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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

964–966

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Teichmüller, Gustav

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie. Vorlesung über Philosophie des Christentums. Hrsg. v. H. Schwenke.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2015. 707 S. = Gustav Teichmüller: Gesammelte Schriften, 2. Lw. EUR 260,00. ISBN 978-3-7965-3244-3.

Rezensent:

Johannes Soukup

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Teichmüller, Gustav: Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik. Hrsg. v. H. Schwenke. Basel: Schwabe Verlag 2015. 465 S. = Gustav Teichmüller: Gesammelte Schriften, 1. Lw. EUR 170,00. ISBN 978-3-7965-3243-6.
Teichmüller, Gustav: Neue Grundlegung der Psychologie und Logik. Hrsg. v. H. Schwenke. Basel: Schwabe Verlag 2015. 429 S. = Gustav Teichmüller: Gesammelte Schriften, 3. Lw. EUR 160,00. ISBN 978-3-7965-3245-0.


Gustav Teichmüller lebte von 1832 bis 1888, bekleidete für gut zwei Jahre als Nachfolger Wilhelm Diltheys eine ordentliche Professur in Basel und ging dann leider – durch finanzielle Notstände ge­zwungen – an die deutsche Universität nach Dorpat in Estland. »Leider«, weil dieser Wechsel an die Peripherie der deutschsprachigen Philosophie ihn nicht nur nicht glücklich machte, sondern zudem einen wesentlichen Grund für seinen Status als »vergessener Philosoph« darstellt. Ein zweiter besteht darin, dass er sich mit dem damals sehr einflussreichen Eduard Zeller überwarf. T. wehrte sich insbesondere gegen dessen unbedingte Kopplung des christlichen Glaubens an die Begrifflichkeit der griechischen Philosophie. Das ist ein erster von überraschend vielen Aspekten, die auf die Bedeutung des zwar »vergessenen«, aber überraschend aktuellen Philosophen für die gegenwärtige Theologie und Philosophie hindeuten. Ein dritter wichtiger Grund besteht schließlich darin, dass T. weithin als Freund und Geistesverwandter von Rudolf Hermann Lotze wahrgenommen wurde (und wird), so dass kaum um­werfend neue Geistesblitze von ihm erwartet werden. »Freund« ist richtig; über prinzipielle philosophische Vorstellungen Lotzes – etwa dessen Substanzbegriff – war T. jedoch geradezu schockiert.
Die drei bereits vorliegenden Bände sollen – zumindest durch zwei weitere – ergänzt werden. Vorerst sind nur die letzten (nahezu) vollständigen Werke herausgegeben, in denen T. seine Philosophie und Theologie systematisch entfaltet. Damit hat er leider sehr spät begonnen; zu spät, um seinem neuen Ansatz eine abschließende Form geben zu können.
Der Herausgeber, Heiner Schwenke, kommentiert nicht nur je­den Band und die darin enthaltenen Arbeiten in einer gut verständlichen Sprache, sondern stellt auch sehr hilfreich das Wesentliche in den Mittelpunkt und findet häufig richtungsweisende Zu­sam­menhänge mit der gegenwärtigen Diskussion. Dass es sich bei T.s Philosophie und (daraus folgender) Theologie um einen tatsächlich neuen Ansatz handelt, kommt insbesondere in den Überschriften der beiden Teile zum Ausdruck, die der dritte Band enthält: »Neue Grundlegung der Psychologie« sowie »Neue Grundlegung der Logik«.
T. beginnt seine systematischen Arbeiten so spät, um sich sicher sein zu können, wirklich etwas Neues zu sagen zu haben: Er be­schäftigt sich fast sein gesamtes Leben nicht nur mit der Philosophie- und Begriffsgeschichte, zu denen er auch zahlreiche wertvolle Veröffentlichungen schreibt, sondern studiert auch sehr ernsthaft viele Nachbardisziplinen. T. war ein Genie – in der Breite und in der Tiefe der Überlegung –, und wir sollten es uns heute nicht länger erlauben, ihn zu vergessen.
Der erste Band enthält T.s systematische Philosophie; seine Ontologie unter der Überschrift »Die wirkliche Welt« und seine Phänomenologie als »Die scheinbare Welt«. Der zweite Band ist der Religionsphilosophie von T. gewidmet. Er unterscheidet darin projektivische, pantheistische und personalistische Religionen. In letzterem Fall ist der Plural aber fehl am Platze: Das Christentum ist für T. die einzige (ihm bekannte) personalistische Religion. Zu ihrer Darstellung kommt er nicht mehr; im Band sind als Ersatz T.s »Vorlesungen über die Philosophie des Christentums« hinzugefügt, die die Grundlage für seine Ausarbeitung der »personalistischen Religion« bilden sollten. Ihr zufolge hat »eine Mutter, die ihr Kind an’s Herz drückt, unbewusst eine höhere Metaphysik« als die »größten Idealisten«, die die Wirklichkeit irgendwie begrifflich konstruieren (wollen); sie ist von der »personalen Wirklichkeit« ihres Kindes überzeugt.
Die projektivischen Religionen lehren den Glauben an einen Gott, der sich wie eine objektive Realität angeblich außerhalb unseres Bewusstseins befindet – und über den man demzufolge alles behaupten kann, ohne eine Falsifizierung befürchten zu müssen – oder eine Verifizierung erwarten zu können. Weil sich (viel zu viele) projektivische Elemente auch im Christentum befinden, wird es mit Recht von der (Feuerbach’schen) Religionskritik ebenfalls ge­troffen. Aber sie verbleibt natürlich selbst zumeist auf einem bloß projektivischen Niveau; und dieses gilt es, laut T., heute zu überwinden. Beispielsweise »macht es keinen Unterschied« (Gre-gory Bateson), ob ein Gott außerhalb unseres Bewusstseins zwei-, drei- oder vierfältig ist; entscheidend – weil sinntragend – ist allein, welche Konsequenzen Gottes Zwei-, Drei- bzw. Vierfaltigkeit innerhalb unseres Bewusstseins besitzt. Welche unserer Erfahrungen sind nur mit einem dreifaltigen Gott vereinbar? Gibt es keine, macht unser Glaube an die Dreifaltigkeit keinen Unterschied – und gehört zu den projektivischen Religionen.
In den pantheistischen Religionen muss Gott bereits nicht mehr in eine sinnleere »Transzendenz« projiziert werden, weil er sich in der eigenen Seele befindet bzw. mehr oder weniger mit ihr zusammenfällt. Aber diese »eigene Seele« ist eben noch nicht die individuelle Seele einer selbstbewussten Person, sondern sie wird als ausgebreitet in die gesamte Natur erfahren; deus sive natura. Im Gegensatz zu den projektivischen Religionen sind die pantheis-tischen nicht nur verständlich; vielmehr lässt sich der Weg, der von ihnen zum Christentum führen kann, als der Initiationsweg der personalen Bewusstwerdung sogar sehr gut nachvollziehen.
Kommen wir nochmals auf den grund-legenden ersten Band zurück: Worin besteht das soeben bereits angedeutete philoso-phische Anliegen T.s im Kern? – Zumindest nach Sokrates wird die abendländische Philosophie von der Abbildtheorie mit der zugehörigen Adäquationstheorie der Wahrheit beherrscht. Ihnen zufolge existieren Urbilder außerhalb unseres Bewusstseins, die möglichst adäquat von bzw. in letzterem abgebildet werden sollten; Wahrheit entspricht der erreichten Übereinstimmung.
In der griechischen Antike bildeten die Urbilder – als Ideen oder Substanzen – den Kosmos, und die Philosophen waren die zuständigen Fachleute. Ihre Funktion übernahmen in der christlichen Antike und im Mittelalter die Theologen, nachdem die Urbilder zu den Schöpfungsgedanken Gottes geworden waren. Dieser Wechsel der Profession wiederholte sich mit der Neuzeit noch einmal; die Naturwissenschaftler – insbesondere die (theoretischen) Physiker – verstehen natürlich am besten, was materielle oder natürliche Ur­bilder sind.
Natürlich gab es immer wieder Philosophen – und gewiss auch andere Denker –, die sich des Nonsens eines solchen Weltbilds deutlich bewusst waren: Wie sollen wir die Übereinstimmung eines »Abbilds« mit einem prinzipiell unerreichbaren Urbild – die Wahrheit also – feststellen, ohne Gott zu sein? Welchen Sinn hat es dann überhaupt noch, von Abbildern zu sprechen? Und wenn wir – anders gedacht – das Urbild selbst erreichen können, wozu sollten wir es dann überhaupt noch abbilden? Das Resultat derartiger Skepsis war häufig, dass unser Verständnis der Wahrheit als Übereinstimmung von Ur- und Abbild – etwa in einer Kohärenztheorie– aufgegeben, aber die Abbildtheorie trotzdem beibehalten wurde. Das ist dermaßen inkonsequent, dass es nur zu absurden Resultaten führen kann. Und die haben wir heute mit unserem »Verlust der Wirklichkeit«, der zwischen begrifflichen Pseudokonstruktionen und dem »Radikalen Konstruktivismus« pendelt, tatsächlich vorliegen: Wenn die Urbilder – als außerhalb unseres Be­wusstseins befindlich – prinzipiell unerreichbar sind, können wir nicht sinnvoll über sie sprechen; mögen sie nun existieren oder nicht. Aber selbst das sind sinnleere Worte, weil wir nicht einmal wissen (können), was »existieren« außerhalb unseres Bewusstseins bedeuten soll.
Solange wir also zwar die Adäquations-, aber nicht auch die Ab­bildtheorie aufgeben, haben wir immer nur Abbilder in unserem Bewusstsein vorliegen. Die einzige Realität, die einzige Wirklichkeit beispielsweise unserer Eltern, über die wir sinnvoll sprechen können, ist ihre Präsenz als Abbild in unserem Bewusstsein. Diese Eltern können uns schwerlich gezeugt haben; aber woher sollten wir andere nehmen?
Das ist ein zweiter Punkt, an dem die Aktualität T.s für die gegenwärtige philosophische und (hoffentlich auch bald) theologische Diskussion überdeutlich wird. Wir benötigen einen »Neuen Realismus« (Jocelyn Benoist, Markus Gabriel, Graham Harmann, Quentin Meillassoux …) ohne objektive Realität. Er ist – und darin lässt sich T. wohl schwerlich widersprechen – nur möglich, wenn wir nach der Adäquations- endlich auch die Abbildtheorie hinter uns lassen. Dann finden wir vielleicht auch unsere Eltern in der Wirklichkeit des von T. angestrebten »Personalismus« wieder. Er versucht die Wirklichkeit – insbesondere der Personen – denken zu können, indem er deutlich zwischen Bewusstsein und Erkenntnis unterscheidet.
Nur Letztere ist intentional. Ich besitze beispielsweise Wissen von einem Asteroiden; aber weder ich noch der Asteroid sind dieses Wissen. Besteht es jedoch unter anderem darin, dass der Asteroid auf die Erde zurast, kann mir dieses Wissen aber sehr wohl nahegehen oder mich betreffen und somit eine Subjektivität als »mir oder mich« (Michel Henry, Hermann Schmitz) bewirken. Das Bewusstsein ist nicht-intentional, entspricht als Fühlen oder Empfinden Wittgensteins Gewissheit, die vor aller irrtumsfähi-gen Erkenntnis mit ihrer notwendigen Subjekt-Objekt-Spaltung kommt, und ist primär, das heißt insbesondere, auch ohne Er­kenntnis möglich. In einem solchen Bewusstsein wird die Person als eine sich selbst zum Selbst bestimmende Subjektivität denkbar. »Kein Gott kann ein Selbst schaffen; ein Selbst ist nur in dem Maße mit sich identisch, in dem es sich selbst bestimmt« (Johannes Soukup). Möglich wird dies, T. zufolge, freilich erst durch das Schöpfungshandeln Gottes, das für alle hinreichenden Voraussetzungen steht.