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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

928–930

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Scheunemann, Jan

Titel/Untertitel:

Luther und Müntzer im Museum. Deutsch-deutsche Rezeptionsgeschichten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 451 S. m. zahlr. Abb. = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 20. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-374-04058-2.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Der Museologe und Historiker Jan Scheunemann ist als Herausgeber und Autor von Veröffentlichungen zur DDR-Geschichte des Reformationsverständnisses bekannt. In seiner jetzigen Studie geht es ihm nicht um eine Gesamtdarstellung der musealisierten Luther- und Müntzererinnerung zur Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit, sondern um empirische Fallstudien in sechs Kapiteln, vorrangig auf der Grundlage archivalischer Überlieferung. Im Mittelpunkt steht die Wittenberger Lutherhalle. Die wichtigsten anderen einschlägigen Museen werden zu den Schwerpunktzeiten, die von den Jubiläen vorgeben werden, berücksichtigt.
Mit dem 1. Kapitel »Lutherhalle zwischen protestantischem Er­innerungsort und staatlichem Re­formationsmuseum (1939-1952)« wird die bisher kaum bekannte Periode von 2. Weltkrieg, der Besatzungszeit, der zeitweiligen Entlassung Oskar Thulins, des Wie-deraufbaus und der beginnenden Konflikte um die Aufgaben des Museums und um das Lutherverständnis, der Ausstellungen 1951 zum Berliner Kirchentag 1951 und zur Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover 1952 dargestellt.
Das 2. Kapitel »Martin Luther und Thomas Müntzer. Etablierte und neue Erinnerungsorte in der DDR (1952–1559)« schildert die mit der kommunalen Trägerschaft beginnende progressive DDR-Erinnerungskultur als Teil des Staatsverständnisses in ihrer Bedeutung für die Lutherhalle. Zu dieser Zeit setzte auch die neue mar-xistische Müntzerrezeption und ihre Umsetzung in der lokalen Gedenktradition ein: Allstedt Festspiele 1953, Heldrungen Festwoche 1954, Mühlhausen Kampfwoche 1953. Die Ausstellungen zu Reformation und Bauernkrieg im Museum für deutsche Geschichte 1952 und 1955, Friedrich Wolfs Müntzerfilm, die Cranach-Ehrung 1953 werden ebenfalls berücksichtigt, als negatives Beispiel aber auch die Verhinderung der Hauptversammlung der Luther-Gesellschaft in Wittenberg 1957.
Im 3. Kapitel »450. Reformationsjubiläum 1967 als ›säkulares Ereignis‹ (1960–1973)« wird über die seit 1960 entwickelte marxistische Geschichtskonzeption von Reformation und Bauernkrieg als einheitliche frühbürgerliche Revolution in ihren Konsequenzen für die Lutherhalle und für das Reformationsjubiläum von 1967 berichtet. Die deutschlandpolitische Situation führte zu Konflikten mit der Konsequenz einer vollständigen Trennung der staatlichen und kirchlichen Jubiläumsfeiern. Die repressiven Folgen für das kirchliche Gedenken, aber auch die Abwendung der völligen Instrumentalisierung der Lutherhalle für die staatlichen Belange durch Gründung eines ökumenischen Arbeitskreises (TARF) sind bekannt, werden aber aus der musealen Blickrichtung neu be­leuchtet.
Erst mit dem 4. Kapitel »450. Bauernkriegsjubiläum 1975. Ge­schichtswissenschaft und Musealisierung im Kontext deutsch-deutscher Beziehungen (1967–1975)« beginnt die deutsch-deutsche Konkurrenzgeschichte der Rezeption. Museal gesehen kommt es in der Bundesrepublik nach der legendären Rede von Bundespräsident Gustav Heinemann bei der Bremer Schaffermahlzeit 1970 über die deutsche freiheitliche Tradition 1975 dennoch nur zu Archivausstellungen. In der DDR wird mit der Gründung und der Einweihung der Zentralen Gedenkstätte »Deutscher Bauernkrieg« dagegen 1975 in Mühlhausen ein traditionspolitischer Schwerpunkt geschaffen, der sich allerdings im Blick auf das anstehende Lutherjubiläum schon bald als überholungsbedürftig erwies.
Mit dem 5. Kapitel »Museale Luther-Ehrung 1983 in Ost und West (1974–1985)« erreichte die museale Würdigung der Reformation in beiden Staaten ihren Höhepunkt, obgleich von einer gleichwertigen Rezeption nicht die Rede sein kann. Das illustriert die von Historikern initiierte Planung und Durchführung der Nürnberger Lutherausstellung im Germanischen Museum im Vergleich zu den zentralen staatlichen Aktionen in der DDR eindrucksvoll. Die Wirklichkeit war jedoch auch in der DDR vor allem auf der Museumsebene nicht konfliktfrei. Dafür sorgen immer wieder notwendige Gebäudereparaturen, das neue Lutherverständnis (Eingliederung in die revolutionäre Tradition), die Umsetzung zentraler Beschlüsse auf lokaler Ebene und die erwünschten Abstimmungen mit den kirchlichen Interessen. Für Wittenberg kann S. die ambivalente Situation instruktiv mit vielen Details belegen: engagierte Umgestaltung des Museums, politische Einflussnahme und Kontrolle (Leitungswechsel in der Lutherhalle), Regionalkirchentag mit dem nicht abgesprochenen Grußwort Richard von Weizsäckers und der überraschenden Schmiedeaktion (Schwert zu Pflugschar) im Lutherhof durch eine kirchliche Friedensgruppe.
Das 6. Kapitel »Was kommt nach Luther? 500. Geburtstag Thomas Müntzers (1984–1990)« deutet bereits in der Überschrift das Dilemma an. Der Maßstab von 1983 war für das Müntzerjubiläum nicht realisierbar. Die Konkurrenz zur Bundesrepublik entfiel. Für die Kirche hatte Müntzer nicht die gleiche Bedeutung. Am schwierigsten war die Neubewertung Müntzers als Theologe, mit der die Museen wie die Öffentlichkeit insgesamt überfordert waren (vgl. 383 f.: Erfurter Stasidokument). Wachsende gesamtgesellschaftliche Probleme wirkten sich ebenfalls aus, wurden aber von den Leitungsgremien kaum zur Kenntnis genommen. Die offiziellen Thesen standen als Leitlinien erst Anfang 1988 zur Verfügung. Dennoch wurden vor allem für die zentralen Ausstellungen in Berlin Ergebnisse von hoher Qualität erreicht. Sie wurden jedoch in der gesellschaftlichen Umbruchsituation kaum noch zur Kenntnis genommen. Als das Jubiläum offiziell beendet wurde, mussten die Vertreter des Kirchenbundes einen Teil der leeren Plätze des Politbüros einnehmen. Erst nach einer längeren Übergangszeit war es möglich, für die museale Würdigung der beiden reformatorischen Kontrahenten Luther und Müntzer neue Konzepte zu finden und die Rudimente des Traditionsverständnisses der DDR zu ersetzen.
S. hat für seine Untersuchung archivalische Recherchen in einem Ausmaß unternommen, wie das zu dieser Thematik noch nicht geschehen war. Dadurch erreicht er mit seinen stets belegten Schilderungen eine große Authentizität. Zahlreiche Abbildungen, die zum guten Teil ebenfalls Quellenwert besitzen, verstärken das Urteil. Mit der Wittenberger Lutherhalle als Schwerpunkt hat S. eine einleuchtende Wahl getroffen. Dadurch gelingt ihm, die traditionelle Lutherrezeption genauso erkennbar zu machen wie die Neuansätze des marxistischen Geschichtsverständnisses mit ihren Schwierigkeiten in der Umsetzung angesichts der sich verändernden Verhältnisse in Politik und Forschung, aber auch der kirchlichen Wirklichkeit. Das von Christoph Kleßmann übernommene historiographische Konzept der »asymmetrisch-verflochtenen Parallelgeschichte« erweist sich allerdings bei der musealen deutsch-deutschen Rezeptionsgeschichte bereits für Luther als nur be­grenzt brauchbar, da dem zentralistischen staatlichen Programm der DDR nichts Vergleichbares gegenüberstand. Für Müntzer gilt das Ungleichgewicht in erhöhtem Maße. Das ist S. aber be­wusst. Seine Darstellung der DDR-Rezeption der Reformation kommt der ambivalenten Wirklichkeit viel näher als die Veröffentlichungen zur universitären Historiographie. Zeitzeugen werden Einzelheiten anders sehen oder Ergänzungen für notwendig halten (z. B. zum Ende der Liberalisierung nach 1983 oder zu personellen Einschätzungen). Das dürfte jedoch kaum etwas an der Feststellung ändern, dass S. eine unverzichtbare Rezeptionsgeschichte zur Luther-Müntzer-Thematik in der DDR vorgelegt hat.