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Ausgabe:

September/2016

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda, Sim, David C., and Ian J. Elmer[Eds.]

Titel/Untertitel:

Paul and Mark. Comparative Essays Part I: Two Authors at the Beginnings of Christianity. Berlin u. a.: De Gruyter 2014. IX, 709 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 198. Geb. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-027279-6.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Becker, Eve-Marie, Engberg-Pedersen, Troels, and Mogens Müller [Eds.]: Mark and Paul. Comparative Essays Part II: For and Against Pauline Influence on Mark. Berlin u. a: De Gruyter 2014. VIII, 330 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 199. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-031455-7.


Die beiden vorzustellenden Bände dokumentieren Beiträge »zu einer klassischen Fragestellung der neutestamentlichen Wissenschaft« (Bd. I, 3): Wie verhalten sich die in literarischer und theologischer Hinsicht profilierten Entwürfe der Briefe des Paulus sowie des zweiten Evangeliums zueinander? Lässt sich – wie in Variation eines berühmten dictums Martin Kählers immer wieder postuliert wurde – der Erzählentwurf des Markusevangeliums z. B. als eine Narrativierung der paulinischen Kreuzestheologie begreifen?
»Klassisch« geworden sind entsprechende Fragen allerdings erst seit dem 19. Jh. im Gefolge der Etablierung und Durchsetzung der Zwei-Quellen-Theorie. Katalysatorische Funktion hatte sodann vor allem die Tübinger Tendenzkritik, die mit grundlegenden personalen Polaritäten im Frühchristentum rechnete und diese stark theologisch auflud (vgl. Bd. I, 19–42). Nach Paulus und nach Markus zu fragen, kann erst seit dieser forschungsgeschichtlichen Phase heißen, sich auf die » beiden ersten literarisch tätigen Gestalten des entstehenden Christentums in ihrer faszinierenden Unähnlichkeit« zu beziehen (Bd. I, 11) bzw. auf ihre Werke unter dem Aspekt der »Anfänge der christlichen Literatur« (Bd. I, 13) und ihrer literatursoziologischen Verortung.
Der erste der beiden Bände, der auf eine Projekt-Initiative von David Sim und Oda Wischmeyer zurückgeht und der neben deren Beiträgen eine Fülle von Aufsätzen deutschsprachiger, skandinavischer und australischer Autorinnen und Autoren umfasst, beginnt mit einer Einführung und gibt Einblicke in die besondere Profilierung des Problems Paulus – Markus im Zusammenhang der Interpretation der Geschichte des Urchristentums von der Mitte des 19. Jh.s bis zum 1. Weltkrieg, d. h. noch vor der die weitere Forschung stark bestimmenden Untersuchung Martin Werners (Der Einfluß paulinischer Theologie im Markusevangelium, BZNW 1, Gießen 1923). Sodann enthält der Band eine facettenreiche Mischung aus stärker historisch orientierten sowie konzeptionell-theologisch komparatistischen Beiträgen. Untergliedert wird nach der forschungsgeschichtlichen Orientierung in »Historische Fragen« und »Theologische Heuristik«; ein finaler Abschnitt richtet sich auf mögliche Resonanzen einer Beziehung zwischen Paulus und Markus in der frühchristlichen »Rezeptionsgeschichte« bis hin zu Papias.
Nach stärker thetischen und auch Sondermeinungen vertretenden Beiträgen zur historischen Situierung des zweiten Evangeliums werden Fragen der konzeptionellen Komparatistik fokussiert; unter ihnen z. B. der Schriftgebrauch, aus verschiedenen Blickwinkeln die Deutung des Leidens und des Kreuzestodes Jesu bzw. die Soteriologie, die Rezeption und Rekonzeptualisierung jüdischer Praktiken und Theologumena, Zeit- und »Geschichts«-Aussagen, die Markus und Paulus scheinbar so besonders koordinierende Auffassung des Begriffs »Evangelium«, die Modellierung der »Glaubens«-Terminologie, das Liebesgebot, aber auch die Perspektivierung von Akteuren der Geschichte des ältesten Christentums wie Petrus oder die Familie Jesu.
Damit sind zentrale Themenkreise angeschnitten, die mit innerer Notwendigkeit immer wieder auch im zweiten Band zur Geltung kommen (vgl. z. B. die im Ansatz und Ergebnis deutlich differenten Beiträge zum »Evangeliums«-Konzept: Bd. I, 313–359; Bd. II, 63–86). Dieser zweite, deutlich kürzere Band setzt dabei zunächst eigenständig an, indem er zwei Tagungen an den Universitäten Aarhus (September 2010) und Kopenhagen (August 2011) dokumentiert. Besonderes Augenmerk gilt dabei der literarischen Gattungsproblematik (narrativer Text – Brief; hierzu vor allem: Bd. II, 87–105; 107–117) und insgesamt der, wie im Titel markiert, umgekehrten Fragerichtung einer kontinuierlichen oder gegebenenfalls auch diskontinuierlichen Reaktion des markinischen Textes auf die briefliche Theologie des Paulus. Die Beiträge werden in die Rubriken »Histories and Contexts«, »Texts and Interpretations« sowie »Topics and Perspectives« untergliedert. In dem »Texts and Interpretations« überschriebenen Teil werden insbesondere Röm 1,1–7 und Mk 1,1–3 ausführlich verglichen; ferner richtet sich der Blick auf den so oft in Bezug auf das Verhältnis von Paulus und Markus diskutierten – nach wie vor heftig umstrittenen – Erzählzusammenhang Mk 7,1–23 sowie ferner auf christologische, soteriologische und eschatologische Konzepte in Mk 2,27 f. sowie 8,34–9,1.
Allein schon die Nennung aller Beiträgerinnen und Beiträger sowie der Titel ihrer (inklusive der einleitenden Passagen) insgesamt 37 Artikel (22 im ersten Band; 15 im zweiten Band) würde die dieser Besprechung konzedierte Zeichenzahl erschöpfen. Eine Auswahl bliebe – auch in Anbetracht der in vielerlei Hinsicht weiterhin offenen Forschungssituation (s. u.) – notwendig defizitär. Auf eine Konturierung der Einzelpositionen muss darum an dieser Stelle verzichtet werden.
Beide Bände spiegeln den Reichtum an methodischen Frageperspektiven wider, mit denen die neutestamentliche Wissenschaft z. B. begriffsgeschichtlich/wortsemantisch, traditionsgeschichtlich/ textsemantisch, überlieferungsgeschichtlich, formgeschichtlich bis hin zu theologisch-konzeptionellen Fragen auf die zur Diskussion stehenden brieflichen und erzählenden Texte zuzugreifen vermag. Dabei sind die methodischen Schwierigkeiten immer wieder mit Händen zu greifen, wenn es darum gehen soll, nicht nur die Inhalte, sondern auch das »wie« der Darstellung in den verschiedenen Textcorpora angemessen zu erfassen. So treten narratologisch-methodische Schritte in der Analyse des zweiten Evangeliums, wie sie in den vergangenen drei Jahrzehnten der Synoptikerforschung als notwendig und weiterführend erkannt worden sind, in vielen Beiträgen auffällig stark in den Hintergrund. Der Blickwinkel von Paulus her führt vielfach dazu, dass auch das Markusevangelium vorrangig auktorial bzw. doktrinal interpretiert werden soll; forschungsgeschichtlich führt dies zum Teil in die ältere Redaktionsgeschichte zurück. Kann man aber z. B. nach Zeit- bzw. Geschichtskonzeptionen eines Erzähltextes fragen, ohne konsequent zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit zu unterscheiden und ohne nach der »Geschwindigkeit« der Erzählung zu fragen (vgl. z. B. das häufige εὐθύς »sogleich« im zweiten Evangelium) etc. – mit anderen Worten nach allen Instrumenten eines narratologischen Zeitmanagements? Ist die narrative Konzeptualisierung der Figur Jesu im zweiten Evangelium unter solchen Vorzeichen den christologischen Aussagen der Paulusbriefe nicht zum Teil viel inkommensurabler? Der markinische Jesus ist jedenfalls nicht, wie es in manchen Beiträgen beider Bände vorausgesetzt wird, völlig frei von einer »Entwicklung«. Bis zum zehnten Kapitel ist Jesus bei Markus der Wunder Wirkende und der souverän Gebende; im Übergang zur Passionsgeschichte nimmt er dagegen mehr und mehr die Rolle des Bittenden und Erwartenden ein, der coram voluntate Dei an die Seite der Jünger rückt (vgl. Mk 10,41–45 u. a.). Entsprechende Möglichkeiten der Erzählung machen einfache Vergleichungen zur paulinischen »Christologie« in einer theologischen Komparatistik eminent schwierig. Narratologisch reflektiert müsste man auch fragen, inwieweit von einer markinischen »Gemeinde« (»congregation«) in Analogie zu den konkreten Adressatenschaften der Paulusbriefe zu sprechen ist (vgl. Bd. II, 107–117).
In die hermeneutische Rahmengebung des Projektes wirken vor allem auch jüngere Ansätze deutlich hinein, die – unter Zurückstellung überlieferungskritischer, literarkritischer und vor allem traditionsgeschichtlicher Fragestellungen – von den kanonischen Endprodukten der neutestamentlichen Schriften her denken. Der Ansatz Marcus post Paulum eum legens et recipiens ist in jüngerer Zeit vor allem von Joel Marcus vertreten worden. Sein programmatischer Aufsatz, in dem er die Aufnahme der brieflichen Theologie des Paulus im Markusevangelium durchgängig positiv entscheidet (ursprünglich: NTS 46, 2000, 473–487), wird darum im zweiten Band in erweiterter Form noch einmal abgedruckt (Bd. II, 29–49; flankiert durch hilfreiche Orientierungen zur jüngeren Forschungsgeschichte: Bd. II, 13–27; 51–61). Zu fragen ist, inwieweit hier die Wunschperspektive die Kontrolle übernimmt, dass sich unser Bild des frühen Christentums doch in irgendeiner Weise kartographisch resp. »organologisch«/genetisch zusammenfügen könnte und die hierfür aussagekräftigen und relevanten Dokumente tatsächlich sämtlich in den späteren Kanon Eingang gefunden haben. Ist dieses – forschungsgeschichtlich zu­gleich stark prosopographisch zugeschnittene – Konzept eines gegebenenfalls maximal das gesamte Frühchristentum (positiv oder negativ) in Bann nehmenden »Paulinismus« der Quellenlage in den ersten Generationen jedoch wirklich kompatibel? Hier bleiben beträchtliche Zweifel (vgl. das diesbezüglich abgewogene und gut begründete zurückhaltende Urteil von O. Wischmeyer: Bd. I, 388 f.).
Bemerkenswert ist weiterhin, dass in vielen Beiträgen beider Bände faktisch Paulus mit seiner brieflichen Theologie als der explicatus erscheint, dies auch im Licht der aus der »New Perspective« folgenden Neuansätze, »Markus« dagegen weiterhin als der explicandus. Im Kern gehen alle Beiträge, explizit oder implizit, mit der schwierigen Frage um: Was wird eigentlich nicht nur wie, sondern womit verglichen?
Schon die Frage, was denn als »genuin« paulinisch oder gegebenenfalls auch rezeptionsgeschichtlich als Ausdruck von »Paulinismus« gelten könnte, wird in einzelnen Beiträgen sehr unterschiedlich beantwortet. Als tragfähig erweisen sich hier traditionsgeschichtliche Zugänge, die sich auf einzelne Zusammenhänge kon­kreter Paulusbriefe konzentrieren. Vor allem aber droht der zweite Bezugspunkt der methodisch so vielfältigen und reichen Vergleichungen immer wieder zu verschwimmen: nämlich der Text des zweiten Evangeliums in seiner soziohistorischen Verortung (nach wie vor finden sich z. B. Verfechter der Rom-Hypothese, demgegenüber auch Vertreter einer syrischen Provenienz – mit zum Teil sehr plausiblen Beobachtungen und Argumenten – etc.), seiner besonderen Sprache, seiner narrativ-technischen Anlage, seiner gattungsgeschichtlichen Einordnung, seiner besonderen Pragmatik und seinem eigentümlichen theologischen Profil. Die Lektüre der beiden Bände kann einen auch mit der Frage zurücklassen: Inwieweit ist beim gegenwärtigen Forschungsstand in quaestionibus Evangelii secundi ein derartiges komparatistisches Profilierungsprojekt überhaupt eine realistische Möglichkeit? Allein schon das Problem des Markusschlusses bleibt eine offene Flanke: Wie will man die christologische, soteriologische, eschatologische und theologische Konzeption eines Textes zuverlässig fassen, dessen Ende bislang so dunkel und umstritten bleibt? In den Beiträgen der beiden Bände gilt hier – ungeachtet von »Familienähnlichkeiten« in einzelnen Interpretationen – zugespitzt: quot capita, tot sensus.
Zuletzt: Aus der Gesamtanlage des Projektes ergibt sich naturgemäß, dass sich die Energien überwiegend positiv auf das Suchen, Auffinden und Beschreiben von Korrelaten richten. Es ist kein Zufall, dass dabei im Wesentlichen eine begrenzte Anzahl von Texten und Themen rekapituliert und retraktiert wird, wie sie schon früh, z. B. in der Untersuchung von Werner, auf der Agenda stand. Dagegen steht die Absicherung durch Gegenproben, d. h. durch das Offenlegen und Erklären fehlender Korrelate, die an gravierenden Stellen zu verzeichnen sind, vielfach nicht im Fokus.
Wenn man z. B. den markinischen »Evangelium«-Begriff verhandelt, könnte noch stärker akzentuiert werden, dass Jesus für den zweiten Evangelisten ja zuerst »Lehrer« ist. Keine Marginalie beschreibt es, wenn die von Markus in seiner Jesusgeschichte so stark akzentuierte therapeutische Soteriologie (Exorzismen, Therapien) in der brieflichen Theologie des Paulus nur sehr bedingt ein Widerlager findet. Umgekehrt finden einige der als zentral geltenden paulinischen Sprachspiele (das juridische Konzept der Rechtfertigung, die Rede von Versöhnung u. a.) in der Konzeptualisierung der markinischen Soteriologie kein klares Echo. Die sogenannten Hoheitstitel »Christus«/»Davidsohn« und »Gottessohn« bleiben für das zweite Evangelium innerhalb des narrativen Prozesses in enger Abstimmung auf die Kommunikation mit der Leserschaft viel stärker ambivalent, als dies bei Paulus der Fall ist; das einzige Würdeattribut für Jesus, welches bei Markus nicht ambivalent ist, nämlich der »Menschensohn«, findet bei Paulus kein Widerlager. Auch in Hinsicht auf die immer wieder als zentrales Bindeglied zwischen Markus und Paulus ins Zentrum gerückte »Kreuzestheologie« wäre kritisch nach Äquivokationen in der Komparatistik zu fragen. Paulus gebraucht »Kreuz«/»Kreuzigen« ausdrücklich z. B. ja nur in relativ wenigen Passagen seiner Briefe; aber auch bei Markus fällt auf, dass Jesus hier (in Figurenrede) nicht explizit von seinem »Kreuz«/»Gekreuzigtwerden« spricht. Auch »Ostern« bietet nicht eine einfache Invariante; das zweite Evangelium konzeptualisiert die entscheidende These der Auferstehung/Auferweckung Jesu anders, als dies beim Apostel der Fall ist etc.
Insgesamt wird man beide Bände, die ein ambitioniertes und lohnendes Projekt umfassend dokumentieren, immer wieder mit Gewinn zur Hand nehmen, besonders auch, wenn man sich mit dem, nach wie vor in vielem rätselhaften, ältesten der später in den Kanon eingegangenen Evangelien beschäftigt.