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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

999–1001

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sudbrack, Josef

Titel/Untertitel:

Religiöse Erfahrung und menschliche Psyche. Zu Grenzfragen von Religion und Psychologie, von Heiligkeit und Krankheit, von Gott und Satan.

Verlag:

Mainz: Grünewald 1998. 156 S. 8. Kart. DM 29,80. ISBN 3-7867-2100-9.

Rezensent:

Reinhold Bernhardt

Der dreifache Untertitel des Buches zeigt das weite Feld an, das hier erschlossen werden soll; es deutet sich in ihm aber auch bereits die ganze Problematik dieses Unternehmens an.

In großer thematischer Breite und unter Bezugnahme auf eine Fülle von Literatur soll der Grenzbereich zwischen Religion und den Humanwissenschaften im allgemeinen, der Psychologie im besonderen ausgeleuchtet werden. Dazu setzt der Vf. - jesuitischer Exerzitienleiter mit zahlreichen Veröffentlichungen zu Fragen der Erfahrungstheologie - bei der "Hochform christlicher Erfahrung" (9) an, wie sie ihm in der Mystik begegnet.

Daß Grenzerfahrungen - wie die außergewöhnlichen Begleiterscheinungen mystischer Erlebnisse - eine so zentrale Rolle in diesem Buch spielen, erklärt sich nicht zuletzt aus dem Kontext, in dem es entstanden ist: Der Vf. hat hier Vorträge verarbeitet, die er auf Tagungen in psychiatrischen Krankenhäusern zum Themenfeld "Heiligkeit und Gesundheit", "Religion in der Psychiatrie", "Spiritualität als Brücke zwischen Psychotherapie und Theologie" gehalten hatte (9). Die Botschaft an die Hörer dieser Vorträge lautet: Eine erfüllte Gottesbeziehung und ein daraus erwachsendes ,heiliges’ Leben ist nicht abhängig von körperlicher und seelischer Gesundheit (bes. in Kap. III und 77).

Nach einer thematischen Einleitung, in dem der Vf. grundlegende Überlegungen zur psychologischen Deutung religiöser (bes. mystischer) Erfahrungen anstellt, geht er in 7 Kapiteln - unter Verarbeitung zahlreicher (auto-)biographischer Berichte auf die damit anvisierten Einzelfragen ein: Er weist jene Ansätze zurück, die mystische Erlebnisse generell nach psychopathologischen Kategorien diagnostizieren wollen (Kap. II). Die pathische Dimension solcher Erfahrungen könne nicht zutreffend erfaßt und gewürdigt werden, wo sie ausschließlich an den Normen psychischer Gesundheit und geistiger Reife gemessen werde (Kap. III). Tiefer als die Deutungen der analytischen, der behaviouristischen, der humanistischen und selbst der transpersonalen Psychologie reiche die religionspsychologische Aufschlüsselung der mythopoetischen Symbolwelten, die auf Uranlagen und Urkräfte im menschlichen (Unter-)Bewußtsein verweisen. Die ihnen eigene Rationalität erschließe sich in der ,Anschauung’ und werde primär in ästhetischen Bezugsrahmen adäquat erfaßt (Kap. IV). In einem weiteren Schritt legt Sudbrack die "psychologische Eigenkraft christlicher Spiritualität" (75) auf die zentralen existentiellen Fragen des christlichen Gottesglaubens hin aus: auf die Frage nach dem Tod, der Angst und dem Leid der Menschen (Kap. V). Um Licht in die Grauzone des Aberglaubens, der Satans- und Dämonenfurcht, des Exorzismus usw. zu bringen, plädiert er dafür, die psychischen Tiefenschichten ernstzunehmen, die vom Schamanismus erreicht - und von der Parapsychologie untersucht werden (Kap. VI). In der Behauptung der personalen Existenz von Engeln, Satan und Dämonen erblickt er eine (unzulässige) Hypostasierung der Symbole für die realen Mächte des Bösen in der Welt (Kap. VII). Und selbst wo eine religiöse Erfahrung keinen Bezugspunkt in der empirischen Realität mehr hat, wo sie offensichtlich als psychische Projektion und Wahnideen zu beurteilen ist, will der Vf. die Möglichkeit offenhalten, daß sich auch in der krankhaften Subjektivität des Menschen eine au-thentische mystische Erschließung ereignet haben kann (Kap. VIII). Die abschließende Zusammenfassung (Kap. IX) nimmt noch einmal einige der dargestellten Leitgedanken auf und reflektiert sie im Blick auf die Beziehung zwischen christlichem Gottesglauben und seiner psychologisch zu erfassenden und auch zu hinterfragenden Vollzugsform. So sehr er jeglicher Psychologisierung des Glaubens entgegentritt, so sehr will er doch sein Augenmerk auf die subjektive Seite der Gottesbeziehung, auf die Erfahrungserkenntnis ihrer Offenbarungen richten und sie mit einem ihr gemäßen psychologischen Instrumentarium verstehbar machen.

Der Vf. führt den intendierten "kritisch-konstruktiven Dialog" (12) zwischen dem christlichen Glauben und der Psychologie bewußt und gewollt von seinem eigenen "persönlich engagierten Interesse" (ebd.) aus. Es besteht im Aufweis des Tiefensinns mystischer Erfahrungen. Dieser aber läßt sich nach seiner Überzeugung eher von der Parapsychologie, der ethnologischen Erforschung archaischer Religionskulturen und der ästhetischen ,Anschauung’ vorbegrifflicher ,archetypischer’ Symbole, Mythen und Riten aus aufweisen als mit den Methoden der klassischen Psychologie. Der von ihm gewählt Ausgangspunkt bei der mystischen "Hochform" religiöser Erfahrungen, die nur wenigen zugänglich waren und sind und die auch nur von wenigen existentiell und intellektuell nachvollzogen werden können, verwickelt den Vf. in schwierige Deuteversuche, deren apologetisches Interesse offen zutage liegt; es verlangt ihm mühsame Grenzbestimmungen und Unterscheidungen zwischen authentischer Gotteserfahrung und psychopathologisch zu wertenden Projektionen ab. Besonders deutlich tritt dieses apologetische Interesse in der Interpretation zutage, die er einem autobiographischen Bericht aus dem Leben der Hildegard von Bingen voranstellt. In der darin beschriebenen Heilung einer Besessenen entdeckt er "voll Erstaunen eine Therapie, die recht genau den psychosozialen Vorstellungen moderner Medizin entspricht" (147).

Die Reflexion auf die konventionellen und ,alltäglichen’ Vollzugsformen des christlichen Glaubens und die sich daraus ergebende Antwort auf die vom Vf. an den Anfang gestellte "Basis-Frage des lebendigen Christentums" "Wie wird der Glaube an Gott und seinen Christus heute zur Erfahrung?" (9) tritt demgegenüber in den Hintergrund. So gerät, was als dringend gebotene Dialogbemühung zwischen Theologie und Psychologie anhob, zur psychologischen Apologie mystischer Erlebnisse, einschließlich ihrer sonderbaren Begleiterscheinungen. Wer von der Theologie kritische Aufklärungsleistungen in der Verarbeitung von Phänomenen der Religionskultur in Gegenwart und Vergangenheit erwartet, der wird bei der Lektüre dieses Buches zunächst ein gewisses Maß an Befremden überwinden müssen, um dann - in seinerseits kritischer Auseinandersetzung damit - wertvolle Anregungen zur Erschließung religiöser Erfahrungs- und Sinnwelten zu gewinnen.