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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

959–961

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kelm, Holden

Titel/Untertitel:

Hegel und Foucault. Die Geschichtlichkeit des Wissens als Entwicklung und Transformation.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VIII, 455 S. = Hegel-Jahrbuch, Sonderbd. 5. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-040092-2.

Rezensent:

Wolfgang Lefèvre

Wie der Untertitel des zu besprechenden Buchs ankündigt, ist das tertium comparationis, an dem Holden Kelm seine vergleichende Untersuchung zentraler Momente der philosophischen Theorien G. W. F. Hegels und Michel Foucaults durchführt, die Geschichtlichkeit des Wissens. Diese stellte in der Tat für beide Denker gleichermaßen eine philosophische Herausforderung dar, jedoch nicht in gleicher Weise. Vielmehr verhält sich das Problem, das Foucault hier sah, geradezu konträr zu dem, das Hegel beschäftigte.
Hegel beschäftigte die Frage, wie die Geschichtlichkeit des Wissens, zumal des philosophischen Wissens, mit dessen Anspruch auf universelle Wahrheit zu vereinbaren ist. Für ihn galt es, einen Entwicklungsmodus des Wissens zu finden, der es nicht dem Relativismus preisgibt. Er sah die Lösung des Problems in der bekannten Entwicklungsfigur »An-sich/Für-sich/An-und-Für-sich«. Diese am Mo­dell der epigenetisch verstandenen Ontogenese von Lebewesen ori­entierte Figur versteht die geschichtlichen Gestalten des Wissens als notwendige Entwicklungsstadien, durch die hindurch sich das Wissen aufgrund einer inneren Bewegung zu seiner vollendeten Gestalt entfaltet (dem »absoluten Wissen« bzw. dem »absoluten Geist«).
Demgegenüber ging es Foucault gerade darum, die Unterstellung eines solchen Identischen, das in oder »hinter« den geschichtlichen Gestalten des Wissens wirksam sei, prinzipiell zu hinterfragen. Foucault sah eine solche Unterstellung nicht nur in philosophischen Systemen wie dem Hegel’schen am Werk, sondern ebenso in elementaren und scheinbar harmlosen Begriffen der Philosophie-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte – Begriffen wie »Tradition«, »Einfluss«, »Werk«, »Autor« u. a. m.
Das Geschichtsverständnis der »Annales-Schule« (Marc Bloch, Lucien Febvre, Jacques Le Goff u. a.) bildete bekanntlich ebenso einen Hintergrund dieser Kritik Foucaults wie die »Historische Epistemologie« einer Gruppe französischer Wissenschaftshistoriker (Gaston Bachelard, Georges Canguilhem u. a.). Foucault entwickelte seine Position aber auch in der Auseinandersetzung mit der französischen Hegel-Rezeption der 1930er und -40er Jahre (Jean Wahl, Alexandre Kojève, Jean Hyppolite u. a.), in der Hegels Phänomenologie des Geistes (PhdG) im Mittelpunkt stand. Es ist also keineswegs arbiträr, Hegel und Foucault hinsichtlich der Geschichtlichkeit des Wissens zu konfrontieren, bezieht sich doch Letzterer in seinen Bemühungen um eine »Archäologie« des Wissens unverkennbar, wenn auch vorwiegend negativ, auf Ersteren. Eine genauere Untersuchung dieser Beziehung ist angesichts der kontroversen Ansichten, die dazu in der Literatur geäußert wurden, durchaus der Mühe wert.
Nach der Einleitung (Teil I), die u. a. dem Forschungsstand zum Thema gewidmet ist, geht K. zunächst (in Teil II) den »ideengeschichtlichen Konstellationen« nach, in denen sich für Hegel und Foucault das Problem der Historizität des Wissens darstellte. Was Hegel angeht, so sieht K. in Kants »Archäologie des Wissens«, obwohl oder vielleicht gerade weil Kant diese Idee so unentfaltet ließ wie die einer »philosophischen Philosophiegeschichte«, den entscheidenden Ausgangspunkt, der dann vom jungen Schelling und insbesondere von Friedrich Schlegel weiterverfolgt wurde. Im Hinblick auf Foucault wendet sich K. zunächst der Kojève’schen Lektüre der PhdG zu, um dann die Hegel’sche »Dialektik von Zeitlichem und Nicht-Zeitlichem« zu erörtern, wie sie Foucaults philosophischer Lehrer Jean Hyppolite interpretierte. Abschließend kommt mit Georges Canguilhem der wissenschaftsgeschichtliche Diskurs zur Sprache, der für Foucaults eigene wissenschaftshistorische Arbeiten entscheidend war. Dieser Teil ist sehr kenntnisreich und urteilssicher geschrieben und bietet dem nicht-spezialisierten Leser einen informativen Überblick über den ideengeschichtlichen Hintergrund der beiden Positionen.
Es folgen zwei Teile (III und IV), in denen diese Positionen detailliert dargestellt werden, um sie vergleichen zu können. Zu diesem Zweck sind die beiden Teile hinsichtlich wesentlicher Fragestellungen – »Programm und Struktur«/»Begriff des Wissens«/»Methode und Entwicklungstheorie«/»Probleme und Ausblick« – gleich gegliedert, was sich für die Orientierung des Lesers, insbesondere auch für das Vor- und Zurückblättern, als eine glückliche Idee erweist.
In dem Hegel gewidmeten Teil III konzentriert sich K. auf Hegels Konzeption der Entwicklung des Geistes, wie er sie in der PhdG dargestellt hat. Dies ist hinsichtlich der französischen Hegel-Rezeption der 1930er und -40er Jahre naheliegend, da diese wie gesagt auf die PhdG fixiert war. (Eine Diskussion der Historizitätsproblematik, wie sie sich in Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie abzeichnet, unternimmt K. im Teil V.1.5.) Die Diskussion der Konzeption der Entwicklung des Geistes in der PhdG ist ausgezeichnet und trägt den vielen Problemen, vor die dieses Werk die Forschung nach wie vor stellt, gebührend Rechnung.
Das Gleiche gilt für die Diskussion der Position Foucaults (Teil IV), die nicht nur auf dessen Die Ordnung der Dinge (OdD) und Archäologie des Wissens (AdW) eingeht, sondern auch viele kleine Texte, Vorträge und Interview-Äußerungen heranzieht. Im Zentrum der Diskussion stehen Foucaults Kritik der traditionellen Ideengeschichte und sein Diskursbegriff, was K. mit der notorischen Schwierigkeit konfrontiert, dass Foucaults tiefgründige Kritik der stillschweigenden Voraussetzungen der ideengeschichtlichen Me­thode relativ eindeutig zu fassen ist, nicht dagegen seine immer wieder erneut ansetzenden Versuche, den Diskursbegriff zu entfalten und in ihm eine alternative Methodologie für eine »Archäologie der Humanwissenschaften«. Begrüßenswerterweise widersteht K. der Versuchung, diese alternative Methodologie konsistenter darzustellen, als sie Foucault hinterlassen hat, und damit den offenen und selbstkritischen Charakter zu verfehlen, der das Philosophieren Foucaults auszeichnet.
In Teil V stellt K. exemplarisch Hegels konkrete Rekonstruktion der Entfaltung der Gestalten des erscheinenden Geistes (PhdG: Vernunft/Geist/Religion/Absolutes Wissen) konkreten wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktionen Foucaults gegenüber (sowohl aus OdD wie aus Wahnsinn und Gesellschaft und Die Geburt der Klinik), und zwar nicht in der Absicht, noch einmal die prinzipielle Differenz der beiden Konzeptionen zu verdeutlichen, sondern um im Gegenteil partielle Übereinstimmungen und implizite Ge­meinsamkeiten aufzuspüren.
Damit ist weiteres Material bereitgestellt, um schließlich in Teil VI die beiden Konzeptionen der Geschichtlichkeit des Wissens in ihrem prinzipiellen Gegensatz sowie in ihren expliziten und impliziten Übereinstimmungen vergleichend zu beurteilen. In­wiefern die Identifizierung impliziter Konvergenzen im Einzelnen überzeugt, kann hier offen gelassen werden; und ebenso, ob sich die beiden Konzeptionen in einer, wie es K. zu sehen scheint, komplementären Weise den verschiedenen Spielarten einer sub jektzentrierte Geistesgeschichtsschreibung kritisch entgegenstellen.
Kein Zweifel kann aber darüber bestehen, dass K. hier eine weit ausgreifende, gründliche und luzide argumentierende Untersuchung vorgelegt hat, auf die sich beziehen muss, wer immer in der Zukunft über das Verhältnis Hegel – Foucault arbeiten wird.