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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

905–907

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hübenthal, Sandra

Titel/Untertitel:

Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 526 S. m. 1 Abb. u. 6 Tab. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 253. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-54032-9.

Rezensent:

Johannes U. Beck

Sandra Hübenthal, seit 2015 Professorin für Exegese und Biblische Theologie am Department für Katholische Theologie in Passau, macht mit ihrer Studie »Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis« die Ergebnisse eines mehrjährigen DFG-geförderten Projekts zugänglich. Die Arbeit ist zugleich ihre Habilitationsschrift und knüpft an gedächtnistheoretische Ansätze an, die in der neutestamentlichen Exegese bisher vor allem im Rahmen der Jesusforschung Anwendung fanden (40). H. hingegen ist daran gelegen, mithilfe der Gedächtnistheorie das Markusevangelium als Externalisierung eines kollektiven Gedächtnisses zu lesen (156), die »auf die hinter dem Text stehende Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft hin transparent« (238) ist.
Die Untersuchung beginnt freilich nicht mit der Explikation der Fragestellung. Vielmehr ordnet H. das von ihr favorisierte Lesemodell als eine von mehreren möglichen Perspektiven auf das Markusevangelium in ein »exegetische[s] Kaleidoskop« (11) ein, das anstelle eines Forschungsüberblicks die Arbeit eröffnet. Schon diese Zuordnung lässt den Duktus des Folgenden erkennen, in dem in kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischem Rahmen immer wieder Einsichten und Prämissen anderer Perspektiven übernommen werden und als Argumentation für die eigene Perspektive dienen, ohne dass die jeweils differierenden Voraussetzungen stets deutlich wären. Insgesamt gliedert sich die Untersuchung in zwei große Abschnitte. Während im ersten Teil theoretische Grundlagen sozialer Erinnerung nachgezeichnet (Kapitel 2) und die hier gewonnenen Einsichten auf das Markusevangelium übertragen werden (Kapitel 3), wird dieses Lesemodell im zweiten Teil »in methodisch gestützten Tiefenbohrungen auf Mk 6,7–8,26 appliziert […]« (73, Kapitel 4–6).
Bereits im dem ersten Teil vorausgehenden »Kaleidoskop« liegt der Fokus auf denjenigen Aspekten, die Anknüpfungspunkte für ein Modell sozialen Erinnerns bieten. Eine besondere Nähe zeigt sich zur historischen Kritik, insoweit sie nach der Genese der Jesusüberlieferung bis hin zur Verschriftlichung fragt. Der Blick, mit dem H. das Markusevangelium betrachten will, ist jedoch weder auf das Objekt der Überlieferung noch auf die Textgeschichte, sondern »auf das Subjekt der Erinnerung gerichtet« (69). Diesbezüglich setzt sie wohl eine konkrete Erzählgemeinschaft der »Markusleute« (225 u. ö.) voraus, die methodisch aber nicht anders denn in der Funktion des impliziten Autors und damit als Funktion des Textes aufgezeigt werden kann. Wesentlich für ihren Blick auf das Markusevangelium ist die Einsicht, dass Erinnerung stets ein Konstrukt »kulturelle[r] Übereinkunft« (113) ist, wobei der Prozess »einer adäquaten Transformation der ge- und erlebten Erfahrung« (105) in Sprache mit der Verschriftlichung eine »(vorläufig) endgültige Form« (116) erreicht. Letztere verortet H. auf der Stufe des kollektiven Gedächtnisses (146), das ihrer eigenen Matrix eines idealen Verlaufs sozialen Erinnerns (148) nach chronologisch aus dem sozialen Gedächtnis folgt und – jeweils durch eine Zeit der Krisis evoziert – ins kulturelle Gedächtnis mündet. Der Übertragung dieses Konstrukts auf das Markusevangelium entspricht so »unausgesprochen« ein bestimmtes »Text- und Wachstumsmodell« (364), in dem die Einsichten klassischer Formgeschichte undiskutiert An­wendung finden (158). Ziel solcher Übertragung ist es, das Markusevangelium funktional als Erinnerungsdeutung und Identitätskonstitution zu lesen. Als solches ist es »eher transparent auf die Gruppe hin, die in ihr Vergangenheitsdeutung betreibt, als auf die Vergangenheit selbst hin« (161). Freilich ist auch diese Ausweitung von Textbeobachtungen auf die textexterne Kommunikationsebene »mit Problemen behaftet« (165), weshalb H. sich an der Textpragmatik orientiert, ohne die Frage nach der »Welt hinter der Erzählung« (227) als Welt der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft aufzugeben. Einerseits werden dadurch Elemente der er­zählten Welt immer wieder historisch ausgewertet, andererseits theologische Aspekte, etwa im Hinblick auf ein adäquates Verständnis Jesu, mitunter eher vorausgesetzt als exegetisch aufgezeigt.
Der zweite Hauptteil des Buches ist der Analyse des Abschnitts Mk 6,7–8,26 im Horizont des erarbeiteten Lesemodells gewidmet. H. greift hierfür auf »Hermeneutik und Instrumentarium der narrativen Analyse« zurück und folgt entsprechend »für die vorliegende Aufgabe dem Primat der Synchronie« (237). Im ersten von mehreren Durchgängen kommen zunächst die Struktur und die intertextuellen Beziehungen der Erzählsequenz in den Blick. Sodann eruiert H. die verschiedenen narrativen Perspektiven, die im ge­wählten Abschnitt erkennbar sind. Gewinnbringend ist die Orientierung an der »Theorie multiperspektivischen Erzählens« (314), wenn auch die eigene »Standortgebundenheit« (321) der Rezipientin nur bedingt in die Überlegungen einfließt. Der vorausgesetzten Textgenese gemäß orientiert sich die Betrachtung dabei primär an Einzelperikopen, die je für sich als »Erzählungen« (397 u. ö.) gefasst werden. Dies gilt selbst für den dritten Analyseschritt, der die »Ebene des Werkganzen« (238) einholen soll, bleibt doch die Reflexion mehrheitlich auf intratextuelle Verweise beschränkt. Offen bleibt mitunter auch, was die Beobachtungen tatsächlich je »für das Verständnis des Textes« (312) austragen.
Wiederholt formuliert H. weiterführende Einsichten, die etwa die »Autorität des Textes« gegenüber der »Autorität des Autors« (64 u. ö.), die Unhintergehbarkeit des Textes für die Interpretation (358) oder die Bedeutung des Markusevangeliums als »Founding Story« (354 u. ö.) betreffen. Dennoch scheinen diese in der exegetischen Durchführung nicht immer konsequent zum Tragen zu kommen. Zumindest irritierend ist ferner, dass H. im Horizont der von ihr behaupteten Transparenz des Textes einerseits auf eine »produktionsorientierte […] Lektüre« (237) zielt, andererseits die Exegese im Horizont der Frage nach »Familiarisierungsangebote[n]« (227 u. ö.) jedoch weitestgehend »rezeptionsästhetisch« (302 u. ö.) orientiert ist. Geschuldet ist diese Schwebe eventuell der Annahme, »zum besseren Verständnis des Textes« trage das »Verstehen des Selbstverständnisses und der Situation der Erzählgemeinschaft« (371) bei, das selbst wiederum einzig aus dem Text gewonnen wird. Auch wenn H. die Zirkelschlüssigkeit und sogar Unmöglichkeit dieses Vorgehens konstatiert (355), hält sie am Versuch der Erschließung der Welt hinter dem Text fest. Hier liegt zugleich der neuralgische Punkt der Untersuchung, ist jene Welt doch nie anders denn als Teil der vor dem Text entstehenden Welt des Rezipienten oder der Rezipientin zugänglich. In jedem Fall leistet der gedächtnistheoretische Zugang H.s einen »Gesprächsbeitrag« zur exegetischen Diskussion, der neben Eröffnendem »auch die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens« offenbart und so dem eigenen Anspruch gemäß »auf ein konstruktives […] Gespräch nebst methodischen und hermeneutischen Modifizierungen« (462) hoffen darf. Auf dem Weg vom Verständnis des Markusevangeliums als historischer Quelle zur Frage, welche theologischen »Interpretationen […] im Text vermittelt werden« (165) und »zu welcher Form christlicher Identitätsbildung das Markusevangelium einlädt« (359), kann jener Beitrag gleichwohl einen wichtigen Schritt darstellen.
Formal treten leider Verschreibungen so gehäuft auf, dass sie den Lesefluss beeinträchtigen. Hilfreich hingegen ist das beigefügte Stellen-, Personen- und Sachregister.