Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2016

Spalte:

936–938

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Renger-Berka, Peggy

Titel/Untertitel:

Weibliche Diakonie im Königreich Sachsen. Das Dresdner Diakonissenhaus 1844–1881.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 446 S. = Historisch-theologische Genderforschung, 7. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03740-7.

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Bei der hier zu besprechenden Promotionsschrift von Peggy Renger-Berka handelt es sich um eine regionalgeschichtliche Studie, welche am Beispiel des Dresdener Diakonissenhauses grundlegende Entwicklungen der Gesundheitspflege und des sozial-karitativen Engagements im evangelischen Kontext von Sachsen im 19. Jh. rekonstruiert. Das methodische Konzept der Vfn. besteht darin, die Entwicklung dieser Einrichtung in institutionentheoretischer Perspektive darzustellen, wobei sie in dem Hauptteil der Arbeit, dem vierten Kapitel: »Phasen der Institutionalisierung – Institutionengenese« (119–401) die drei Phasen der Stabilisierung, der Destabilisierung und der Restabilisierung unterscheidet.
Aufgrund der engen Zusammenarbeit mit der Kaiserswerther Diakonissenanstalt ist die Dresdener Einrichtung in dem größeren Kontext der Mutterhausdiakonie einzuordnen, wenngleich eine Reihe von Besonderheiten im Rahmen der Dresdener Einrichtung bemerkenswert sind. So verdankt sich die Entstehung des Dres-dener Diakonissenhauses der Initiative eines Vereins adliger und bürgerlicher Frauen, die in der Anfangsphase die wegweisenden Entscheidungen trafen, wenngleich deren Einfluss seit der festen Anstellung des Anstaltsgeistlichen Fröhlich nach und nach zu­rückgedrängt wurde. In der Gründungs- bzw. Stabilisierungsphase hat sich das Dresdener Diakonissenhaus als Tochteranstalt von Kaiserswerth konstituiert, wobei insbesondere die Rezeption der Kaiserswerther Ordnungen und Instruktionen herausgestellt wird. Nachdem wegen Todes bzw. Weggangs die ersten beiden für die frühe Entwicklung maßgeblichen Kaiserswerther Diakonissen wesentliche Leistungsfunktionen nicht mehr ausüben konnten, geriet die Einrichtung in eine Krise. Ökonomische Schwierigkeiten, ein zeitweiliger Rückgang der aktiven Diakonissen und Probepflegerinnen wie auch Unklarheiten in der Leitungsstruktur waren kennzeichnende Merkmale dieser Destabilisierungsphase, in der allerdings gleichzeitig die diakonischen Arbeitsfelder ausgeweitet wurden.
Mit der Berufung des zweiten Anstaltsgeistlichen, Heinrich Fröhlich, der diese Funktion von 1856 bis 1881 wahrnahm, sowie seiner Ehefrau Hedwig, die als Hausvorsteherin fungierte, setzte sodann die Phase der Restabilisierung ein, welcher die Einrichtung ihre fortdauernde Existenz verdankte. Die Vfn. zeigt detailliert auf, wie Fröhlich als Anstaltsgeistlicher eine Vielzahl von Umstrukturierungsmaßnahmen vornahm, indem er den Trägerverein, das bisher leitende Gremium adliger und bürgerlicher Frauen, in seinem Einfluss zurückdrängte, sich selbst Sitz und Stimme im Vereinsvorstand sicherte und nach dem Kaiserswerther Modell ge­meinsam mit seiner Frau als Hauselternpaar an der Spitze die Hausleitung konsolidierte. Vor dem Hintergrund dieser Maßnahmen gelang es nicht zuletzt, eine größere Zahl junger Frauen als Diakonissen zu gewinnen, diese im Sinn des Kaiserswerther Diakonissenmodells zu prägen und darüber hinaus eine Vielzahl weiterer sozialer Aufgaben zu übernehmen. Insgesamt kann die Vfn. überzeugend zeigen, wie sich der Prozess der Institutionalisierung von einer Tochteranstalt Kaiserswerths über eine kritische Destabilisierungsphase hinweg zu einer stabilen eigenständigen Einrichtung mit einem Hauselternpaar an der Spitze nach dem Vorbild des Kaiserswerther Modells vollzog. Ihre Darstellung ist von der Intention bestimmt, die Verstetigung von Handlungsmustern vor allem in der Restabilisierungsphase aufzuzeigen und weniger die klassische Sicht der sich vor allem in Jubiläumsschriften zu findenden Selbstdarstellungen zu reproduzieren, von der Vfn. als »Eigengeschichte« bezeichnet. Allerdings steht nach der Lektüre der Arbeit die Frage im Raum, wie das Spannungsverhältnis von Person und Institution im Blick auf die Entwicklung des Dresdener Diakonissenhauses zu interpretieren ist. Gerade vor dem Hintergrund des institutionsgeschichtlichen Zugriffs der Vfn. wird deutlich, wie stark einzelne Personen die Entwicklung des Dresdner Diakonissenhauses im Sinn einer »psychischen Rigidität« (N. Luhmann) geprägt haben. Insofern wäre es reizvoll, im Vergleich mit anderen im 19. Jh. gegründeten, von den jeweiligen innovativen Persönlichkeiten stark geprägten diakonischen Einrichtungen die jeweilige Rolle von solchen »starken Persönlichkeiten« in institutionentheoretischer Perspektive zu analysieren und gleichzeitig die Eigenlogik von Institutionalisierungsprozessen zu reflektieren.
Dem institutionentheoretischen Hauptkapitel der Arbeit vorangestellt sind zwei weitere Kapitel, welche die allgemeinen Rahmenbedingungen der Entwicklung von Diakonissenhäusern im 19. Jh. sowie Daten zur sozialen und biographischen Situation der Dresdener Diakonissen rekonstruieren. Im Blick auf die allgemeinen Rahmenbedingungen wird die besondere Bedeutung des Vereinswesens für die Diakonie sowie die Relevanz der wichtigsten theologischen Richtungen im 19. Jh. kurz dargestellt. Sehr instruktiv ist die Darstellung der Diakonissen in Dresden, da hier exemplarisch Herkunft, Motivationen, Ein- und Austritte sowie die be­rufliche Herkunft der Schwestern sowie ihrer Eltern aufgezeigt werden. Nicht zuletzt sind die Schwankungen der Ein- und Austrittszahlen als Sensor für die institutionelle Entwicklung des Diakonissenhauses insgesamt anzusehen. Die Mehrzahl der Diakonissen entstammt dem kleinen und mittleren Bürgertum, wobei relativ viele von ihnen bereits vor Eintritt in das Diakonissenhaus in einem seinerzeit typischen Frauenberuf tätig gewesen sind. Im Blick auf die Eintrittsmotive zeigt sich sehr deutlich die prägende Kraft der Frömmigkeit, wobei – wie auch andernorts – überwiegend die Erweckungsbewegung als Hintergrund der spezifischen Frömmigkeit der sächsischen Diakonissen zu nennen ist. Auffällig ist zudem eine relativ hohe Sterblichkeitsrate der Diakonissen in Dresden, etwa im Unterschied zu Kaiserswerth, die sich wohl mit Blick auf Einsätze bei ansteckenden Krankheiten wie einer Blatternepidemie und einer Choleraepidemie in den 1860er Jahren sowie vor dem Hintergrund der allgemein äußerst schwierigen Ar­beitsbedingungen erklären lässt. Das Kapitel über die Diakonissen in Dresden bietet eine Vielzahl wichtiger sozialgeschichtlicher Hinweise, die die Vfn. mit ihrem institutionengeschichtlich erarbeiteten Hauptteil an verschiedenen Stellen stärker hätte verknüpfen können.
Diakonissenhäuser sind sowohl seitens der Profan- wie der Kirchengeschichte zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Un­tersuchungen getreten. Die Vfn. hat mit ihrer Studie durch die institutionentheoretische Perspektive anhand eines konkreten re­gionalgeschichtlichen Beitrags eine Vielzahl weiterführender Problemstellungen zur Erforschung der Diakoniegeschichte des 19. Jh.s aufgezeigt. Die Bedeutung der Verstetigung von Handlungsmustern und ihre Rolle im Institutionalisierungsprozess sind überzeugend herausgearbeitet und können weiteren Forschungen in diesem Bereich als wesentliche Anregungen dienen.