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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

911–913

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Troi-Boeck, Nadja

Titel/Untertitel:

Konflikt und soziale Identität. Soziale Werte, Exklusion und Inklusion in einer heutigen Kirchengemeinde und im Matthäusevangelium.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014. 504 S. m. 5 Abb. Kart. EUR 49,99. ISBN 978-3-17-026315-4.

Rezensent:

Stephanie Barthel

Die vorliegende Dissertation von Nadja Troi-Boeck, Lehrbeauftragte an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Pfarrerin in Buchs ZH, ist ein methodisch origineller Beitrag zur neutes-tamentlichen Forschung des Matthäusevangeliums im deutschsprachigen Raum. Eingereicht wurde die Dissertation bei Moises Mayordomo und Christoph Müller.
Zielsetzung der Studie ist eine sozialpsychologische Exegese des Matthäusevangeliums. Der Fokus liegt hierbei auf der Analyse so­zialer Gruppenphänomene auf Grundlage des Social Identity Ap­proach (SIA), der sich mit der Erfassung organisationaler Identifikationen beschäftigt. »Das Werkzeug des SIA soll helfen, die identitätsbeeinflussenden Elemente des Textes zu suchen und einen möglichen Einfluss auf Erstrezipienten zu rekonstruieren.« (75) Vorausgesetzt wird von der Vfn., »dass es eine Abgrenzungsproblematik zwischen Synagogengemeinde und einer matthäischen Gemeinde gab« (23). Durch die Einbeziehung des sozialpsychologischen Ansatzes erhofft sich die Vfn. einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich des historischen Kontextes der matthäischen Ge­meinde.
Einhergehend mit der Entscheidung für eine sozialpsychologische Perspektive auf das Matthäusevangelium ist eine methodische Verschränkung der beiden Teildisziplinen Praktische Theologie und Neues Testament: Die Vfn. beginnt ihre Analyse mit einer qualitativ empirischen Studie einer Schweizer Kirchengemeinde mit Trennungskonflikt, der in einer Spaltung resultierte. Die Ergebnisse dieser Einzelfallstudie möchte sie für die exegetische Untersuchung des Matthäusevangeliums fruchtbar machen und vice versa. Rahmentheorie beider Studien ist der theoretische Ansatz des SIA.
Die Dissertation ist in insgesamt vier Hauptkapitel gegliedert: Sie beginnt mit einer methodisch-theoretischen Grundlegung, auf die im zweiten Teil die Darstellung der Durchführung und der Ergebnisse der empirischen Einzelfallstudie der Schweizer Kirchengemeinde folgt. Den dritten Abschnitt bildet die exegetische Analyse des Matthäusevangeliums auf Grundlage der Ergebnisse der ersten beiden Teile, und im Schlusskapitel werden im Ertrag die Resultate beider Untersuchungsstränge nochmals gebündelt zu­sam­mengeführt und bewertetet.
Der erste Teil, das Methodenkapitel, beginnt mit der Darstellung des grundlegenden theoretischen Ansatzes, dem aus der Sozialpsychologie stammenden Social Identity Approach (SIA). Aus diesem Ansatz deduziert die Vfn. gut nachvollziehbar Fragestellungen für den empirischen Teil und stellt im Weiteren ihre methodische Vorgehensweise bei der Durchführung und Auswertung dieser Studie vor: Um Erkenntnisse hinsichtlich der Konstruktion von sozialer Identität nach einem Gruppenkonflikt mit Trennung zu erhalten, wurden von der Vfn. problemorientierte Leitfadeninterviews mit Mitgliedern der Schweizer Kirchengemeinde sowie der aus dem Trennungsprozess hervorgegangenen neuen Gruppe geführt. Hierbei handelt es sich um drei Interviews mit insgesamt fünf Teilnehmern aus der neu entstandenen Gruppierung sowie um drei Interviews mit insgesamt sechs Personen der ursprünglichen Kirchengemeinde. Als Auswertungsverfahren zur Bearbeitung der Leitfadeninterviews mit dem Ziel einer Kategorienbildung wurde die qualitative Inhaltsanalyse ausgewählt.
Im zweiten Teil der Dissertation werden die Ergebnisse der empirischen Studie vorgestellt. Strukturell der Vorgehensweise der qualitativen Inhaltsanalyse folgend, werden zunächst die exemplarischen Einzelfallerzählungen ausführlich dargestellt und in einem zweiten Schritt die aus den Interviews abgeleiteten, ausgewählten Kategorien analysiert, z. B. »Soziale Werte und Normen« (117). Aus den von ihr ausgewählten Kategorien leitet die Vfn. konkrete Fragestellungen für die nachfolgende Exegese des Matthäusevangeliums ab.
Als Kriterium für die Auswahl der Kategorien benennt die Vfn. deren Anwendbarkeit auf das Matthäusevangelium. Leider präzisiert die Vfn. an dieser Stelle nicht, was sie unter Anwendbarkeit auf das Matthäusevangelium versteht (117). Fraglich bleibt für den Lesenden daher auch, warum sie bestimmte, aus der empirischen Studie abgeleitete Kategorien wie z. B. »Metaphern« (203) als nicht auf das Matthäusevangelium anwendbar beurteilt.
Die exegetische Analyse des Matthäusevangeliums anhand der aus der empirischen Studie abgeleiteten Fragestellungen wird im dritten Teil durchgeführt. Im Zentrum der Untersuchung steht hierbei die Überprüfung folgender Hypothese:
»Das Matthäusevangelium (MtEv) ist ein Dokument, das den Differenzierungsprozess einer Gruppe widerspiegelt. Durch Wertvorstellungen, abgrenzende Vergleiche, Kontinuitätsbehauptungen sowie Exklusionen wird diese Gruppe legitimiert und die soziale Identität der Mitglieder stabilisiert.« (205)
Methodisch beginnt die Vfn. ihre Exegese des Matthäusevangeliums zunächst mit der phänomenologischen Untersuchung der aus den Interviews abgeleiteten Kategorien im Matthäusevangelium, deren Ergebnisse sie im Anschluss nochmals mithilfe des SIA analysiert, um Rückschlüsse auf die Konstruktion der sozialen Identität zu ziehen. Im Schlusskapitel wird der methodische Ansatz der Untersuchung reflektiert.
Insgesamt leistet die Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Forschung im Schnittfeld von Praktischer Theologie und Neuem Testament durch die Einbeziehung eines theoretischen Ansatzes aus einer anderen wissenschaftlichen Disziplin in die exegetische Arbeit: Es wird deutlich, dass sich der in der Sozialpsychologie beschriebene Ansatz des SIA als Folie für die Exegese eines neutes-tamentlichen Textes eignet und exegetische Erkenntnisse mit so-zialpsychologischen Begriffen treffend beschrieben werden können.
Zu fragen wäre, ob das Postulat der Vfn. zutreffend ist, durch die empirische Studie seien neue bzw. präzisere Fragestellungen für die Exegese der Konfliktsituation im Matthäusevangelium entstanden, die durch eine exegetische Analyse und den theoretischen Ansatz des SIA allein nicht in den Blick gekommen wären (z. B. »Welche Kontinuitätsvorstellungen finden sich in den Texten des Matthäusevangeliums? Welche Funktion hat das Kontinuitätsmotiv im MtEv?« [152]) Dies erscheint insbesondere deshalb überraschend, weil die Vfn. im Schlusskapitel ihrer Dissertation hervorhebt, dass sie das Motiv der Kontinuität durch die Arbeit mit dem Matthäusevangelium entdeckt habe, nicht durch die empirischen Studie (475).
Positiv ist festzuhalten, dass die empirische Studie die aus der Exegese des Matthäusevangeliums bekannten Ergebnisse bekräftigt. Insgesamt leistet die Dissertation einen innovativen Beitrag zur Forschung durch die konsequent durchgeführte sozialpsychologische Perspektive bei der Exegese des Matthäusevangeliums.