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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

971–973

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gillner, Matthias, u. Volker Stümke[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kollateralopfer. Die Tötung von Unschuldigen als rechtliches und moralisches Problem.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag; Baden-Baden: Nomos Verlag 2015. 258 S. = Studien zur Friedensethik, 49. Geb. EUR 46,00. ISBN 978-3-402-11693-7 (Aschendorff Verlag); 978-3-8487-1908-2 (Nomos Verlag).

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Dieser Band geht auf ein Symposium zurück, das vom »Internationalen Forum Berufsethik für militärische Führungskräfte« (IEF) an der Führungsakademie der Bundeswehr durchgeführt wurde. Es diskutierten Friedens- und Militärethiker mit Völkerrechtlern und Offizieren aller Teilstreitkräfte über Fragen der Gewalttoleranz im Völker- und Völkerstrafrecht, die Anwendungsprobleme des Konfliktvölkerrechts auf international und nicht-international be­waffnete Konflikte und über die moralische Integrität der Soldaten, auf denen wachsender öffentlicher Legitimitätsdruck lastet. Der Tagungsverlauf wird in diesem Buch von Arjan Kozica eigens dargestellt und kritisch gewürdigt.
Titelgebend für dieses Buch ist der 1999 zum »Unwort des Jahres« gewählte Begriff des Kollateralschadens, durch den nicht-beabsichtigte Sachschäden mit Verletzungen von Menschen und Tötungshandlungen vermengt und dadurch verharmlost werden. »Aus diesem Grund haben sich die Herausgeber entschieden, auf den militärfachlichen Jargon zu verzichten und stattdessen den präziseren Begriff Kollateralopfer zu verwenden.« (8) Dadurch wird die ethische Perspektive in den Vordergrund gerückt, die allerdings so eindeutig nicht ist: »Die Tötung von Unschuldigen ist in der christlichen Tradition nicht von allen relevanten moralischen Lehren und Theorien grundsätzlich verboten worden.« (8) Auch im Kriegsvölkerrecht gibt es eine gewisse Gewalttoleranz, die »eher als hoch einzuschätzen« (11) ist. Allerdings ist die Öffentlichkeit an diesem Punkt sensibilisiert und so steigt der öffentliche Druck, wenn im Falle einer notwendigen Abwägungsentscheidung eine militärische Aktion zivile Opfer fordert, wie die Kritik an Oberst Klein nach den Luftschlägen von Kundus vom 4. September 2009 gezeigt hat.
Die Fragestellungen werden in diesem Buch von vier Seiten aus beleuchtet, die auch die Gliederung bestimmen: 1. Militärische Praxis (fünf Beiträge), 2. Rechtliche Regelungen (zwei Beiträge), 3. Moralische Probleme (zwei Beiträge) und 4. Humanitäre Begleitung (vier Beiträge). Im Anhang finden sich jener Tagungsbericht und eine Thesenreihe des Herausgebers Gillner. Aus jeder Sektion wird hier exemplarisch einer der instruktiven Beiträge vorgestellt.
Major im Generalstab Sebastian Grumer zeichnet in seinem Beitrag »Kollateralopfer und die moralische Verantwortung von Soldaten« das komplexe und unauflösliche Verantwortungsgeflecht nach, in dem der Offizier steht und dem er trotz klarer rechtlicher Regelungen nicht entrinnen kann. Kritisch gegen Michael Walzer plädiert Grumer im Anschluss an den Kantianer Reinhard Merkel dafür, dass die für jeden militärischen Verantwortungsträger notwendige Gewissensprüfung sich »von vernunftbasierter Abwägung und seiner besonderen Verantwortung als Soldat leiten lässt. Sollten nach reiflicher Abwägung […] dennoch Kollateralopfer in Kauf genommen werden, so sollte die Entscheidung zumindest rational begründbar sein. Um nicht der Irrationalität und Willkür zu erliegen, gilt es daher, alle relevanten Argumente stets offenzulegen. Mit der individuellen Schuld, unbeteiligte Menschen bei aller Rechtmäßigkeit getötet zu haben, muss jeder einzelne selbst leben.« (29)
Der Völkerrechtler Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung verweist in seinem Aufsatz »Das humanitäre Völkerrecht im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt« auf Regelungslücken im humanitären Völkerrecht. In zwischenstaatlichen Konflikten erlaubt das auslegungsoffene Verhältnismäßigkeitsprinzip, zugunsten militärischer Erfolge Nachteile für die unbeteiligte Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen. Diese ist also nicht grundsätzlich geschützt. Ein weiteres Problem betrifft den Kombattantenstatus im Bürgerkrieg. Im Fall, dass eine durch Aufständische bedrohte Regierung eine ausländische Macht zur Intervention einlädt und den Konflikt dadurch internationalisiert, braucht die Intervention die Rebellen nicht nach Maßgabe des humanitären Völkerrechtes zu behandeln, sondern nach den Bestimmungen des nationalen Rechtes. Das kann u. U. drastische Strafen einschließen, was wiederum zur Beschleunigung der Gewaltspirale beitragen dürfte. Auch sind die völkerrechtlichen Zielvorgaben für die sogenannte Transformative Besatzung unklar und diese Grauzone führt oftmals dazu, dass internationale Kräfte im Falle einer Intervention auf Einladung eine »arrogant-brutale Herr-im-Haus-Attitüde« (83) einnehmen.
Der evangelische Ethiker Michael Haspel hält in seinem Aufsatz »Die ethische Beurteilung der Tötung von Zivilpersonen« die Tötung von unbeteiligten Zivilpersonen für »faktisch nicht verhinderbar« (109), wenn man den Einsatz von militärischer Gewalt überhaupt für moralisch begründbar und politisch erforderlich hält. Entscheidend ist für ihn, dass die moralische Schwelle für einen solchen Einsatz sehr hoch und die Verhältnismäßigkeit sehr streng ausgelegt wird. »Dies bedeutet, dass Kombattanten ein höheres Risiko zugemutet werden kann als Zivilpersonen, insbesondere wenn der Einsatz militärischer Mittel mit dem Schutz der Zivilbevölkerung begründet wird.« (110) Die Abwägungsentscheidungen werden vor allem von den militärischen Verantwortungsträgern getroffen, an deren ethischer Bildung zu arbeiten ist.
Die Folgen eines solch hohen Entscheidungsdruckes thematisiert der evangelische Militärgeistliche Hartwig von Schubert in seinem Beitrag »Wie werden Soldaten im Umgang mit Schuld und Ohnmacht begleitet?« Nach einer kurzen Skizze der Aufgaben des Ausbilders und des militärischen Führers, des Psychologen sowie des Arztes und des Psychotherapeuten kommt er auf die Aufgaben des Seelsorgers bei der humanitären Begleitung zu sprechen. Seelsorge wird von den Betroffenen auch im Falle von Traumata nachgefragt, welche sich in Folge von Entscheidungen, die Kollateralopfer ge-kostet haben, einstellen. Dabei würdigt der Militärseelsorger den Soldaten gerade darin, dass er ihn in seinem Dienstauftritt ernst nimmt und anerkennt. Er übernimmt damit »eine öffentliche Rolle von Religion, er wird zudem zu einem ›exemplarischen Bürger‹, der den Betroffenen die Solidarität der Gemeinschaft spiegelt, in deren Na­men sie eingesetzt wurden« (167–168). Das Seelsorgegespräch wird im Unterschied zu den anderen Professionen symmetrisch gestaltet. Dabei arbeitet die Seelsorge »mit einem nahezu unbegrenzten Katalog an Indikationen, sie verzichtet ganz bewusst auf methodische Stringenz – etwa im Sinne einer Heilbehandlung – und konzentriert sich auf die Frage der existenziellen Deutung« (168). Diese kulminiert in der grundsätzlichen Frage von Schuld und Vergebung, die freilich eingebettet ist in psychologische und ge­sellschaftliche Kontexte.
»Deshalb besteht die Lösung darin, sich erstens in Prozessen ethischer Urteilsbildung zu üben, um sich dann ebenso sehr in der kritischen Anerkennung relevanten Schulderlebens zu üben. Dies geschieht in der individu- ellen seelsorgerlichen Erörterung und im kollektiven Ritual und mündet beim Gelingen in Vergebung, die nicht zu verwechseln ist mit der Tilgung oder dem Vergessen.« (169)
In seiner abschließenden Thesenreihe fordert der römisch-katholische Friedensethiker Matthias Gillner, dass der militärische Fachausdruck »Kollateralschaden« nicht länger auf menschliches Leid an­gewendete werden darf. »In Bezug auf betroffene Personen sollte zukünftig angemessener von ›Kollateralopfern‹ die Rede sein.« (249) Solche Opfer sind nur in sehr engen moralischen Grenzen legitimier­bar. Als vorhergesehene oder absehbare Nebenfolge einer militärischen Handlung sind sie moralisch zurechenbar. »Nur im Falle un­überwindbaren Unwissens gilt sie als entschuldigt.« (250) Der Menschenrechtsschutz muss viel stärker als bisher in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes berücksichtigt werden. Die Tötung von Unbeteiligten ist auch in Notwehrsituationen mo­ralisch nicht zu rechtfertigen. Bei militärischen Aktionen unterhalb des international bewaffneten Konflikts sollten die »Rechtsbestimmungen […] die Tötung von Unbeteiligten als Kollateralopfer bei militärischer Gewaltausübung nicht als rechtmäßig erklären« (253).
Das Buch gibt einen facettenreichen Einblick in ethische Diskussionen auf der mittleren Führungs- und Verantwortungsebene innerhalb der Bundeswehr. Das hohe Maß der moralischen Sensibilisierung dieser Ebene wird auf eindrucksvolle Weise sichtbar. Die hier aufgeworfenen Fragen hätten es verdient, vergrundsätzlicht zu werden und in der allgemeinen friedensethischen Diskussion mehr Gehör zu finden.