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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

982–984

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Höver, Hendrik

Titel/Untertitel:

Entscheidungsfähigkeit in diakonischen Unternehmen. Eine St. Galler Management-Studie.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2015. 330 S. = Lenken. Leiten. Gestalten. Theologie und Ökonomie, 36. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-13022-8.

Rezensent:

Matthias Benad

Bei diesem Band von Hendrik Höver, Pfarrer der Nordkirche, handelt es sich um eine 2012 bei Johannes Rüegg-Stürm im Forschungszentrum »Organization Studies« am Institut für Systematisches Management und Public Governance (IMP) der Universität St. Gallen abgeschlossenen Dissertation. Mit seiner Fallstudie stößt H. ins Zentrum des Führungsgeschehens in pluralistischen oder multi-rationalen Organisationen vor. Zu ihnen zählen auch Un­ternehmen der Diakonie, weil sie unterschiedlichen Handlungsrationalitäten folgen. So wurde die hier beforschte Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA) 1850 von dem Hamburger Pastor Heinrich Sengelmann für Menschen mit geistigen Behinderungen gegründet. Sie hat heute rund 5300 Mitarbeitende und erbringt an über 160 Standorten auf dem Wohlfahrtsmarkt Dienstleistungen für Menschen mit Assistenzbedarf, im Gesundheitswesen, der Altenpflege und im Bildungsbereich. Dabei orientiert sie sich am christlichen Auftrag zur Nächstenliebe, an den Wünschen der Klienten und den Anforderungen der Leistungsträger. Bei Zielkonflikten müssen tragfähige unternehmerische Entscheidungen getroffen werden, die ökonomisch vertretbar sind.
Das Buch ist klar gegliedert. Die erste Hälfte dient der Entfaltung und Präzisierung der Fragestellung sowie der Reflexion des theoretischen und methodischen Zugangs; die zweite Hälfte enthält die eigentliche Untersuchung und die abschließende Diskussion der Ergebnisse. Zu Beginn jedes Kapitels wird umsichtig dessen Stellung im Gesamtzusammenhang beleuchtet, am Ende ein Zwischenresümee gezogen. Die knappe Einleitung mit Kernthesen gibt Grundorientierung für alles Folgende. Es geht um die Entscheidungsfähigkeit multirationaler Organisationen angesichts knapper Ressourcen und vielfältiger werdender Möglichkeiten un­ter wachsendem Handlungsdruck, weil gleichzeitig theologisch-ethischen, ökonomischen, rechtlichen und verschiedenen fachlichen Anforderungen genügt werden muss. Tragfähige Entscheidungen können in einem derartigen Kontext, so H.s These, nicht von patriarchalisch agierenden Management-Helden innerpsychisch gefällt und dann in die Organisation eingespeist werden. Vielmehr müssen zur Steuerung in allen Teilen der Organisation Kenntnisse und Erfahrungen mobilisiert werden, die der Unternehmensleitung nicht ohne Weiteres zur Verfügung stehen. H. spricht von einer Krise der Hierarchie und von Dependenzumkehr. Daher sei es nötig, dass Entscheidungen »gemeinschaftliche Errungenschaft als Ergebnis eines kollektiven Beziehungs- und Kommunikationsprozesses« werden. Es gehe nicht einfach um die Anwendung von Management-Tools durch Führungskräfte. Damit multirationalen Organisationen die Handhabung von Mehrdeutigkeit gelingen kann, muss über die Hierarchiestufen hinweg eine Strukturierung der Kommunikation auf angemessenen Plattformen erfolgen, um tragfähige Entscheidung hervorzubringen. Dies zustande zu bringen, sei Aufgabe der Führungskräfte, die nicht nur im Management, sondern auf allen Ebenen der Organisation zu finden seien. Eine der Unternehmung angemessene Management-Architektur hervorzubringen und mit einer entsprechenden Führungskultur zu verbinden, stelle eine erhebliche Management-Innovation dar.
H. distanziert sich von der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie, die individuelle »Entscheider« mit ihren Tugenden oder Schwächen ins Zentrum der Forschung stellt und von begrenzt rationalen Entscheidungsprozessen spricht. Es gehe nicht um begrenzt rationale Entscheidungen, sondern um unentscheidbare Fragen, die so oder anders entschieden werden müssen, um die Weiterentwicklung der Organisation zu gewährleisten. H. bevorzugt einen konstruktivistischen Ansatz, es gilt die Annahme: »Die Welt ist so, wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Entscheidung.« Er will die Entscheidungsfähigkeit der pluralistischen Organisationen ESA aus der systemtheoretischen Perspektive Niklas Luhmann erforschen. Management wird verstanden als reflexive Gestaltungspraxis, die sich durch stabilisierte, kollektive Praktiken, nämlich eingespielte Reflexions-, Kom­munikations-, Entschei-dungs- und Handlungsmuster auszeichnet. Das soziale System macht sich von Personen unabhängig. Auch Managerinnen und Manager gehören, wie alle anderen, die an der Kommunikation, in der ein System Entscheidungen verfertigt, teilnehmen, als individuelle psychische Systeme zu dessen Umwelt. Sie sind wie alle anderen reflektierende und intervenierende Beobachter der Organ isation, an deren Kommunikation sie mitwirken: »Entscheidungsprozesse als kollektives Sensemaking«. Aus diesen Über-legungen ergibt sich auch die Position des Forschers und die Forschungsmethode. »Organisationsforscher beobachten die Beobachtungen, die in einer Organisation prozessiert werden«. H. be­schreibt seine Rolle in der ESA als die eines Beobachters zweiten Grades. Er nimmt die Entwicklung der kollektiven Entscheidungsfähigkeit auf der Ebene des Gesamtunternehmens wahr und verfasst nach der ethnografischen Methode von Clifford Geertz re-flektierende »dichte Beschreibungen« in Form zahlreicher kurzer »Vignetten« über Entscheidungspraktiken. Diese Beobachtungen wurden in Feedbackrunden mit den Beforschten diskutiert, jede Vignette wird von H. in der Fallstudie interpretiert. Der Forscher bildet mit den Praxispartnern eine »Lern- oder Forschungspartnerschaft«. Die so erzielten Ergebnisse beanspruchen keine objektive Wahrheit, es handelt sich um gemeinsame »lokale Theorien«.
H.s Hauptaugenmerk gilt den Beziehungen zwischen dem Aufsichtsgremium (Verwaltungsrat), dem Vorstand und der zweiten Führungsebene. Die ESA erwies sich als dankbares Untersuchungsobjekt, hatte sie sich doch, nach dem Ende des Kostendeckungsprinzips Mitte der 1990er Jahre im Zuge der Anpassung an den sich entwickelnden Sozialmarkt vom Anstaltskonzept verabschiedet und 2005 in 21 relativ eigenständige Tochtergesellschaften mit je eigener Budgetplanung aufgegliedert. Die Töchter sollten mit relativ großer Unabhängigkeit in ihren Sparten unternehmerisch agieren, während es die Aufgabe des zweiköpfigen Vorstandes war, als strategische Holding die Linie des Gesamtunternehmens weiterzuentwickeln.
Nicht allen Tochterunternehmen waren fachlich und ökonomisch gleichermaßen erfolgreich. So wurden Quersubventionierungen erforderlich, für die der Vorstand steuernd Verantwortung übernahm, allerdings ohne dass diese Vorgänge transparent wurden. Parallel zur Dezentralisierung wurde auf Expansion gesetzt. Mit dem Erwerb von Altenheimen in Kiel begab sich die Stiftung auf ein ihr bisher unbekanntes Geschäftsfeld. Rasch entstand erheblicher zusätzlicher Subventionsbedarf. Der plötzliche Tod eines der beiden Vorstandsmitglieder, die reguläre Neubesetzung des Verwaltungsratsvorsitzes und eine überraschend zutage tretende wirtschaftliche Schieflage des Gesamtunternehmens führten dazu, dass mitten im Untersuchungszeitraum (2005–2009) von einem zweiköpfigen auf einen vierköpfigen Vorstand umgestellt wurde und neue Kommunikationsplattformen im Unternehmen entstanden. Auch das Aufsichtsgremium organisierte sich intern neu. Nachdem die Krise offenbar geworden war, wurde der Forscher nicht etwa von der Beobachtung der brisanten zentralen Prozesse ausgeschlossen, sondern konnte weiterhin die Vorgänge beobachten und in Feedback-Schleifen die Lernpartnerschaft fort-setzen. Immobilienwerte wurden korrigiert, Quersubvention unternehmensintern unter der Rubrik »Kirche und Soziales« transparent gemacht, Subven-tionskriterien und -dauer kontrovers beraten, GmbHs saniert, die Tochter-gesellschaften in engeren Austausch mit dem Vorstand gebracht. Dieser verpflichtete sich zu einstimmigen Beschlüssen und setzte sich selbst trans-parente Sparziele. Die »strategische Holding« wandelte sich in eine »operative Holding«.
Auch wenn es sich bei den Ergebnissen »nur« um lokale Theorien mittlerer Reichweite handelt, die nicht einfach auf andere Unternehmen übertragen werden können, sei die Lektüre dieser äußerst gründlichen und gelungene Studie Theoretikern und Praktikern gleichermaßen empfohlen. H. sucht durchgehend das Gespräch mit beiden communities. Derzeit gibt es keine Organisation in Diakonie, Sozialwirtschaft und Kirche, die in der jüngsten Vergangenheit einen forschenden Beobachter dermaßen weit in ihre Entscheidungspraktiken hat hineinschauen und darüber publizieren lassen.
Ein Mangel der Publikation in der Reihe LLG darf allerdings nicht verschwiegen werden: Es fehlt im Anhang das im Text er­wähnte Verzeichnis der Interviews, Beobachtungsberichte und Dokumente, aus denen in der Fallstudie vielfältig zitiert wird. Wer Auskunft über diese Quellen bekommen will, muss den Dissertationsdruck einsehen, der 2013 in Bamberg unter dem Titel Entscheidungsfähigkeit in pluralistischen Organisationen erschien.