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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

865–866

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Stolte, Ansgar

Titel/Untertitel:

Liturgische Quellen im Bistum Osnabrück. Studien zur ortskirchlichen Rezeption des römischen Ritus.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2013. 456 S. m. CD-ROM = Studien zur Pastoralliturgie, 37. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-7917-2543-7.

Rezensent:

Benedikt Kranemann

Die Geschichte diözesaner Liturgien hat in den vergangenen Jahren die katholische Liturgiewissenschaft immer wieder interessiert. Man hat erkannt, dass das gottesdienstliche Leben in den Bistümern in Mittelalter, Neuzeit und Moderne vielfältiger war, als lange Zeit angenommen wurde. Vor allem das generelle Diktum von einer römischen Einheitsliturgie nach dem Konzil von Trient gilt heute als weitgehend überholt. Dennoch gibt es immer noch weiße Flecken auf der Landkarte der Liturgiegeschichte, und dies gilt nicht nur für die deutschsprachigen Länder und Regionen. Die Münchener liturgiewissenschaftliche Dissertation von Ansgar Stolte rückt ein Bistum in den Blick, das bislang in der Erforschung der Gottesdienstgeschichte kaum Beachtung gefunden hat: das Bistum Osnabrück. Es ist für die Entwicklung der Liturgie gerade aufgrund des Verhältnisses von Evangelischen und Katholischen nach der Reformation und später nach dem Westfälischen Frieden ein höchst interessantes Beispiel.
Die Studie berücksichtigt Brevier, Missale, Lektionar, Evange-lis­tar und Perikopenbücher, dann den auch für die Frömmigkeitsgeschichte relevanten Heiligenkalender, das Rituale und schließlich das Prozessionale. Um die Geschichte der für die unterschiedlichen Gottesdienste notwendigen Bücher zu runden, fehlt vor allem noch das Gesangbuch, obwohl beispielsweise Hymnen der Liturgie durch den Vf. Beachtung finden. Die Untersuchung folgt den Buchtypen und gewinnt dadurch ihre Struktur. Eine ausführliche Einleitung geht voraus. Sie unterrichtet den Leser nicht nur über Ziel und Methode der Arbeit, sondern enthält auch einen Forschungsbericht und äußert sich über »Das Trienter Konzil als Meilenstein in der Liturgiegeschichte« (29–41). Als Ziel wird genannt, »den Weg und die Akzente der Rezeption der römischen Liturgie im Bistum Osnabrück anhand der erhaltenen Dokumente aufzuzeigen.« (23) Der Vergleich mit Liturgica vor allem der Nachbarbistümer Minden und Münster sowie aus Köln, zu dessen Kirchenprovinz Osnabrück gehörte, ermöglicht neben der diachronen die synchrone Analyse.
Ein auswertendes Kapitel »Zur Entwicklung der liturgischen Quellen im Bistum Osnabrück« (385–389) führt zu folgenden Er­kenntnissen: Liturgie im Bistum ist erst seit dem 13. Jh. durch Quellen fassbar, zuvor wird die bonifatianisch-karolingische Liturgiereform geprägt haben, dann seit dem 12./13. Jh. römisch-fränkische Liturgie, immer mit altgallischen Einsprengseln und beeinflusst durch verschiedene Kirchenprovinzen und vielleicht auch einzelne Persönlichkeiten. Es kann für das Mittelalter »nicht grundsätzlich von einer liturgischen Einheitlichkeit gesprochen werden« (386).
Das Tridentinum verändert die Situation, doch können seine Vorgaben faktisch erst ein Jahrhundert später, d. h. nach dem Westfälischen Frieden, umgesetzt werden. Jetzt kommt es zu einer teilweisen Romanisierung der Liturgie, aber es bleiben auch andere, möglicherweise diözesane Traditionen prägend. Letzteres gilt insbesondere, aber nicht nur, für das Rituale. Auch die Aufklärung hinterlässt Spuren in Rituale und Perikopenordnung, ebenso die Liturgische Bewegung des frühen 20. Jh.s. Dem Zweiten Vatikanischen Konzil folgt eine umfassende Liturgiereform, die für das Bistum den »weitgehenden Verlust des lokalen Brauchtums in den offiziellen liturgischen Büchern« (388) mit sich bringt. Auf die gesamte Geschichte gesehen erkennt der Vf. »verschiedene Traditionen innerhalb der einen Tradition« (388) und ein Einheitsstre ben, das nicht allein von Rom, sondern auch von der Ortskirche ausgegangen sei. Er nennt weiter die Prägung der Liturgie durch die jeweilige Zeit – worüber man allerdings gerne mehr erfahren würde –, Reform als Kontinuum und Movens der Liturgiegeschichte und die Ablösung überkommener Liturgica durch die jeweils neu aufgelegten liturgischen Bücher (388 f.). Letzteres ist für die aktuelle innerkatholische Diskussion eine wichtige Beobachtung, denn es wird immer wieder behauptet, die Abschaffung des vorkonziliaren Ritus nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil sei historisch ohne Vorbild.
Insgesamt muss man, bezogen auf die offiziellen liturgischen Bücher, für Osnabrück aber von einer Romanisierung nach dem Tridentinum sprechen. Hilfreich ist eine Darstellung der dennoch nicht geringen Differenzen zwischen dem Rituale Romanum von 1614 und dem Osnabrücker Rituale von 1653 (274–284). Wie weit die gottesdienstliche Praxis tatsächlich diese romanisierten Liturgiebücher rezipiert hat, ist eine Frage, die sich die Studie nicht stellt und für die sie auch nicht die Quellen zur Verfügung hat. Trotz der Fülle des Materials muss der Vf. resümieren, dass über die normativen »amtlichen« Bücher hinaus dafür andere und weitere Quellen befragt werden müssten (387). Die Dissertation bietet die Buchgeschichte, und dies sehr detailreich. Für die weitere Arbeit mit dem Buch vermisst man leider ein Register, die beigelegte CD-ROM (u. a. mit Karten von Stadt und Bistum Osnabrück, detaillierten Inhaltsverzeichnissen der liturgischen Bücher) kann dieses Defizit nur zum Teil aufwiegen. Immerhin erlaubt sie beispielsweise Gebetsanfänge, Sequenzen, Heilige etc. aufzufinden. Es gibt jedoch Funde, die im Buch fast versteckt sind und dennoch hoffentlich Beachtung finden werden, so, um nur ein Beispiel zu nennen, das Epistel- und Evangelienbuch von 1836, das den Gläubigen ein halbes Jahrhundert vor dem »Schott« das Mitverfolgen der Schriftlesungen erleichtern sollte (150 f.).
Hier und dort hätte um der Übersichtlichkeit willen auf Kapitel verzichtet werden können. Bedarf es z. B. im Kontext dieses Buches einer umfangreichen Darstellung der »Grundlagen des liturgischen Heiligenkalenders« (166–170)? Für die volkssprachlichen Texte wüsste man gerne, was genau mit »Volkssprache« im Zusammenhang des Rituale gemeint ist: Hochdeutsch oder Niederdeutsch? (272–274) Das ist für die Akzeptanz der Bücher und Liturgien keine Nebensächlichkeit gewesen. Der Vf. beschränkt sich auf die Darstellung der Beschreibungen der gottesdienstlichen Abläufe und Texte in den liturgischen Büchern, bezieht kaum die historischen Kontexte der einzelnen Liturgien ein und verzichtet weitgehend auf Interpretationen der Feiern und ihrer Riten, was bei der breiten Anlage der Untersuchung kaum anders möglich ist. Das Buch bietet, wie der Klappentext besagt, »die Basis für weitere Detailstudien«. Dieses Ziel erreicht es fraglos. Aber es verlangt nach weiterführenden Studien.
Einmal mehr stellt sich die Frage, was die Erforschung der Liturgiegeschichte heute über die Geschichte liturgischer Bücher hinaus leisten muss. Dazu zählen vor allem der Versuch, der wirklichen liturgischen Praxis, ihrer Entwicklung wie historischen Interpretation und Wahrnehmung nahezukommen, die Darstellung der Theologie der Liturgie, die Beschreibung des Verhältnisses von Liturgie und Frömmigkeitsformen, aber auch von Liturgie und Alltag. Vor allem muss die Liturgie so kontextualisiert werden, dass sie als lebendiges Geschehen vor Augen treten kann. Dann kommen die Menschen in den Blick, die mit solchen Liturgien Lebenswenden begangen, kalendarische Ereignisse gefeiert und ihren Alltag bewältigt haben. Das sichert der Geschichte der Liturgie wie entsprechenden Studien neue Aufmerksamkeit.