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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1004–1007

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Huwyler, Beat

Titel/Untertitel:

Jeremia und die Völker. Untersuchungen zu den Völkersprüchen in Jeremia 46-49.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. X, 433 S. gr.8 = Forschungen zum Alten Testament, 20. Lw. DM 138,-. ISBN 3-16-146774-4.

Rezensent:

Gunther Wanke

Nach einem Durchgang durch die Geschichte der Erforschung der Völkersprüche, die in den sechziger und siebziger Jahren einige beachtliche Monographien erbrachte (z. B. J. H. Hayes, The Oracles against the Nations in the Old Testament, Princeton 1964; B. B. Margulis, Studies in the Oracles against the Nations, Ph.D.Diss. Brandeis University, 1966; D. L. Christensen, Transformations of the War Oracle in Old Testament Prophecy, HDR 3, 1971; Y. Hoffmann, The Prophecies against the Nations in the Bible (hebr.), Diss. Univ. Tel Aviv, 1973, und P. Höffken, Untersuchungen zu den Begründungselementen der Völkerorakel des Alten Testaments, Diss. theol. Bonn, 1977), kommt schon 1992 F. Fechter (Bewältigung der Katastrophe. Untersuchungen zu ausgewählten Fremdvölkersprüchen im Ezechielbuch, BZAW 208) zu dem Ergebnis, daß die Forschung dort in eine Sackgasse gelangt war, "wo zu unvermittelt nach einem ,Gemeinsamen’ in den FVS gesucht wurde", und daß folglich die Zukunft bei den Textanalysen liege (15 f.). Ähnlich urteilt B. Huwyler in seiner hier anzuzeigenden, von K. Seybold betreuten Basler Dissertation (WS 1995/96): "Eine Weiterverfolgung dieser umfassenden und textübergreifenden Perspektive ist m. E. nicht sinnvoll, da sie sich für die Interpretation der Einzeltexte als wenig fruchtbar erwiesen hat" (34). Diese zutreffende Einschätzung der Situation hat die erfreuliche Folge, daß neben Fechters Studie zu Ezechiel nunmehr mit H.s Dissertation eine weitere zu den Völkersprüchen des Jeremiabuchs vorliegt. In absichtsvoller Begrenzung auf Jer 46-49 und unter Absehen von den Babelsprüchen in Jer 50-51 wird die Frage verfolgt, "ob Jeremia selbst solche Sprüche verfaßt und vorgetragen hat, und wenn ja, in welchem Zusammenhang, mit welcher Absicht und vor welchem Publikum dies geschah" (34). Diese Frage nach der ursprünglichen Funktion und dem historischen Ort der Einzelsprüche ist in dieser Zuspitzung, soweit ich sehe, bislang nicht an Jer 46-49 herangetragen und auch nicht methodisch so konsequent verfolgt worden wie in H.s Studie.

Die Einleitung (I: 1-41) bietet im wesentlichen einen forschungsgeschichtlichen Überblick, aus dem die Fragestellungen entwickelt und das methodische Vorgehen entfaltet werden. Der Analyse der Einzeltexte ist ein ausführlicher Abschnitt über die Textgrundlage (II: 42-72) vorangestellt, welcher die besonderen Textverhältnisse im Jeremiabuch (LXX, MT) in den Blick nimmt und methodisch verortet. Es wird betont, daß es bei der Textkritik am Jeremiabuch nicht um die Korrektur von MT durch LXX, sondern um das Verstehen der Wachstumsphasen der Jeremiatexte geht, welches auch literar- und redaktionskritisches Vorgehen erfordert. "Jedenfalls liegt ... in der Redaktionsgeschichte des Jeremiabuchs der Schlüssel zu seiner Interpretation" (72).

Der umfangreichste Teil der Studie ist den Analysen der Einzeltexte gewidmet (III: 73-266). Dabei wird als Ausgangspunkt das erste Ägypten-Gedicht (46,3-12) gewählt, um aus ihm Vergleichsdaten zu gewinnen, die eine Grundlage für die Beurteilung der übrigen Völkersprüche bilden können. Das Ergebnis der Analysen kann hier nur kurz zusammengefaßt wiedergegeben werden: Jer 46-49 liegt mit Ausnahme des Elam-Spruchs (49,34-39) ein Kern von Sprüchen zugrunde, "gegen deren Authentizität keine überzeugenden Gründe vorgebracht werden konnten" (267); ferner sind Bearbeitungen festzustellen, die vor bzw. nach der Aufspaltung der Textüberlieferung in den prämasoretischen und alexandrinischen Texttyp erfolgten. Auf der Grundlage der Analysen werden in einem weiteren Hauptteil (IV: 267-323) die Einzelbeobachtungen unter systematischem Gesichtspunkt zusammengestellt (1. Stil und Gestaltung; 2. Begründungen; 3. Unheilsankündigung; 4. der "Feind") und hinsichtlich ihrer Funktion, der Art der Veröffentlichung und der Adressaten ausgewertet: Der Stil der Sprüche legt ursprünglich mündlichen Vortrag nahe; das angesagte Unheil wird nicht begründet; das Unheil wird von einem konkreten Feind herbeigeführt; eigentlicher Feind ist Jahwe, die erwähnte Militärmacht sein Werkzeug; Jahwe kämpft für ein fremdes Volk wie in den Gedichten vom Feind aus dem Norden, was einen Zusammenhang zwischen Feind- und Völkersprüchen nahelegt. Für den Situationshintergrund der Völkersprüche ist die Frage nach den Adressaten (Völker? eigenes Volk?) wichtig, die textimmanent nicht entschieden werden kann. Die größte Wahrscheinlichkeit habe ein Entstehen und Verkünden eines Teils der Völkersprüche (Edom, Moab, Ammon, Philister?, Phönizien?) im Zusammenhang mit dem in Kap. 27 Bericheten für sich; die übrigen Sprüche dürften aus andern Situationen stammen (Ägypten, Philister). Das erste Ägyptengedicht (46,3-12), als Ankündigung der Schlacht von Karkemisch und gegen die proägyptische Politik Jojakims gerichet verstanden, welches die Ereignisse als von Jahwe gewirkt deutet und in ihren Konsequenzen für die Völker entfaltet, fügt sich mit seiner Zuspitzung des Glaubenssatzes von Jahwe als dem Herrn der Geschichte auf konkrete politische Ereignisse nahtlos in Jeremias Verkündigung vom Feind aus dem Norden ein. Mit dieser Einordnung des Ägyptengedichts verlagert sich der Adressatenkreis auf Juda, insbesondere auf den König und die führenden Kreise. Da Jeremia immer wieder in politischen Angelegenheiten beratend tätig war, ist der "Sitz im Leben" der Völkersprüche in diesem politisch-theologischen Zusammenhang zu sehen. Als Publikum sind verschiedene Kreise denkbar, so daß mit unterschiedlichen Sitzen im Leben gerechnet werden kann. Die an fremde Völker und die an Juda gerichteten Völkersprüche sowie die Feind-Sprüche gehören alle in ein und demselben Zusammenhang, da alle Fremdvölker und Juda dasselbe Unheil trifft. So wird aus dem Völkerpropheten wieder der Prophet Jahwes für sein eigenes Volk.

Der letzte größere Abschnitt (V: 324-386) ist den Bearbeitungen der Völkersprüche und damit verbunden dem Werdegang des Jeremiabuchs gewidmet. Da der Charakter der in den Analysen festgestellten Erweiterungen (dtr. u. a.) keinen ausreichenden Anhalt für deren Herkunft und damit keine zuverlässigen Hinweise auf die Integration der Völkersprüche in die Jeremiaüberlieferung bietet, wird nach externen Hinweisen gesucht, wofür am ehesten 25,1-13 in Frage käme. Die Analyse dieser dtr. Rede führt H. zu dem Schluß, daß eine erste dtr. Ausgabe des Jeremiabuchs, welche durch die LXX repräsentiert wird, die dtr. bearbeiteten Völkersprüche einschließlich der Babelsprüche enthalten hat. Außerdem finden sich in 25,1-13 Hinweise darauf, "daß die Völkersprüche und die Becherperikope ursprünglich den zweiten Teil des Buches darstellten" (346). Diese Hinweise beabsichtigt der Vf. durch eine ausführliche Analyse der Becherperikope und durch Hinweise aus den Überschriftensystemen zu verifizieren. Für die Becherperikope ergibt die Analyse, daß sie aus zwei Einheiten 25,15-25* und 25,32-37 besteht, die mehrstufig erweitert wurden, und gegen deren Authentizität keine überzeugenden Argumente vorliegen; mit den Völkersprüchen ist sie insoweit verbunden, als sie wie diese Jahwe als den Urheber des Gerichts bezeichnet, den Vollstrecker hingegen nicht näher bezeichnet und keine Begründung für das Gericht bietet; die in der sekundär erweiterten Völkerliste genannten Völker entsprechen im wesentlichen den Völkern der Völkersprüche, und die Reihenfolge der Völker in der Liste steht der Anordnung der Völkersprüche in MT nahe. Eine ursprüngliche Verbindung der Becherperikope mit den Völkersprüchen ist wahrscheinlich, jedoch nicht stringent zu erweisen. Die Überschriftensysteme lassen Spuren redaktioneller Bearbeitung erkennen, die sich zum einen am besten aus der Verschiebung der Völkersprüche von der Mitte ans Ende des Buches erklären lassen und die zum andern vor allem wegen der Abschlußnotizen 48,47 und 51,64 hinsichtlich der Reihenfolge der Sprüche für eine Priorität des alexandrinischen Textes gegenüber dem prämasoretischen Text sprechen. "Ertrag und Ausblick" (387-394) schließen die Studie ab, der ein Literaturverzeichnis sowie Stellen-, Autoren- und Sachregister beigegeben sind.

H.s Studie ist eine methodisch konsequent durchgeführte Untersuchung, die unausgesprochen F. Fechters Ansatz (s. o.) insofern für die Völkersprüche des Jeremiabuchs aufnimmt, als sie von den Einzelanalysen der Texte ausgehend die Funktion der Sprüche, ihre konkrete Verortung und ihre Integration in das Jeremiabuch in den Blick zu bekommen versucht. In dieser Hinsicht bietet sie in der Jeremiaforschung einen höchst beachtenswerten Neuansatz, der wohl die Annahmen von H.s Lehrer K. Seybold (Der Prophet Jeremia. Leben und Werk, UB 416, 1993, 120-128) zu stützen und weiterzuführen sucht. Der überzeugendste Teil der Studie ist die Herausarbeitung der theologischen Übereinstimmung zwischen dem Kern der Völkersprüche und den Feindsprüchen, die wesentlich dazu beiträgt, die Authentizität der einschlägigen Völkersprüche zu begründen. Inwieweit diese Annahme allerdings tragfähig ist, hängt u.a. auch davon ab, ob sich das redaktionsgeschichtliche Konzept, das H.s Überlegungen zur Einfügung der Völkersprüche in die Jeremiaüberlieferung zugrundeliegt, bewährt. Hier kann man die Dinge (z. B. Analyse von Jer 25,1-13; Jer 27*; Beurteilung von Erweiterungen der Völkersprüche als dtr.) durchaus auch anders sehen. Ungeachtet dessen bleibt H.s Studie ein wichtiger Beitrag zur Erforschung des Jeremiabuchs und der Fremdvölkersprüche.