Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2016

Spalte:

924–926

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Angel, Sivert

Titel/Untertitel:

The Confessionalist Homiletics of Lucas Osiander (1534–1604). A Study of a South-German Lutheran Preacher in the Age of Confessionalization.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XI, 306 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 82. Lw. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-153467-6.

Rezensent:

Martin Brecht

Dass eine Osloer Dissertation sich mit einer sonst wenig bekannten Gestalt aus der nachreformatorischen Generation und begrenzten territorialen Verhältnissen beschäftigt, mag zunächst verwundern. Die Wahl des Themas wird jedoch einigermaßen verständlich als Fallstudie über die Epoche der Konfessionalisierung. Hier besteht ansonsten eine Lücke in der historischen Bearbeitung. Der Titelheld ist eine durchaus bedeutende Persönlichkeit mit einer spezifischen Lebensgeschichte: Sohn des Nürnberger Reformators An-dreas Osiander, Schüler von Johannes Brenz, württembergischer Hofprediger, Prälat im Kloster Adelberg und Oberprediger in der Reichsstadt Esslingen. Er hat ein derart breites theologisches Werk vorzuweisen, dass die Dissertation gar nicht in der Lage ist, alle Aspekte einzubeziehen. Nicht nur die historischen oder hymnologischen Leistungen bleiben außer Betracht, sondern auch die ho­miletisch eigentlich relevante Bauern-Postille (1597), deren Be­rücks ichtigung im Vergleich zumindest zu erwarten gewesen wäre. Hier ergeben sich also für die Betrachter Unsicherheiten, ob das Ganze in den Blick kommt. Nachgegangen wird dem in der Forschung diskutierten Problem, welchen Einfluss Theologie und Kirche mit ihrer Verkündigung neben der Politik auf die Formung der Gesellschaft genommen haben. Die Eigenart der Homiletik Osianders wird charakterisiert. Vielleicht hätte man die Rolle der Rhetorik stärker qualifizieren müssen. Zum Vergleich wird vielfach auf Luther Bezug genommen, aber man kann sich fragen, ob das zeitlich und von den Quellen her ganz angemessen ist. Vielleicht hätte man besser auf Einschlägiges von Brenz zurückgegriffen.
Osiander wird nach seinem Epitaph und der Leichenpredigt des Stiftspropsts Johannes Magirus (Stuttgart) als typisch lutherischer Prediger präsentiert. In einer zügigen kirchlichen Karriere gelangte er 1569 in das Amt des württembergischen Hofpredigers, das sowohl große kirchliche als auch politische Einflussmöglichkeiten bot. Osiander war so an den Aktivitäten Württembergs für die Konkordie der Lutheraner und an der Abwehr gegen Jesuiten und Calvinisten beteiligt. Verehelicht war er mit der Schwester von Jakob Andreae, alsbald Kanzler der Universität Tübingen, und gehörte auch damit zum Establishment. Die wichtigste Bezugsperson für den Hofprediger war der damalige Herzog Ludwig (gest. 1593), unter dem der bewährte Verbund von Staat und Kirche fortgeführt wurde. Dies änderte sich unter Herzog Friedrich I., dessen Regierungsweise bereits absolutistische Ansätze aufwies. Osiander wurde entlassen und versetzt. 1598 musste er sogar Württemberg verlassen.
Die Tätigkeit des Hofpredigers innerhalb des territorialkirchlichen Systems führt Sivert Angel etwas überraschend anhand ausgewählter Leichenpredigten vor, die der Hofprediger beim Tod Hochgestellter zu halten hatte. Im Falle von Herzog Ludwig werden sogar alle vier Leichenpredigten der verschiedenen leitenden Geistlichen behandelt. Osiander kam dabei die Predigt bei der Beisetzung des Herzogs in der Tübinger Stiftskirche zu. Er verschwieg die Schwäche des Herzogs, seine Trunksucht, nicht, präsentierte ihn aber als den väterlichen Regenten seiner Untertanen. Weitere Leichenpredigten bezogen sich u. a. auf Herzog Ludwigs verstorbene Ehefrau sowie auf seine Mutter, die Ehefrau Herzog Christophs, ein delikater Fall, weil sie zuvor jahrelang in Nürtingen festgesetzt gewesen war. Schließlich ist auch die Leichenpredigt auf Jakob Andreae hier miteinbezogen. Die Quellen sind jeweils gut recherchiert und spannend dargeboten, aber sie tragen eben nur indirekt zur Sache bei. Lutherische Lehre und obrigkeitliche Herrschaft wurden dabei als harmonisches Verhältnis vorgeführt.
Der Lebensgang Osianders bietet dem Vf. die Möglichkeit, ne­ben dem lutherischen Fürstenstaat eine evangelische Reichsstadt miteinzubeziehen. Dabei sollte man freilich nicht übersehen, dass Osiander selbst in Nürnberg geborener Reichsstädter und sein Lehrer Brenz eben auch der langjährige Prediger von Schwäbisch Hall gewesen war, ehe er in württembergische Dienste trat. Die Reformation in Esslingen war ursprünglich oberdeutsch-zwinglianisch geprägt gewesen, was freilich nicht überbetont werden sollte, sonst wird die Darstellung zu grob. Es meldeten sich zwar calvinistische Tendenzen. Aber 1568 war für einige Zeit die Universität Tübingen wegen der Pest nach Esslingen verlegt gewesen, und Jakob Andreae hatte dort seine programmatische Predigtreihe zur Überwindung der Spaltungen unter den Lutheranern gehalten. Der Vf. geht davon aus, dass die Reichsstadt durch das von Peter Blickle postulierte (zwinglianische) System des Kommunalismus bestimmt gewesen sei, in dem neben dem Patriziat auch die mittleren und unteren Gesellschaftsschichten an der Regierung der Stadt Anteil hatten. Blickles Theorie hat sich allerdings nicht überall durchgesetzt und ist für die schwäbischen Reichsstädte schwerlich zutreffend. Schon die späteren calvinistischen Strömungen sind nicht ohne Weiteres mit dem Zwinglianismus gleichzusetzen. Die Abläufe in Esslingen lassen sich auch ohne solche soziologischen Annahmen verstehen. Zudem hatten die mit dem Interim vom Kaiser in den Städten verfügten Verfassungsänderungen die Stellung des Patriziats verstärkt. Zutreffend ist, dass Osiander in Esslingen alsbald in Gegensatz geriet zu dem dortigen Superintendenten Christoph Hermann, dem es um eine stärkere Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der Obrigkeit etwa hinsichtlich der Sittenzucht in der Stadt zu tun war. Ob das mit den Kategorien von oben gegen von unten zu fassen ist, kann bezweifelt werden. Entsprechend seiner Prägung durch die württembergischen Verhältnisse stellte sich Osiander auf die Seite des Rats.
Konkret werden Osianders Esslinger Katechismuspredigten ausführlich untersucht. Der Vf. zieht dabei geradezu anachronistisch die Predigten Luthers von 1529 heran, aus denen dieser seine Katechismen entwickelt hatte. Der Vergleich wird allerdings dadurch weiter beeinträchtigt, dass sich Osiander auf den anders als bei Luther aufgebauten Katechismus von Brenz bezieht. Das ausführliche Vergleichen mit Luther bringt dann auch nicht eben viel, nicht einmal eine fassbare These, allenfalls einige unterschiedliche Nuancen, weil das patriarchal bestimmte System des Landeskirchentums in diesem Fall von Brenz vorgegeben ist. Dennoch ist Brenz als einer der treuesten Schüler Luthers unbestreitbar dem Luthertum zuzurechnen. Der Hinweis auf die jeweilige Eigenart von Rhetorik, Pädagogik und Lehrdarbietung verdient Beachtung und wird angemessen umzusetzen sein. Dass Osianders Katechismuspredigten eine spezifische Städte-Religiosität widerspiegeln sollen, ist schwer nachzuvollziehen. Hingegen kann man voll zustimmen, wenn er als ein typischer Vertreter der lutherischen Konfessionalisation herausgestellt wird. Damit vermittelt die vorliegende Untersuchung bereichernd historische Anschauung in einem sonst wenig bekannten Bereich. Außerdem stellt sie die Frage nach den angemessenen und vielleicht auch nach den ungeeigneten Verstehenskategorien gerade auch für die Epoche des Konfessionalismus.