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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

946–948

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Plathow, Michael

Titel/Untertitel:

Vor Gott in der Welt. Luthers neues Wirklichkeitsverständnis.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. 296 S. = Theologie: Forschung und Wissenschaft, 45. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-12633-7.

Rezensent:

Klaus Grünwaldt

Michael Plathow, apl. Professor für Systematische Theologie in Heidelberg und ehemaliger Direktor des Konfessionskundlichen Institutes des Evangelischen Bundes in Bensheim, legt hier einen weiteren Aufsatzband zu Themen der Theologie Martin Luthers vor. Die wieder oder erstmals veröffentlichten 19 Beiträge stammen aus einem Zeitraum von fast 40 Jahren – der älteste Titel wurde erstmals 1977 publiziert.
Der Titel »Vor Gott in der Welt« ist Programm und steht für die Absicht P.s, das neue Wirklichkeitsverständnis Luthers als auf zwei miteinander verbundene Säulen konstruiert zu kennzeichnen: »des Menschen externe Beziehung von Gott her und auf Gott hin in der Verbundenheit der Beziehungen mit den Menschen in Gemeinde und Welt, wie der Glaubende sie als ›zugleich Gerechter und Sünder‹ verantwortlich lebt im ›Vorletzten‹, zukunftsoffen auf das ›Letzte‹ hin durch Gottes Gericht und Gnade« (7). Das »neue Wirklichkeitsverständnis« Luthers ist systematisch am pointiertesten entfaltet in dem Aufsatz, der den Band einleitet: Was ist Reformation? (3–14), der darum hier stellvertretend referiert wird.
Der Text nimmt seinen Ausgangspunkt beim von Brad S. Gregory in seinem Buch The Unintended Reformation (2012) erhobenen Vorwurf an die Reformation, »das Elend des gegenwärtigen naturalistischen Weltverständnisses in den Wissenschaften, die Relativierung von Grundsätzen der Lehre, die Privatisierung von Religion und Subjektivierung der Moral, die Nivellierung des objektiven und universalen Charakters religiöser Wahrheit, die Auflösung des mittelalterlichen Sakramentalismus durch eben das ›sola scriptura‹-Prinzip […] mit seiner pluralisierenden und säkularisierenden Auswirkung« (3) herbeigeführt zu haben – auch wenn alles das evtl. nicht intendiert gewesen sei. Diesem Vorwurf steht die durchgängig positive Sicht auf die Reformation gegenüber, wie sie beispielsweise vom Wissenschaftlichen Beirat für das Reformationsjubiläum herausgestellt wird: Die Reformation stehe für Pluralität und Toleranz, Freiheit, Verantwortung und Bildung, auf ihre Grundsätze gehen letztlich Religions- und Gewissensfreiheit zurück, Demokratie und sozialstaatliche Strukturen; schließlich sei die lutherische Reformation immer offen für ökumenische Initiativen.
Nach einer kurzen Rückschau auf die Sicht Herders, Goethes und Hegels auf die Reformation skizziert P. sein eigenes Reformationsverständnis. Epochengeschichtlich sei die humanistische Me­thode des »ad fontes« insofern bestimmend geworden, als sie für die Schriftauslegung die Frage nach dem Literalsinn in den Mittelpunkt gestellt habe – freilich selbst wiederum geleitet durch die Frage danach, »was Christum treibet«. So zentral für die Reformation Luthers die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben ist, so hat doch damit verbunden immer auch die Wahrnehmung des Natürlichen der Natur als Schöpfung Gottes eine wichtige Funktion im Ganzen von Theologie als Weltwahrnehung. Dass der Heilige Geist gleichursprünglich Glaube und Gemeinschaft der Glaubenden weckt, »wirkt gegen monadischen Individualismus und gegen ontologische Sozialität« (5).
Dabei sieht P. den Menschen nach dem Zeugnis der Reformatoren in der zweifachen Relation coram deo und coram mundo. Coram deo heißt: Der Mensch kann aus eigenem Wissen, Tun und Vermögen nichts zu seinem Heil hinzutun – sola gratia. Coram mundo allerdings haben menschlicher Wille und Vernunft wesentliche Bedeutung.
Diese Grundsätze reformatorischer Theologie finden in den »evan­gelischen Merkmalen« des Kircheseins (8–9) einen lebendigen Ausdruck: dem Wechselspiel von kirchengründendem Wort und antwortendem Bekenntnis; dem typisch evangelischen Bildungsverständnis im Sinne von Orientierung und als Fortschreibung der humanistischen Wurzeln; der Unterscheidung – aber nicht Trennung! – von Tat Gottes und Werk des Menschen; der Wahrnehmung des Dienstes des allgemeinen Priestertums bis hin in kirchenleitende Verantwortung; der vielfältigen und verantwortlichen evangelischen Wahrnehmung des Lehramtes und nicht zuletzt des gemeinsamen Dienstes von Frauen und Männern im Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung.
Aber nicht nur in der Kirche, auch in der Gesellschaft wirken sich reformatorische Prinzipien aus. Die selbstverständliche Anerkennung der Vernunft als die Gesellschaft gestaltende Kraft in Ehe, Familie und Beruf, Kultur und Politik; Ideologiekritik; die produktive Spannung von Freiheit und Verbindlichkeit, Wahrheitsgewissheit und Toleranz; das evangelische Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit auch im Sinne von gerechter Teilhabe; Pluralismusfähigkeit; der selbstbewusst geführte Dialog mit anderen Wissenschaften, aber auch Konfessionen und Religionen (Ökumene!) und nicht zuletzt die Pflege von Kunst und Kultur sind nur einige Momente protestantischer Prägekraft, die in den Jahrhunderten nach 1517 in den Gesellschaften Deutschlands und Europas, aber auch darüber hinaus Gestalt gewonnen haben.
Alle diese umwälzenden, reformierenden Prägungen haben aber ihren letzten, tiefen Grund in dem neuen reformatorischen Menschen- und Wirklichkeitsverständnis, das »die Welt […] als vom Geist Gottes, dem Atem des Lebens, erhalten […] und die Menschen als Mandatare Gottes mitwirkend gegen Lebenszerstörendes und Zukunftverschließendes für Leben und Zukunft der Menschheit und Erde« erkennt (13) – und man müsste im Sinne P.s ergänzen: als Aufgabe ins Bewusstsein rückt.
Diese Grundlegung wird in den folgenden 18 Aufsätzen teils vertieft, teils theologie- und geistesgeschichtlich eingeordnet und fundiert. Dabei wird der theologiegeschichtliche Bogen erstaunlich weit gespannt. Goethe, Hegel und Nikolaus von Kues sowie Anselm von Canterbury werden zur Theologie Luthers und der lutherischen Reformation in ein spannend-spannungsreiches Verhältnis gesetzt mit Anknüpfung und Absetzung. Es werden er­staunliche Linien sichtbar und der Leser wird im besten Sinne belehrt. Das Herz P.s spürt man aber insbesondere immer dort schlagen, wo die existenzielle Dimension der Theologie des Wittenberger Reformators ausgelotet wird wie z. B. in den Aufsätzen, die sich der Kreuzestheologie widmen.
Das Beharren darauf, dass aber aus dieser tiefen existenziellen – und damit zunächst und vor allem auf die Einzelperson gerichteten – Dimension von Verkündigung und Theologie auch diese andere Seite, die im Luthertum immer wieder gerne vergessen wurde – das Weltzugewandte und die Weltverantwortung – entspringt, und zwar nicht als sekundäres Anhängsel, sondern als unaufgebbare, untrennbare Dimension, ist ein wirkliches Verdienst der Ar­beiten P.s. Ja, er kann zugespitzt sagen, »dass eine Doktrinalisierung, Individualisierung und Spiritualisierung nicht in M. Luthers trinitarischem Rechtfertigungsglauben begründet ist und man sich dafür nicht auf die Reformatoren berufen kann« (201). Solche Sätze sind in ihrer Pointierung aus dem Mund eines Europäers durchaus immer noch überraschend und machen das Buch unbedingt lesenswert.
Vielleicht wäre es noch einen weiteren Aufsatz wert gewesen, diese Dimension der Weltverantwortung als unverzichtbaren Beitrag des Alten Testaments für christliche Theologie herauszuarbeiten – auch da wäre man bei Luther fündig geworden, etwa in der Voranstellung des Dekalogs im Katechismus. Das Alte Testament kommt in dem anzuzeigenden Buch – wie ich finde dem Thema nach unangemessen – zu kurz. Vielleicht wird dies in kommenden Aufsätzen nachgeholt.