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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

957–959

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg

Titel/Untertitel:

Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. IX, 422 S. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-153329-7.

Rezensent:

Torsten Meireis

Der systematische Theologe Jörg Dierken, der bisher vor allem durch religionsphilosophische und -theoretische Studien hervorgetreten ist, hat mit »Ganzheit und Kontrafaktizität« einen Band gesammelter Aufsätze vorgelegt, die es unternehmen, die soziale Dimension der christlichen Religiosität zu erhellen, und dazu fundamental- und kulturtheologische, religionstheoretische und (fundamental-)ethische Arbeiten zusammengestellt.
Einleitend werden – in einem eigens für den Band verfassten Beitrag – zunächst diejenigen Auffassungen präsentiert, die für den Band leitend sind (1–19). Dass christliche Religion auch in subjek-tivitätstheoretischer, auf transzendenzbezogene Performanz (10) abhebender Perspektive nicht ohne Sozialität zu denken ist (2), dass sie in der Spannung von partikularer Prägung und ganzheitlichem Zugriff sowie von Faktizität und Kontrafaktizität steht und als anthropologisches Phänomen verstanden werden sollte, wird im Kontext dessen erläutert, was D. als Hybridität und Dialektik der Religion versteht (3–9): den Ausgriff der Religion auf Lebensgebiete jenseits der Frömmigkeit im engeren Sinn und die kritische Distanz einer als Teil der Kultur wie der Gesellschaft verstandenen Religion zu beiden Entitäten – und damit auch zu sich selbst. Die Unterscheidung von Religion und Theologie wird so aufgegriffen, dass der Praxis der Religion ein Geltungsprimat zugewiesen wird, der sie als privilegierten Ort theologischer Reflexion auszeichnet (13–14). Die Bedeutung der Religion als eigene Sphäre im Kontext einer funktional differenzierten Gesellschaft besteht D. zufolge daher gerade in der Kommunikation von Ganzheits- und Kontrafaktizitätsbewusstsein (14), als dessen Chiffre der monotheistische Gottesgedanke in den Blick tritt (16). Es entspricht dieser Bewusstseinsgestalt von Religion, die je eigene Kontingenz nicht nur zu reflektieren, sondern in Gestalt der Glaubensfreiheit ausdrücklich zu affirmieren (17 f.) und durch die Figur der Offenbarung des Göttlichen im – stets endlichen – Menschlichen mit der Rationalität des Göttlichen zu vermitteln.
Diese Grundeinsichten sucht D. durch die Aufsätze des Bandes zu entfalten, die er zu diesem Zweck in drei Rubriken gegliedert hat. Ein erster, als Grundlegung betitelter Abschnitt hat es mit dem Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität zu tun. Dazu bringt D. religionsphilosophische und theologische Überlegungen anhand der Theorien Schleiermachers und Rendtorffs mit den religionssoziologischen Bergers, Luckmanns und Luhmanns in Verbindung, wobei er sowohl deterministische Säkularisierungstheorien als auch vereinnahmende Konzepte von Religion als an­thropologisches Grunddatum zu vermeiden sucht und für eine institutionelle Bestandskultur des konfessorisch Religiösen eintritt, die eine auf ihre Grenzen reflektierende Konfessionalität mit Übersetzungsbemühungen gegenüber Konfessionslosen verbindet und damit letztlich religiös-weltanschauliche Bildung und Urteilskraft auf allen Seiten ermöglicht (23–42). Er erwägt die bleibende Bedeutung der transzendentaltheoretischen Religionsbegründungen, die er vor allem in der Rekonstruktion religiöser Vernunft sieht (43–54), sucht am Verhältnis der Theorien Webers und Troeltschs die Interrelation von Religionswissenschaft und Theologie religionsphilosophisch zu klären (55–78) und die Begriffe von Kommunikation (98–116) und Intersubjektivität (79–97) zu erläutern.
Ein zweiter Teil, ›Reflexivität in Sozialität‹, widmet sich der als genitivus subjectivus wie objectivus zu verstehenden Reflexion der Religion im sozialen Kontext, wobei ›sozial‹ hier in einem weiten Sinn zu verstehen ist: Die Beiträge reichen von einer erfahrungstheologischen Rekonstruktion der Dogmatik (133–157) über die Behandlung der anhand der Übersetzbarkeit religiöser in säkulare Gehalte thematisierten Frage nach der Selbständigkeit der Reli-gion, die D. in den Funktionen kultureller Selbstdistanzierung (167) und der Individuumsstärkung (171) sieht (158–172), von der Beleuchtung des Sündenbewusstseins, das D. als Thematisierung der Negativität im Selbstverhältnis und damit Beitrag zur Aufklärung über Subjektivität, die Bedeutung des Kontrafaktischen und zur Bannung des Moralismus (189) versteht (173–189), über die Erörterung der Bedeutung von Individualität (190–203) bis hin zur immer wiederkehrenden Reflexion des Verhältnisses von Religion und Vernunft, die im Dialog mit Blumenberg, Cohen (204–218), Habermas, Ratzinger (260–273) und Wagner sowie den (deutschsprachigen) Meisterdenkern des 19. und frühen 20. Jh.s, Hegel, Schleiermacher, Weber, Troeltsch, Tillich, Heidegger oder Löwith varianten- und kenntnisreich an Themen wie Säkularisierung (219–238), Übersetzung oder Selbsterhaltung (239–259) durchgespielt wird.
Ein dritter Abschnitt schließlich sucht ethische Perspektiven unter dem – etwas gewollt anmutenden – Titel der »Sozialität in Reflexivität« zu präsentieren. Dazu präsentiert D. eine kategoriale Kritik der von ihm unter dem Stichwort Politischer Theologie zusammengefassten Positionen – untersucht werden Voegelin, Schmitt, Hirsch, Tillich sowie Moltmann und Metz –, die er auf den gemeinsamen Nenner des Interesses an einer faktischen Potenzierung politischer Macht bringt (283.306 f.) und einer zweigliedrigen, jeweils kontrafaktisch zu unterstellenden ›Ordnung aus dem Selbst‹ gegenüberstellt, die als Autonomie und kommunikativ vermittelte Symbolisierung von Subjektivität und Intersubjektivität etwa im trinitarischen Gottesbegriff die zwei Reiche und Regimente (und nicht etwa Regimenter, vgl. 283.334.359 u. ö.) differenziert und verbindet (277–317). Weiterhin beschreibt er Identität und Differenz der Staatstheorien Schleiermachers und Hegels (318–332), bietet einen allgemeinen Überblick über seine Perspektive auf das Verhältnis von Recht und Religion sowie die Bedeutung des Reli-gionsrechts, des Kirchenrechts und des Rechtsbegriffs im Kontext der Gottesvorstellung (333–346), un­tersucht den Toleranzbegriff, wobei es ihm auf die Wahrnehmung von Alterität unter Ausschluss von Selbstaufgabe wie Vereinnahmung des Anderen ankommt (347–363), und sucht zu einer Entdämonisierung des Technikbegriffs beizutragen, indem er seine Einbettung im Kulturkonzept einschärft (364–377), und beschäftigt sich mit der theologischen Deutung diakonischer Unternehmen (378–396) sowie des Alterns (397–414).
Elementar formuliert, zielt D.s Werk auf den Aufweis, dass Religion nicht nur fromme Innerlichkeit (19), sondern auch Perspektivierungen und Strukturimpulse des Sozialen impliziert. Seine Stärke liegt in der subtilen, subjekttheoretisch instrumentierten Entfaltung des religionsbezogenen Ineinanders von Subjektivität und Intersubjektivität sowie der Wechselbeziehungen von individualitätszentrierter Religion und Sozialität unter Wahrung von Differenzen und Interdependenzen, die ohne den Hang zur ausschließenden Kompartementalisierung auskommt, der den innertheologischen Differenzbestimmungen der Zweiregimentenlehre, aber auch den außertheologischen Unterscheidungen von Glauben und Wissen oder Religion und Gesellschaft so oft anhaftet. Der Schwerpunkt liegt dabei in präzisen und klugen religionsphilosophischen Erwägungen, deren Entdeckungs- und Referenzzusammenhänge – trotz Ausflügen zu Blumenberg und in die Habermas-Ratzinger-Debatte – vorrangig in den deutschsprachigen Diskursen des 19. und frühen 20. Jh.s situiert sind. Auch die über die Philosophie hinausgehenden interdisziplinären Erwägungen speisen sich in der Regel aus diesen Kontexten, in denen etwa Weber und Troeltsch besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird – stark sind dabei vor allem die theoriehistorischen und begrifflichen Überlegungen, die den Aufweis dafür bieten, dass der religiösen Würdigung der Vernunft eine vernünftige Darstellung der Religion entsprechen muss.