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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

967–970

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian, u. Reiner Anselm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949–1989.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XI, 416 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 1. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-153630-4.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Dieser erste Band der neuen Verlagsreihe dokumentiert systematische Fragestellungen, fachspezifische Erkenntnisinteressen und erste Einsichten der von der DFG geförderten Forschergruppe »Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989«. Dieses ambitionierte Projekt will eine wichtige Forschungslücke schließen, denn in einschlägigen Darstellungen der »alten Bundesrepublik« wird die Prägekraft des Protestantismus zwar formelhaft beschworen, aber nicht eigens analysiert. Dieses Defizit ist anteilig in der Sache begründet, denn der Protestantismus ist »ein vielschichtiges, nur schwer zu fassendes Phänomen« (3). Mit ihrem Fokus verfolgt die interdisziplinäre Forschergruppe auch ein theologisches Ziel, nämlich das damals aufgebaute und bis in die Gegenwart wirksame Selbstverständnis des deutschen Protestantismus zu ermitteln.
Der Politikwissenschaftler Andreas Busch präsentiert für sein Teilprojekt »Politische Mitwirkung des Protestantismus« ein systemtheoretisch fundiertes Forschungsdesign, in dem das »Verhältnis zwischen einer Religionsgemeinschaft wie dem Protestantismus einerseits und einer Partei andererseits […] als Tauschbeziehung konzeptualisiert« (27) wird. Dieser Ansatz wird so umgesetzt, dass Details der Parteiorganisationen von CDU/CSU und SPD untersucht werden, um die Partizipationsformen von Protestanten am Leben der Partei zu ermitteln. Sodann werden »Kontakte zwischen Repräsentanten der Parteieliten und Vertretern des Protestantismus« (31) fokussiert. Der Ausblick avisiert einen internationalen Vergleich, der feststellen soll, ob mit Blick auf die protestantische Partizipation die alte Bundesrepublik »eher typisch ist oder eher ein Sonderfall« (34). Die ergiebige Fallstudie dazu von Stefan Fuchs zeigt, wie mit dem 1950 geschaffenen Amt des Bevollmächtigten des Rates der EKD aufgrund der Pionierarbeit des ersten Amtsinhabers Hermann Kunst eine sehr wirkungsvolle Form der politischen Einflussnahme etabliert wurde. Dagegen ist es dem Evangelischen Arbeitskreis in der CDU niemals gelungen, effektiv politischen Einfluss zu nehmen.
Das Teilprojekt des Staats- und Kirchenrechtlers Hans-Michael Heinig »Protestantische Vorstellungen demokratischer Rechtserzeugung« fußt auf der – inzwischen nicht mehr ganz zutreffenden – Diagnose einer »Marginalisierung demokratietheoretischer Forschung in der evangelischen Ethik« (41). Daher soll eine »gehaltvolle Annäherung an das Thema Rechtsbilder und Demokratiebilder im Protestantismus« (42) eine wichtige Lücke schließen. Gegenstand der Untersuchung sind vor allem theologische Grundlagenentwürfe, amtskirchliche Verlautbarungen sowie außerkirchliche protestantische Öffentlichkeiten. Thematisch stehen die Grundlagendebatten um das evangelische Kirchenrechtsverständnis und um das Widerstandsrecht im Fokus. Das Erkenntnisinteresse zielt auch auf einen Beitrag zu der vom Autor bis heute im kirchlich verfassten Protestantismus vermissten »Umstellung der politischen Theologie auf die Bedingungen der Pluralität und einer konsequenten Rezeption der politisch-philosophischen Grundlagen moderner Demokratietheorien« (51). In seiner hochspannenden Fallstudie weist Tobias Schieder auf, dass bei der juris-tischen Rehabilitierung des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Gutachten die protestantischen Ethiker Hans Iwand und Ernst Wolf eine wesentliche, aber keineswegs exklusive Rolle spielten, weil in den Urteilsbegründungen auch antike, katholische und kantische Vorstellungen eine Rolle spielten.
Eine notwendige Differenzierung in der florierenden Wohlfahrtsstaatsforschung verheißt das Teilprojekt der Historikerin Christiane Kuller »Der Protes-tantismus und die Debatten um den deutschen Sozialstaat« (53–64). Land- läufigen Einschätzungen zum Trotz kann die protestantische Sozialethik als prägender Faktor des bundesdeutschen Sozialstaates herausgearbeitet werden, wenn man sich nicht nur auf die formative Phase konzentriert, sondern die Entwicklung des Sozialstaats als einen offenen Prozess versteht, »der nicht nur die Modi der Ausweitung […], sondern auch dazu quer stehende Gestaltungsimpulse« kennt (55). So wird es möglich, sowohl die frühe, insbesondere von Otto Dibelius vertretene sozialstaatskritische Haltung der EKD zu würdigen als auch die »Veränderungsprozesse des sozialen Protestantismus« (57). Ein Zwischenergebnis besagt, dass die »Veränderungen im sozialstaatlichen Geschlechterleitbild« (63) von EKD und evangelischen Frauenverbänden ge­danklich angebahnt wurden, lange bevor das Leitbild der »Nur-Hausfrau« aus ökonomischen Gründen politisch aufgegeben und von der evangelischen Kirchenjuristin Elisabeth Schwarzhaupt in ihrem Amt als Bundesgesundheitsministerin politisch umgesetzt wurde.
»Der Protestantismus in den Debatten um gesellschaftliche Integration und nationale Identität« ist das Teilprojekt der Historikerin Claudia Lepp. Sie untersucht die verschlungenen Debatten in der bundesdeutschen Aufnahmegesellschaft, um nachzuvollziehen, ob, wann und ggf. wie sich protestantische Kräfte darin positioniert haben und darin zu »Agenda-Settern« (77) wurden. Dass sich in den Debatten über die Integration der sogenannten Ostvertriebenen ein »Wechsel von einem ›humanitär-diakonischen‹ zu einem ›advokatorisch-politischen‹ Engagement« (75) vollzog, zeichnet Felix Teuchert in seiner Fallstudie über die Evangelische Akademie Hermannsburg-Loccum nach. Während die dort angesiedelte Forschungsstelle und das Referat für Flüchtlingsfragen unter der Ägide der Volkswirtin Stella Seeberg und des Landesbischofs Hanns Lilje ihre Politik- und Kirchenberatung vor allem theologisch auslegten und die sozialpolitischen und materiellen Interessen der Vertriebenen marginalisierten, wurden gerade diese vom Pastor und SPD-Politiker Heinrich Albertz aufgegriffen, politisch operationalisiert und in seinen verschiedenen politischen Ämtern durchgesetzt.
»Protestantische Kommunikationsformen« untersucht der Praktische Theologe Christian Albrecht und geht davon aus, dass die ethischen Beiträge in den damaligen Debatten »niemals nur Plädoyers für die Gestaltung der Gesellschaft« waren, sondern »stets auch Voten einer kritischen Selbstaufklärung des zeitgenössischen Protestantismus über seine eigene Funktion in der modernen Gesellschaft« (82). Dies vollzieht sich in Netzwerken, Foren und unter Verwendung sehr unterschiedlicher Kommunikationsmedien wie Kirchentag, Rundfunk und Evangelischem Kirchenbautag, der einen »markanten Ausdruck öffentlicher Selbstinszenierung des Protestantismus« (91) darstellt. Hier wurde um das spezifisch protestantische Verhältnis von Glaube und Welt regelrecht gerungen. Bei dem Thema »Kirchenbau« spitzen sich die Fragen deshalb zu, weil Planung und Durchführung der Bauvorhaben die Beteiligung von Kirchengemeinden und Bürgern einschlossen, so dass diese Debatten über die Amtskirche hinausführten und Grundfragen nach Partizipation und Demokratisierung aufwarfen, die die sich zeitgleich vollziehende Annäherung von Protestantismus und Demokratie beflügelt haben dürften.
Mit der Methode der Netzwerkanalyse untersucht Sandra Hoppe Werk und Wirken des in der Weimarer Zeit in religiös-sozialistischen Kreisen geprägten Unternehmers, Kaufmanns und Ökonomen Friedrich Karrenberg. Nach dem Krieg bringt Karrenberg sein Anliegen, ökonomische Vernunft mit sozialtheologischer Verantwortung zu vermitteln, in von ihm rege geknüpften Netzwerken zur Geltung. Monumentaler Ausdruck dafür ist das »Evangelische Soziallexikon«, dessen Konzept und Inhalt indes die damaligen Spannungen reproduzieren. Gerade darin ist es ein gutes Beispiel für die Beantwortung der Frage, »was den bundesrepublikanischen Protestantismus und sein Engagement in ethischen Debatten antreibt. »Der Protestantismus kommuniziert nicht nur etwas […], sondern immer auch sich selbst.« (233) Dass er dabei bisweilen auch seine innere Zerrissenheit kommuniziert, macht Teresa Schall in ihrem Teilprojekt »Wirkungen und Rückwirkungen von Rundfunkkommentaren zum Kirchentag 1969 auf das mediale Bild des Protestantismus« deutlich. Die Auseinandersetzung mit den widerstreitenden Kommentaren zum Kirchentagsgeschehen führt zum Abschied vom Ideal einer objektiven Berichterstattung. Es galt nun, sich auf den Wandel vom klassischen Kirchenfunk als kirchlichem Verlautbarungsorgan hin zum kritischen Religionsjournalismus einzustellen und die Eigengesetzlichkeit medialer Kommunikation zu berücksichtigen. Dass die protestantischen Selbstverständigungsdiskurse ausgesprochen radikale Züge annehmen konnten, macht Philipp Stoltz am Beispiel von »Werner Simpfendörfers Konzeption des ›Baulichen Provisoriums‹ als Modell protestantischer Verantwortung in der Gesellschaft« deutlich. Hier verschrieb sich die Kirchenarchitektur gänzlich der Idee protestantischer Weltheiligung und brach radikal mit dem traditionalen Sakralbau. So verzichtete man bewusst auf einen gerichteten Raum und auf symbolische Formensprache einschließlich des Kreuzes. Damit verfolgte man »das Ziel, neue Freiräume für eine christliche Lebensführung zu schaffen, die sich ganz uneingeschränkt in der Welt entfalten.« (292 f.) Diese ethische Zuspitzung des protestantischen Selbstverständnisses stieß freilich auf innerkirchlichen Widerstand, so dass man die zunächst ausgegrenzten sakralen Symbole konzeptuell und architektonisch sukzessive zurückgewann.
Den Theorieteil für das Teilprojekt »Individualisierungsprozesse als Referenzpunkt theologisch-ethischer Theoriebildung« liefert der Ethiker Reiner Anselm. Er greift die Leitannahmen Ulrich Becks auf und bezieht sie auf ethische Entwürfe der Nachkriegszeit und arbeitet heraus, dass sich »ein Umschwung von normativer Ethik hin zu einer größeren Sensibilität für die konkrete Situation und die betroffenen Individuen feststellen« (100) lässt. Dies sei eine »Folge der Auseinandersetzung und Anpassung der evangelischen Ethiktheorien an die Individualisierungsschübe« (ebd.). Allerdings sei die Reintegration der Individuen in der Nachkriegszeit zuvörderst zu einer politischen Aufgabe geworden, mit einer auch für die Kirchen paradoxen Folge: »Die Zurückdrängung der Einflüsse der Gesellschaft auf das individuelle Leben ist nur um den Preis verstärkter Einflussnahme des Staates zu bekommen.« (103) Diese Politisierung des gesellschaftlichen Lebens erklärt das Spannungsfeld, in dem die Kirchen seither agieren und das ihnen viele Zerreißproben beschert hat. Auf dieser Basis zeigt Sarah Jäger in ihrem inhaltlich höchst aufschlussreichen Beitrag »Der Protestantismus vor Fragen von Sittlichkeit, Sexualität und Geschlecht«, welche Transformationen das evangelische Christentum durchlaufen hat. Stand in der Nachkriegszeit das ökumenisch abgestützte Bemühen um »Wiedergewinnung einer patriarchalisch geprägten Rollenverteilung in Ehe und Familie« (324) im Vordergrund, so kommt es sukzessive zu einer Liberalisierung. Die EKD-Denkschrift von 1971 dokumentiert »deutliche Veränderungen in der Konstruktion […] von Weiblichkeiten und Männlichkeiten. Zunehmend wächst die Einsicht darin, dass menschliche Lebensrealitäten und Geschlechterbeziehungen vielfältiger sind als nur auf die (heterosexuelle) Ehe konzentriert. Eine ›Pluralisierung von Lebensformen‹ wird wahr- und ernstgenommen.« (326)
Dass die damit verknüpfte Individualisierung der Lebensführung eher eine Nebenfolge kirchlichen Handelns ist, denn wirklich angestrebt wurde, macht Hendrik Meyer-Magister in seinem Projekt »Das Engagement des Protestantismus für die Kriegsdienstverweigerung in den 1950er Jahren« deutlich. Das Ringen um die Kriegsdienstverweigerung führt die EKD bis an den Rand der Spaltung. Aber keine der konfligierenden Seiten konzediert dem Einzelnen eine autonome Entscheidung, die vielmehr kirchlich vorzuformatieren ist. Der Kompromiss der sechsten Heidelberger These von 1958 konnte zwar den institutionellen Zusammenhalt der EKD sichern. Sein Inhalt aber, nämlich die Komplementarität von Wehr- und Ersatzdienst mit Blick auf den Frieden, entließ »das christliche Individuum in eine größere ethische Entscheidungsautonomie […], als es ihm noch in der ersten Hälfte der 1950er Jahren von beiden kirchlichen Lagern zugesprochen worden war« (364). Damit trug der Protes-tantismus zum Individualisierungsschub bei, »indem er in der Frage nach der Kriegsdienstverweigerung nun plakativ für die Autonomie der Gewissensentscheidung des Wehrpflichtigen eintrat« (365).
Der Systematische Theologe Martin Laube skizziert in »Die bundesrepublikanische Gesellschaft im Spiegel der theologischen Ethik« die Umrisse seines gleichnamigen Teilprojektes. Auch hier geht es darum, die ethischen Debatten der alten Bundesrepublik als Moment der implizit-reflexiven Gegenwartsdeutung und Selbstverständigung zu verstehen, mit der man sich auf die völlig veränderte Lage nach Ende des Weltkriegs einstellt. Dieses Bemühen eint die theologischen Lager über die theologischen Differenzen hinweg. In seiner Fallstudie zum evangelischen Staatsverständnis in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre zeigt Georg Kalinna exemplarisch am konservativen Lutheraner Helmut Thielicke und am Barthianer Ernst Wolf, dass und wie »beide Seiten intensiv darum gerungen haben, die eigene Tradition für die gegenwärtige Situation fruchtbar zu machen. Beide zeugen davon, dass geteilte Erfahrungen entscheidend die jeweilige Theoriebildung beeinflusst und teilweise weitreichende Revisionen der Tradition zur Folge hatten.« (382)
Im Ausblick zeichnen die Herausgeber erste Umrisse des bundesdeutschen Nachkriegsprotestantismus. Es handelt sich um eine eigene Epoche, in der der Protestantismus als ein »Ensemble individueller Akteure greifbar« (387) wird, die sich als in Gesellschaft und Politik engagierte Zeitgenossen verstehen, dabei aber – wen auch sehr unterschiedlich – kirchlich-organisatorisch angebunden sind. Die durch die Nachkriegsordnung gestellten Herausforderungen wurden frühzeitig angenommen und als Aufgabe zum »inneren Umbau des Protestantismus« (389) verstanden. Drei Theorietypen protestantischer Ethik werden ermittelt, nämlich der kirchliche, der politische und der von der Autonomie des Einzelnen ausgehende Typus. Alle drei konkurrierten in den damaligen Debatten miteinander. In der rückblickenden Gesamtschau ergibt sich, gewissermaßen als Nebenwirkung, dass sie einander wirkungsvoll ergänzten.
Dieses Forschungsprojekt dürfte zu den innovativsten theologischen Projekten der letzten Jahre gehören. Der erzielte Erkenntnisgewinn ist schon jetzt immens. Das Projekt lässt für die Zukunft viele weitere Einsichten erwarten, zumal noch nicht Forschungsfragen gestellt und methodische Methoden angewendet wurden. Auch der selbstreferentielle Aspekt hat sich bereits eindrucksvoll bewährt und eine alte Einsicht bestätigt. Denn für den Protestantismus ist seit Schleiermachers Theologiebegriff Interdisziplinarität kein forschungspolitisches Oktroi, sondern Ausdruck seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses.