weiteren Studien nachzugehen sein. Autoren und Herausgebern ist zu danken, dass sie sich den Mühen, die ein solches Unternehmen mit sich bringt, nicht versagt haben.