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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

950–952

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Söderblom, Nathan

Titel/Untertitel:

Ausgewählte Werke. Bd. 4: Der »Prophet« Martin Luther. Aus d. Schwedischen übers. u. hrsg. von D. Lange.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 336 S. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-3-525-57039-5.

Rezensent:

Heinrich Holze

Mit dem anzuzeigenden Band wird die deutschsprachige Ausgabe der Werke Nathan Söderbloms, des bedeutenden Religionswissenschaftlers, Theologen, Ökumenikers und Erzbischofs, zum Abschluss gebracht. Die Edition liegt in den Händen des Göttinger Systematikers und Söderblom-Biographen Dietz Lange. Die bislang erschienenen Bände enthalten Texte zum Verhältnis des Christentums zur Welt der Religionen (Bd. 1, vgl. ThLZ 138 [2013], 339–340), zu Themen der Ekklesiologie und Ökumene (Bd. 2, vgl. ThLZ 138 [2013], 753–755) sowie zur Christologie (Bd. 3, vgl. ThLZ 140 [2015], 526–528). Band 4, der die Auswahlausgabe beschließt, rückt unter dem programmatischen Titel »Der ›Prophet‹ Martin Luther« den Wittenberger Reformator in den Mittelpunkt der Darstellung. Passend zum Reformationsjubiliäum werden darin Schriften zur Theologie Luthers vorgelegt, die bislang nur in schwedischer Sprache erschienen waren.
In der Einleitung skizziert Lange den Weg, auf dem S. zu seiner spezifischen Lutherdeutung gefunden hat. Den Ausgangspunkt bildete die nordschwedische Erweckungsbewegung, in deren biblizistischer Frömmigkeit S. aufwuchs. Als er in Uppsala das Studium aufnahm, setzte er sich erstmals mit der historisch-kritischen Bibelexegese auseinander und begegnete der liberalen Theologie Albrecht Ritschls. Beides öffnete ihm den Weg zu einem neuen Christusverständnis, das er in seinem ersten Luther-Buch »Die Grundgedanken der lutherischen Reformation« (1893) darlegte. S. knüpft darin an den jungen Luther und seine Idee von christlicher Freiheit an, eine »Freiheit von jeglichem Lehrgesetz aus dem ›mystischen‹ Glauben heraus, der dem Wort Gottes korrespondiert« (12). Lange bezeichnet dieses Buch als das »Zeugnis eines theologischen Entwicklungsstadiums, das Söderblom rasch hinter sich gelassen« (14) habe, weil Ordination und Pfarramt ihn vor neue Fragen gestellt hätten. Von dem Umbruch legt das Tagebuch Zeugnis ab. S. schreibt darin, er habe während eines Gottesdienstes die überwältigende Erfahrung gemacht, »in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen«, und er habe verstanden, »dass Gott viel strenger ist, als wir denken« (13). In der Folgezeit beginnt S., theologische Grundthemen wie die Dialektik von Verborgenheit und Offenbarsein Gottes, von Gericht und Gnade, von Kreuz und Auferstehung zu reflektieren, aber auch die Bedeutung des christlichen Liebesgebotes für die Gestaltung der weltlichen Ordnung und die Zwei-Reiche-Lehre Luthers beschäftigen sein Denken.
Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlicht S. in der Schriftenserie der schwedischen christlichen Studentenbewegung ein zweites Luther-Buch. Es trägt den ungewöhnlichen Titel »Humor und Melancholie und andere Lutherstudien« (1919), ist mit etwa 300 Seiten deutlich umfangreicher als der Vorgänger und wird hier in Übersetzung abgedruckt. Es enthält zwölf Vorträge, die im Umfeld des Reformationsjubiläums 1917 gehalten wurden. Inhaltlich lassen sie sich drei Themenkreisen zuordnen. Im Mittelpunkt des ersten Themenkreises stehen Reflektionen zu Hu­mor, Melancholie, Angst und Schwermut bei Luther (I–VI). Dabei geht es S. um Glaubenshaltungen, an denen sich das spezifische Profil der Theologie Luthers aufzeigen lasse. Humor und Melancholie bezeichnet er als »zwei seelische Grundeinstellungen«, die beide »das Gesetz und das Evangelium, das Gericht und die Gnade Gottes auf differenzierte Weise widerspiegeln« (16). Über den Hu­mor schreibt er, dieser sei bei Luther »einer der Anstöße, den asketischen, durchgeformten Frömmigkeitstypus zu durchbrechen und die Konsequenz aus dem evangelischen Ideal des Gottvertrauens und der Freiheit zu ziehen« (75). Hinsichtlich der Melancholie vermerkt er, sie habe »wesentlichen Anteil an der Neuschöpfung der Religion durch Luther« (171), weil die Erfahrung der Anfechtung der Seele dem Hochmut entgegenwirke, »zugleich werden dadurch die Gewissheit und die Reinheit der Lehre befördert.« (170) Im zweiten Themenkreis folgen Reflektionen zur Glaubensge-wissheit (VII–X). S. entfaltet seine Gedanken zu diesem Grundthema lutherischer Frömmigkeit anhand Luthers Auftritt vor dem Wormser Reichstag (VII). An ihm zeige sich, worin »das evangelische Gottvertrauen« bestehe, nämlich in »Demut und Mut, Freiheit und unverbrüchliche[m] Gehorsam gegen Gott und das Gewissen« (228). Im Vergleich dazu sieht er bei Erasmus eine »nachdenkliche und kritische Sinnesart« (263), die zwar gelehrsam, aber auch un­entschieden gewesen sei, während Luther seine Gedanken »in Bewunderung und Anbetung vor der Unergründlichkeit der Wege Gottes« (260) entfaltet habe (VIII). Grundsätzliche Überlegungen zur Gewissheit (IX) und zur Glaubenszuversicht (X) schließen diesen Themenkreis ab. In einem dritten Themenkreis beschäftigt sich S. mit Lutherdeutungen des frühen 20. Jh.s. In dem Aufsatz »Der Bauernkrieg« (XI) grenzt er sich von der Lutherdeutung eines Paul Althaus ab, wenn dieser feststellt, der Wittenberger Reformator habe zwar die Anliegen der Bauern gesehen, doch sei ihm Wesentliches verborgen geblieben:
»Der enge Zusammenhang zwischen dem sozialen Zustand und dem Evangelium, nämlich einerseits was das Evangelium von der sozialen Lage für seine Wirksamkeit fordert und voraussetzt, andererseits was das Evangelium bei seiner Verwirklichung mit sich führen muss, wenn es vollends zu seinem Recht kommen soll.« (308 f.)
In dem Aufsatz »Der Abend vor Allerheiligen« (XII) setzt sich S. mit der katholischen Lutherdeutung seiner Zeit auseinander und stellt kritisch fest, sie sei offenbar nur in der Lage, Luther »mit den normativen Lehrern der Kirche aller Zeiten zu vergleichen« (313). Natürlich sei Luther »keine isolierte Erscheinung« gewesen, wohl aber könne er »der mächtigste Geist in einer großen Erneuerung« (317) genannt werden.
Neben der Luther-Monographie enthält die Werkausgabe noch eine weitere, deutlich kürzere Schrift unter dem Titel »Martin Luthers universale Bedeutung«. Ihr liegt ein Vortrag zugrunde, den S. zum 400-jährigen Jubiläum des Wormser Reichstags in Stuttgart 1921 gehalten und mehrfach überarbeitet hat. Zum historischen Kontext gehört das Grußwort des Vorsitzenden des Kirchenausschusses, Reinhard Moeller, der unter dem Eindruck des Versailler Vertrages S.s Vortrag als einen »Brudergruß aus dem stamm- und glaubensverwandten Nordland« (19) bezeichnete. S. grenzt sich von dieser romantisch-nationalen Sprache ab, wenn er Luther als »Gottes Prophet« bezeichnet: »Er empfing Gottes in der Schrift bezeugte Offenbarung und verlieh ihr so klaren und kraftvollen Ausdruck, dass seine Bedeutung keineswegs auf einen Teil der christlichen Kirche beschränkt bleibt.« (328) Zugleich lenkt er den Blick auf Johannes Calvin und John Wesley bis hin zu den östlichen Religionen, um die Fernwirkungen der Reformation zu betonen: »Wir sollten ein wenig von Martin Luthers Universalismus lernen, denn Universalismus kommt aus der Konzentration auf das Wesentliche.« (331) Damit wendet sich S. gegen eine nationalistische Vereinnahmung Luthers ebenso wie gegen eine konfessionalistisch verengte Interpretation und setzt in der Lutherdeutung der frühen 1920er Jahre einen erkennbar eigenen Akzent.
S.s Gedanken zu Luther sind zunächst theologiegeschichtlich bedeutsam. Sie zeigen, dass es neben Einar Billing, Gustaf Aulén, Anders Nygren und Gustav Wingren eine weitere gewichtige Stimme in der schwedischen Lutherforschung gegeben hat. Die Lektüre der Schriften lohnt aber nicht nur deswegen. Dietz Lange begründet ihre Übersetzung und Neuausgabe damit, dass S. »einen außerordentlich originellen Interpretationsansatz entwickelt [habe], der auch heute noch von Interesse sein dürfte« (9). Zwar lässt sich nicht übersehen, dass S.s Denken von der Welt des frühen 20. Jh.s geprägt ist. Auch ist seine Sprache zeitgebunden. Doch ist ihm mit der Deutung von Lebensäußerungen der Frömmigkeit, der sozialen Ver antwortung des Glaubens und der universalen Dimension der Reformation gelungen, Zusammenhänge und Perspektiven der Theologie Luthers aufzuzeigen, die beanspruchen dürfen, auch heute wahrgenommen zu werden.