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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

940–941

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Zaunstöck, Holger, Gestrich, Andreas, u. Thomas Müller-Bahlke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (in Kommission für Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen) 2014. VIII, 182 S. m. 2 Abb. = Hallesche Forschungen, 39. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-447-10259-9.

Rezensent:

Reinhardt Würkert

Im Sommer 1705 berichtete die Zeitung »Hallische Correspondentz« von der Übersetzung der »Segensvollen Fußstapfen« August Hermann Franckes ins Englische. In einer späteren Ausgabe folgte ein Artikel über erste, auf dieses Buch zurückgeführte pädagogische Erfolge in London. Die Zeitung wurde über das Hallesche Briefnetz verschickt. Sie informierte vornehmlich über das Hallesche Waisenhaus und widmete sich zunehmend der Bekanntmachung ausländischer Aktivitäten von Franckes Mitarbeitern. Hiermit ist ein Beispiel für die vielfältigen Kommunikationskanäle zwischen Halle und London benannt, die in dem vorliegenden Band thematisiert werden. Der auf eine sowohl vom Deutschen Historischen Institut in London als auch von den Franckeschen Stiftungen im Jahr 2011 in Halle veranstaltete Tagung zurückgehende Sammelband vereinigt insgesamt zehn Beiträge, welche sich mit den englisch-deutschen Beziehungen im 18. Jh. befassen.
Unter Kommunikationsgeschichte versteht Holger Zaunstöck einleitend eine aus den kommunikativen Aktivitäten der Zeitgenossen begründete, prozessorientierte Beziehungsgeschichte (3 f.). Näher definiert er allerdings lediglich den Begriff Kommunikation, dem er eine im pietistischen Wirkungsfeld zu beobachtende, über die bloße Nachrichtenvermittlung hinausgehende Wirklichkeitsdimension, etwa in Form sozial-pädagogischer Aktivitäten, zuschreibt. Wie aber lässt sich die Überführung der am Quellenmaterial nachvollziehbaren kommunikativen Akte in Historiographie theoretisch untermauern und was hebt die Darstellungsart der Kommunikationsgeschichte von anderen Formen der Ge­schichtsschreibung ab? Diese Fragen bleiben in Zaunstöcks konzeptioneller Einführung weitgehend unbeantwortet. Auch die übrigen Beiträge des Bandes lassen theoretische Reflexionen zum Begriff der Kommunikationshistorie eher vermissen. Ihre Stärke liegt hingegen in der Sammlung und Präsentation zahlreicher und zum Teil noch unbekannter Quellenbestände.
So kann Christina Jetter-Staib in ihrem Aufsatz, unter Verwendung der umfangreichen Korrespondenz Friedrich Michael Ziegenhagens (1694–1776) im Archiv der Franckeschen Stiftungen wie auch von Schriften und Protokollen aus dem Archiv der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK), auf Ziegenhagens bislang wenig erforschte Rolle als deutsches Mitglied der SPCK, luthe-rischer Hofprediger in London sowie als Beförderer der überseeischen Mission verweisen. Daran anknüpfend berichtet Jürgen Gröschl von dem überraschenden Fund eines Teils des lange ge­suchten Nachlasses von Friedrich Michael Ziegenhagen im Archiv der Franckeschen Stiftungen, mit dem es nun erstmals möglich sein wird, die Theologie des Londoner Hofpredigers detailliert zu untersuchen. Die Rolle eines weiteren Organisators der Halle-London-Kontakte, Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), betrachtet Alexander Schunka. Er untersucht neben Ludolfs intensiven Werbetätigkeiten für das Hallesche Waisenhaus in London dessen von August Hermann Francke abweichende theologische Positionierung. Diese drückte sich vor allem in Ludolfs Bemühen für ein universales Christentum jenseits der konfessionellen Schranken aus und war bei Francke durchaus auf Widerspruch gestoßen.
Andreas Gestrich beschreibt in seinem Aufsatz überblicksartig politische, religiöse und wissenschaftliche Interdependenzen zwischen England und dem Alten Reich um 1700, welche wesentlich von Hallenser Pietisten mitgestaltet worden waren. Die dem vorausgegangenen religiösen Transferprozesse von englischem Puritanismus und deutschem Pietismus im 17. Jh. nimmt Jan van de Kamp in seinem Beitrag in den Blick. Michael Schaich verortet die Hallenser Pietisten in der konfessionellen und sozialen Gemengelage Londons und macht angesichts der hohen Dichte der Konfessionsgemeinschaften in der englischen Hauptstadt auf die harte Konkurrenzsituation wie auch auf überraschende Kooperationen aufmerksam.
Die beiden folgenden Aufsätze von Kelly J. Whitmer und Juliane Jacobi thematisieren den deutsch-englischen Wissenstransfer, zum einen auf dem experimentell-naturwissenschaftlichen Terrain – Whitmer konzentriert sich im einzigen englischsprachigen Aufsatz des Bandes auf die Beziehungen zwischen der Halleschen Universität und der British Royal Society –, zum anderen auf der Ebene von Bildung und Pädagogik – Jacobi untersucht die Vermittlungswege zwischen dem Halleschen Waisenhaus und der SPCK u. a. beim Aufbau von Charity Schools in der Themsestadt. Schließlich widmet sich Alexander Pyrges unter expliziter Verwendung von theoretischen Ansätzen der Netzwerkforschung der Beziehungskonstellation Halle-London-Georgia und arbeitet vor dem Hintergrund des Kolonialprojektes EbenEzer die zentrale Position heraus, die London im 18. Jh. nicht nur in der theologischen Kommunikation, sondern gerade auch in Hinsicht auf die alltäglichen Vorgänge, etwa als Knotenpunkt im Reise- und Wa­renverkehr, einnahm.
Trotz eines unverkennbaren geschichtstheoretischen Defizites des Bandes kann die Zusammenführung der methodisch verschieden arbeitenden Beiträge als innovativ bezeichnet werden: Die vorgestellten biographie-, sozial- und medienhistorischen Zugänge machen auf unterschiedliche Weise auf die vielfältigen Kooperations- und Konkurrenzsituationen im frühneuzeitlichen London aufmerksam. Zukünftige Folgeprojekte müssen sich allerdings mit der Frage auseinandersetzen, nach welchen Kriterien sich die vorgelegten Untersuchungsergebnisse in einer umfassenderen Ge­schichte der Halle-London-Kontakte sortieren und im Zusammenhang interpretieren lassen. Ob eine noch näher zu be­stimmende Konzeption von Kommunikationsgeschichte dafür den geeigneten theoretischen Rahmen liefern kann, bleibt zu prüfen.