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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

992–993

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Englert, Rudolf, Kohler-Spiegel, Helga, Naurath, Elisabeth, Schröder, Bernd, u. Friedrich Schweitzer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionspädagogik in der Transformationskrise. Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. 222 S. = Jahrbuch der Religionspädagogik, 30 (2014). Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-7887-2827-4.

Rezensent:

Anna-Katharina Lienau

Die Jubiläumsausgabe des Jahrbuchs der Religionspädagogik nimmt unter dem programmatischen Titel Religionspädagogik in der Transformationskrise eine gründliche Analyse der für die Religionspädagogik relevanten Veränderungen vor und wagt einen Ausblick auf die Zukunft religiöser Bildung.
Der dabei aufgespannte Bogen ist unterteilt in Aspekte 1.) des Gestaltwandels von Religion, 2.) der Veränderungen institutioneller Formen, 3.) insbesondere in der Schule und 4.) einer Verhältnisbestimmung von Theologie, Gesellschaft und Religionsunterricht. Der gewählte Zugang fokussiert nicht nur den schulischen Religionsunterricht oder die universitäre Auseinandersetzung über Religionspädagogik, sondern versucht gleichermaßen, einen historisch, systematisch, exegetisch wie religionspädagogisch weiten Horizont zu öffnen und verschiedene Lernorte zu berücksichtigen. Dass dieser bei dem gewählten Vorhaben nicht auseinanderbricht, ist der Verdienst der zusammenfassenden Aufsätze (vgl. Schweitzer, Schröder, Naurath und Englert) sowie der abschließenden Thesen (vgl. Schröder).
Zugleich wird der Blick sowohl für die geläufigen Thesen von Individualisierung, Säkularisierung (vgl. Simojoki) und Pluralisierung (vgl. Körtner) als auch für die religionspädagogische Betrachtung von weniger oft rezipierten Aspekten geschärft. So werden beispielsweise Konfessionslosigkeit (vgl. Hermelink, Könemann), nicht-religiöse Weltdeutungsperspektiven (vgl. Hermelink), Medialisierung der Wirklichkeitswahrnehmung (vgl. Hermelink), globale Zusammenhänge (vgl. Simojoki) und die Frage nach Teilhabe (Pohl-Patalong) gewinnbringend einer näheren Betrachtung unterzogen.
Angesichts von Herausforderungen in gesellschaftlicher, systemischer, organisatorischer, inhaltlicher, didaktisch-methodischer und wissenschaftstheoretisch-konzeptioneller Hinsicht benennt Schröder (110 ff.) je vier Aufgaben für die Praxis religiöser Bildung und die religionspädagogische Theoriebildung. So müsse die Praxis seiner Meinung nach »auf verstärkte Erkennbarkeit des Christlichen, auf die Betonung von Lebensdeutung wie -führung, auf Positionierung im pluralen Kontext [und] auf einladende Erschließung« (118) hin ausgerichtet sein. Während die Aufgaben der religionspä-dagogischen Theoriebildung in einem Beitrag zur Hermeneutik christlicher Religion, der Aufarbeitung christlicher Lebensführungsoptionen, dem Angebot von Modellen der Konvivenz sowie einer Abwehr gegen die Isolation der Religionspädagogik innerhalb der Praktischen Theologie lägen (119 f.).
Erhellend erweisen sich in diesem Kontext auch die Beiträge von Stoellger zum Wirklichkeitsbegriff (43 ff.) und von Englert zur Versachlichung des Religionsunterrichts (207 ff.). So bestehe Wirklichkeit aus »den drei Dimensionen von wirklich, möglich und unmöglich« (46) und zeige sich in einem permanenten Bedeutungswandel. Als »wirklich« erweise sich laut Stoellger gegenwärtig das, was wirksam sei (Wirksamkeit), sich rechne (Ökonomisierung) und sichtbar sei (Sichtbarkeitssteigerung). Dass mit dieser auf den ersten Blick als Wirklichkeitssteigerung anmutenden Sicht, eine Einengung verbunden ist, die sich als Wirklichkeitsschrumpfung zeigt, wird spätes-tens durch Stoellgers eschatologischen Hinweis deutlich: Zur Wirklichkeit gehöre auch das Hoffen, das Imaginäre (52 f.).
Die historische Entwicklung vor Augen beschreibt Englert eine Versach(kund)lichung des RU als eine zweite religionsdidaktische Transformation seit 1945 (207 ff.). Diese zeige sich als Reaktion auf die religiöse Gegenwartssituation (216) und äußere sich in der Tendenz zur »Vermeidung oder Abschwächung der Relevanzfrage«, in der veränderten Rolle des Religionslehrers (vom Zeugen zum Moderator) sowie in der Bearbeitung der Herkunftsreligion der Schülerinnen und Schüler aus der Beobachterperspektive, d. h. als Fremdreligion (214 ff.). Diese Entwicklung könne einerseits als notwendige Anpassung an die religiöse Gegenwartssituation, aber andererseits auch als Kommunikationsprobleme des christlichen Glaubens interpretiert werden (217). Mit Stoellger gesprochen könnte die von Englert festgestellte Versachkundlichung des Religionsunterrichts auch als Wirklichkeitsschrumpfung beschrieben werden. Die demnach nötige Ergänzung der zukünftigen Wirklichkeit religiöser Bildung um Imagination wird durch den vorliegenden Band multiperspektivisch angeregt. Zu hoffen ist daher auf aufmerksame und imaginierende Leser.