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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

954–957

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Michael Murrmann-Kahl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VIII, 293 S. = Dogmatik in der Moderne, 13. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-154038-7.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Soll der Gottesgedanke die Selbstentfaltung des Absoluten sein, entsteht ein ernsthaftes Problem: Wie kann das Absolute auch gedanklich als absolut gelten, wenn zugleich klar ist, dass noch der reinste Gedanke ein menschlicher Gedanke bleibt? Nimmt man die Vorstellung hinzu, dass jene Selbstexplikation am Ort des Andersseins – d. h. zunächst nur: an einem anderen Ort – sich vollziehe, wird das skizzierte Problem noch virulenter: Ist der Gottesgedanke – und damit Gott selbst – noch wahrhaft souverän, wenn der Sitz seines Lebens jenen anderen Ort bereits ontologisch voraussetzt und an dessen Struktur modal gebunden bleibt?
Es waren genau diese Fragen, welche Falk Wagner (1939–1998) zu beantworten versuchte. Bekanntlich sah er seine frühe Theorie des Absoluten, die die erforderlichen Letztbegründungsleistungen er­bringen sollte, schließlich als gescheitert an, während die spätere Hinwendung zu einer Praxis reziproker Anerkennungsverhältnisse als Reaktion auf dieses Scheitern wohl vom frühen Wagner mit genau jener Kritik überzogen worden wäre, die sich seine theologischen Gegner haben immer wieder gefallen lassen müssen. Was er zur Dialektischen und Hermeneutischen Theologie, zu Barth, aber auch über andere Interpreten des ihm zur gedanklichen Heimat gewordenen Deutschen Idealismus (etwa zu M. Theunissen) hat sagen können, waren keine Kritiken mehr – es waren, wie M. Murrmann-Kahl zu Recht feststellt, regelrechte und also unrechte »Hinrichtungen« (71). Wer es hermeneutisch mit dem ius talionis hält, sähe sich mit besten Argumenten ausgestattet, Wagners Werk als theologische ›Geisterfahrt‹ abzutun; denn weder hat die Theorie des Absoluten in ihrer von Wagner vorgelegten Form wirkliche Nachahmer gefunden, noch konnte die anerkennungspraktische Schwundstufe des Religiösen dogmatisch auch nur annähernd überzeugen. Dass Wagner sich allerdings auf die überaus unglückliche Alternative zwischen Hybridspekulation und soziologischen Reduktionismen einließ, hinderte ihn daran, das theologische Gelände zwischen diesen Extremen von Substanz und Anerkennung sorgsam zu sondieren (so treffend Danz, 143).
An die Stelle einer vernichtenden Kritik tritt im hier anzuzeigenden und von Christian Danz sowie Michael Murrmann-Kahl bestens edierten Band ein wirkliches Bemühen, Wagners Werk umsichtig und wohlwollend (wieder) zu lesen. Zurückgehend auf ein Forschungssymposion, das im Sommer 2014 in Wien stattgefunden hat, wird in drei Abschnitten – Einordnung, Werkdeutung und (etwas vage) »Konstellationen« – Wagners Werk einer Relektüre unterzogen. Um einen Eindruck von diesem interpretatorisch umsichtigen, exegetisch geradezu geduldigen Band zu vermitteln, möchte ich die insgesamt zwölf Beiträge allerdings unter fünf Aspekten gruppieren.
Zunächst bietet der Band Aufsätze, die Wagners spannungsreiches Œuvre in den Kontext der jüngeren Theologie- und Philosophiegeschichte stellen. In einem vorlesungsähnlichen Beitrag re­kapituliert Jan Rohls die Hauptstationen der deutschen Nachkriegstheologie, um an Familienähnlichkeiten zwischen Hegels Trinitätslehre und ihrer gebrochenen Aneignung bei Karl Barth zu erinnern und schließlich dem Hegelianer Wagner – ganz zu Recht – einen »hegelianisierende[n] Barthianismus« zu attestieren (35). In kulturtheologischer Perspektive betrachtet Folkart Wittekind im letzten Beitrag dieses Bandes unterschiedliche Bestimmungen des Verhältnisses von Religion und Kultur u. a. bei Barth, Bonhoeffer und Christoph Schwöbel, wobei Wagners fragmentarische Religionstheorie dafür kritisiert und letztlich abgewiesen wird, alle religiösen Bestände ins Nicht-Religiöse aufzulösen (267).
In einer zweiten Gruppe lassen sich Aufsätze zusammenfassen, die werkimmanente und genetische Aspekte beleuchten – durchweg minutiös, in der Kritik ausgewogen und lehrreich im Blick auf die Rezeption anderer Autoren durch Wagner. Ulrich Barth konzentriert sich auf Wagners Fichte-Verständnis, wobei dessen Beeinflussung durch Dieter Henrichs frühe Fichte-Deutung unterstrichen wird (47), mit entsprechend problematischen Folgen für Wagners eigene Fichte-Lektüre (65 f.). Es ist Michael Murrmann-Kahl, der der für Wagners intellektuelle Biographie zentralen Frage nachgeht, wie es zu seiner grundlegenden Neuorientierung im Theologischen kommen konnte. Demnach sei es nicht gelungen, den Gedanken der Selbstauslegung in eine einsichtige Relation zu dieser Auslegung selbst zu bringen und das Absolute auch inhaltlich bestimmen zu können (74.77 f.). Einen zweiten Artikel widmet Murrmann-Kahl Wagners weitgehend positiver Tillich-Rezeption. Interessanterweise endet dieser Text mit einem ekklesiologischen Plädoyer, da empirische Studien zeigten, dass Entkirchlichung zumindest in Deutschland mit dem Verlust des Religiösen insgesamt einhergehe (248 f.). Das auch von Tillich und Wagner thematisierte Dual von Selbstsein und Sozialität wird hier zugunsten des zweiten ausgelegt, was Schleiermacherianer wie Ulrich Barth, die auf den religiösen Selbstausdruck des von vereinskirchlicher Bevormundung befreiten Individuums setzen, nicht gerade gern lesen dürften. In Katrin Mettes Beitrag wiederum wird die eingangs vorgestellte Konstellation nochmals beleuchtet, inwiefern der Kantianismus, nach dem der Gottesgedanke unser Gedanke bleibe, mit einer Selbstsetzung des Absoluten vereinbar sei (99), woraus sich für Wagner die Notwendigkeit des spekulativen Charakters der gesamten Systematischen Theologie ergebe (95).
Eine dritte Gruppe von Texten besteht aus weitgehend kritischen Voten zu Wagners gescheitertem Programm, an dessen Stelle allerdings nie ein wirkliches Interesse an »gelebter Religion« trat (wie der Titel des Bandes hingegen nahelegen könnte). Christine Axt-Piscalar zeigt auf, wie das religiöse Bewusstsein durch das, was es tue, verfehle, worauf es bezogen sei (114). Zwar sei Wagner diese Aporie des Religiösen vollkommen bewusst gewesen, doch den Ausweg in der Identifikation von Gottes Gedachtwerden mit seiner Existenz zu suchen, bleibe unbefriedigend (117 f.). Dasselbe Urteil treffe Wagners späte Anerkennungstheorie, welche ihre Gebundenheit an das genuin christliche Leben nur noch behaupten, nicht begründen könne (130). Christian Danz und Wilhelm Gräb gehen in ihrer Kritik etwas anders vor. Wenn Danz die Christologie als »exemplarische Theorie des Selbstbewusstseins« (135) vorstellt und dazu aufruft, an diesem Lehrstück als »Darstellung und Beschreibung der reflexiven Struktur des religiösen Aktes« (144) weiterzuarbeiten, legt er nahe, dass Wagner nicht genau das gemacht habe, woran Danz selbst vornehmlich interessiert ist. Ähnlich verhält es sich bei Gräb: Nach der Einsicht in das Scheitern seines frühen Ansatzes sei es Wagner möglich, ja im Grunde notwendig gewesen, sich an die Erarbeitung einer Sinn- und Deutungstheorie zu machen (160 und 162). Das ist bekanntlich genau das, worein Gräb im Gegensatz zu Wagner theologisch besonders investiert hat. Beide Kritiken oszillieren demnach zwischen dem Vorwurf, Wagner habe nicht rechtzeitig auf ihre eigene theologische Linie als Ausweg aus den genannten Aporien eingeschwenkt, und dem Angebot, eine post-theistische Christologie bzw. eine Sinn- und Deutungs theorie als produktive Fortführungen des Wagner’schen Programms zu verstehen.
Eine weitere Gruppe von Texten gibt dem initialen, absolutheitstheoretischen Anliegen Wagners Recht und verteidigt es ge­gen dessen eigene, spätere Kritik. In einem recht hermetischen Text mit dem so interessanten wie eigentümlichen Titel »Der logische Aufbau Gottes« versucht sich Manuel Zelger daran, einerseits die Rede von dem Absoluten (im Singular) zu verteidigen (185), um andererseits Kant und Hegel gegen Wagners Selbstdiagnose des Scheiterns in Schutz zu nehmen (186 ff.). Eine ähnliche Marschrichtung schlägt Kurt Walter Zeidler ein, der nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Spekulation bei Wagner bedauert (216). Dieser habe sich der Einsicht verschlossen, dass der Gedanke des Absoluten nicht nur in mente verbleibe, sondern das Absolute selbst sei, so dass von Wagner fälschlicherweise an der ontologischen Differenz zwischen Sein und Denken festgehalten werde (217). Darin liegt, so denke ich, ein eigenartiges Fehlurteil, wie bereits der Artikel von Axt-Piscalar nachweist.
Die fünfte und letzte Gruppe von Texten besteht nur aus einem. Ewald Stübinger bemüht sich in seinem Beitrag zum neueren Anerkennungsdiskurs als Einziger, Wagner mit Debatten in Verbindung zu bringen, die dieser selbst nicht gesucht hat oder die er nicht mehr mitverfolgen konnte. Und so gerät Wagner in dieser produktiven Aneignung ins Gespräch mit Axel Honneth und Nancy Fraser, wobei sogleich die Frage auftaucht, wie das angebliche Scheitern asymmetrischer Anerkennungsverhältnisse mit der notwendig nicht-symmetrischen Rechtfertigungslehre vereinbar sei (170.174).
Ohne Frage, Wagner ist eine Gestalt, die schon dadurch fasziniert, dass sie sich dem Grabenkampf zwischen Subjektivitätstheorie und Offenbarungstheologie einfach entzieht. Zwar sind es vor allem Autoren aus dem ersten Lager, die über ihn – auch hier – schreiben, obgleich er theologisch dem zweiten Lager – das hier leider kaum zur Sprache kommt – viel nähersteht. In welche Untiefen, aber auch heikel-spannenden Gebiete dies führt, zeigt der Band auf ganz erhellende Weise. Aber er dokumentiert in »indirekter Mitteilung« zugleich, dass es bei werkimmanenten Erwägungen und problemgeschichtlichen Rekonstruktionen nicht wird bleiben können. Der Gedanke, dass sich das Absolute am anderen seiner selbst ereignet – und nur so ist, dass es theologisch also gerade keinen Unterschied zwischen dem sich entfaltenden, im Leben von Menschen heilsam wirkenden »Begriff« Gottes und Gottes effektiver Wirklichkeit gibt, ist tatsächlich etwas, das zu denken (auf)gibt. Fast könnte man meinen, Falk Wagner sei doch ein wahrhaft Hermeneutischer Theologe!