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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

926–928

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Keßler, Martin

Titel/Untertitel:

Das Karlstadt-Bild in der Forschung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVI, 596 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 174. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-153175-0.

Rezensent:

Stefan Michel

Wie unterschiedlich kann das Urteil über einen Menschen und seine Lebensleistung ausfallen! Diesen Eindruck hinterlässt die Lektüre von Martin Keßlers Göttinger Habilitationsschrift aus dem Jahr 2013. Diese Studie mahnt zur Vorsicht vor allen Darstellungen eines Helden der Geschichte, weil immer mit vorgefassten und leitenden Interessen und Annahmen der Autoren gerechnet werden muss, die den Leser oder die Leserin zu einem bestimmten Urteil verleiten können oder sogar wollen. Dem kann – wenigstens teilweise – einerseits nur durch kritische Quellenlektüre und -kenntnis oder andererseits durch Forschungskritik abgeholfen werden. Dass der Vf. über eine solide Kenntnis der Karlstadtquellen verfügt, steht zweifelsfrei fest, da er Mitarbeiter an der Kritischen Gesamtedition der Schriften und Briefe Karlstadts war, die von Thomas Kaufmann, der auch das erste Gutachten über die Habilitationsschrift erstellte, in Kooperation mit der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel veranstaltet wird.
Kaum ein Protagonist der Reformationszeit wurde von Luther so mit Kritik verfolgt wie Karlstadt. Das damals von Luther ge-fällte Urteil hing dem Wittenberger Theologen bis weit in die Neuzeit an. Erst allmählich begannen Forscher im 18. Jh., sich diesem Freund Luthers, der zu einem seiner Gegner wurde, durch Quellen- und Werkstudien zu nähern. Genau die Geschichte dieser Forschungen – also eine Forschungsgeschichte – ist das Thema der vorliegenden Studie.
In der kurzen Einleitung (1–16) stellt der Vf. Thema und Ansatz seines Buches vor und charakterisiert die Arbeiten über Karlstadt vom 16. bis zum 18. Jh. Weil der Vf. um 1800 in die Untersuchung einsteigt, umfasst der Untersuchungszeitraum der Studie etwa 200 Jahre. Dieses Vorgehen scheint berechtigt, weil erst im 19. Jh. we­sentliche Neuansätze in der Forschung stattfanden, die die vorangegangenen Ergebnisse und zum Teil auch Urteile hinter sich ließen. Unter diesen vergessenen Arbeiten um 1700 ragen vor allem diejenigen von Christian Thomasius und Gottfried Arnold heraus, die in Karlstadt freilich eher einen von Orthodoxie freien Geist sahen.
Der Vf. teilt seinen Stoff in drei große Abschnitte ein: »Die Karlstadt-Forschung im 19. Jahrhundert« (17–147), »Die Karlstadt-Luther-Kontroverse« (149–370) und »Die Karlstadt-Forschung nach Barge« (371–486). Während sich die Karlstadtforschung des 19. Jh.s in der Spannung zwischen den Deutungen von Befürwortern einer kirchlichen Union (z. B. Max Goebel) und ihren lutherisch-konfessionellen Gegnern bewegte, wurde sie zu Beginn des 20. Jh.s durch die zweibändige Karlstadtbiographie von Hermann Barge aus dem Jahr 1905 und die Diskussionen um dieses Buch vorangetrieben. Während sich Otto Clemen (Barges Schwager), Paul Kalkoff und Ferdinand Cohrs in ihren Rezensionen mit Kritik noch zurückhielten, erwuchs Barge vor allem in dem Tübinger Kirchenhistoriker Karl Müller ein erbitterter Gegner. Es gibt kaum einen namhaften protestantischen Kirchenhistoriker, der sich zwischen 1906 und 1910 nicht in irgendeiner Form zu Barges Karlstadtbuch geäußert hätte. Kernproblem war letztlich, dass Barge mit seiner »liberalen« Darstellung dem ehemaligen Wittenberger Theologen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Dafür, so die Kritik Müllers, wertete er aber die Bedeutung Luthers zu stark ab. Eine wesentliche Leistung des Buches von Barge war aber, dass sich nun verstärkt mit den Werken Karlstadts auseinandergesetzt wurde. In Lietzmanns »Kleinen Texten für theologische und philologische Vorlesungen und Übungen« erschienen sogar 1907 die Wittenberger und Leisniger Kastenordnung sowie 1911 »Von Abtuhung der Bilder«. Nach Barge bestimmten die Arbeiten von Erich Hertzsch (1932), Ernst Kähler (1948/52) und Friedel Kriechbaum (1965/67) die Deutung Karlstadts. Gerade Hertzschs Jenaer von Karl Heussi betreute Promotionsschrift, die ein besonderes Interesse an der Sozialethik seines Helden zeigte, leitete eine Neubeschäftigung mit Karlstadt ein. Der Vf. stellt darüber hinaus auch die weiterführenden Arbeiten von Ronald J. Sider, James Samuel Preus und Ulrich Bubenheimer als zweite Phase der Karlstadtforschung nach Barge vor. Vor allem die theologischen Ansätze von Sider und Bubenheimer waren für die nachfolgenden Forschungen referenziell. Archivalische Erkundungen des Vf.s brachten auch die Position des einflussreichen Leipziger Historikers Max Steinmetz zutage, die er in einem Gutachten über den Roman von Alfred Otto Schwede »Der Widersacher« äußerte. Kurz geht der Vf. auf die neusten Karlstadtdeutungen aus den Jahren von 1978 bis 2005 ein. Eine »Standortbestimmung« zur Forschungslage beschließt den Band (487–508).
Das Buch enthält reiches Material, das für eine zukünftige Beurteilung Karlstadts und eine umfassende moderne Biographie eine solide Basis bildet, indem es vorhandene Perspektiven und Zugänge beleuchtet. Es bietet detailreiche Rekonstruktionen, die auf der Grundlage umfangreicher Recherchen entstanden. Unbedingt soll die biographische Skizze über Barge hervorgehoben werden, der auch ein Bild dieses Leipziger Lehrers beigegeben ist (152–198). Interessant sind auch der Fund eines unveröffentlichten Manuskripts einer Karlstadtbiographie des Gothaer Lehrers Christian Gotthold Neudecker in der Forschungsbibliothek Gotha sowie der Abdruck einzelner Briefpassagen an Otto Clemen.
Eine solche forschungsgeschichtliche Arbeit, die solide kirchenhistorische Urteile über einzelne Positionen fällt und dadurch eine kleine Fachgeschichte am Beispiel der Karlstadtforschung vorlegt, hat es in der Kirchengeschichte lange nicht gegeben. Sie erinnert an die – freilich ganz anders motivierte – Jenaer Habilitationsschrift des marxistischen Historikers Max Steinmetz aus dem Jahr 1957, die 1971 unter dem Titel »Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels« gedruckt wurde. Steinmetz trug damals mit seinem Buch dazu bei, die Müntzerforschung im Rahmen des Paradigmas der »frühbürgerlichen Revolution« auf ein sicheres Fundament zu stellen. Nicht nur die Karlstadtedition, deren erster Band bald erscheinen soll, wird die Karlstadtforschung anregen, sondern auch diese Habilitationsschrift, die der gegenwärtigen Standort-bestimmung dient. Möge auch die vorliegende Studie der Edition nach den Anläufen durch Eugen Labes, Erich Hertzsch und Ernst Kähler zu einem sicheren Fundament verhelfen. Zudem regt sie zum Nachdenken über die Bedeutung der Reformation an: Welchen Platz will man in einer neuen Darstellung Karlstadt zuweisen?