Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

854–857

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Klie, Thomas, Korsch, Dietrich, u. Ulrike Wagner-Rau [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Differenz-Kompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 339 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03078-1.

Rezensent:

Henrik Simojoki

Religiöse Bildung zeigt sich in der Fähigkeit, den Komplexitäten von Welt und Wirklichkeit im Modus des Unterscheidens zu begegnen. Diese Einsicht bildet so etwas wie den Fluchtpunkt der Religionspädagogik Bernhard Dresslers. Bei welchem Strang seines an Facetten und Fragestellungen reichen Werkes man auch ansetzt, stets wird die Gedankenführung irgendwann auf diesen Punkt zulaufen. Folglich ist es nur konsequent, dass auch die Festgabe anlässlich seines 65. Geburtstags von hier ihren Ausgang nimmt. Freilich setzen die Herausgebenden, drei akademische Weggefährten Dresslers, im Titel dieser Veröffentlichung auch einen weiteren Akzent, der sich ebenfalls bildungstheoretischen Denkanstößen des Jubilars verdankt: Differenzkompetenz bildet und bewährt sich in Konstellationen der Zeit. Beide Momente werden in der knapp gehaltenen Einleitung konzise zusammengeführt und zu der strukturierenden Leitthese verdichtet, »dass die Verknüpfung von Religion und Bildung zu einer aktiv wahrgenommenen Gegenwartskompetenz im Unterscheiden anleitet« (12).
Die sich daraus ergebenden Reflexionsbedarfe und Klärungsanstöße sind in dem Band unter fünf Gesichtspunkten geordnet: Bildung, Religion, Politik, Didaktik und Kirche. Beteiligt sind insgesamt 25 Autorinnen und Autoren, die zentrale Etappen und Kontexte der theologisch-religionspädagogischen Arbeit von Bernhard Dressler widerspiegeln. Wenn überhaupt, hätte man sich eine etwas stärkere personelle Präsenz nicht-theologischer Wissenschaften gewünscht.
Wer Dresslers Werk und Wirken kennt, wird kaum überrascht sein, dass der erste und umfassendste Teil des Bandes – mit je unterschiedlichem Fokus und Konkretisierungsgrad – bildungstheoretische Fragen bearbeitet. Dabei setzen die ersten Beiträge Akzente, die sich auf den ersten Blick gerade nicht stromlinienförmig zu Dresslers Grundlegungsfiguren verhalten.
In einer kühnen Verschränkung bringt Stephan Schaede Dresslers Bildungsdenken ins Gespräch mit einschlägigen Überlegungen Karl Barths, der ja bei Dressler zumeist eher als Antipode auftaucht, mit diesem aber, so Schaedes Pointe, die Insistenz auf den Grenzen menschlicher Bildung und Bildungstheorie gemeinsam hat. Jörg Lauster befasst sich wiederum mit der Ethik Albert Schweitzers, die mit ihrer programmatischen Figur der »Ehrfurcht vor dem Leben« gerne und, wie Lauster nachweist, völlig zu Unrecht in den Dienst der von Dressler ja mit Emphase zurechtgestutzten »Werteerziehung« gestellt wird. Anschließend geht Dietrich Zilleßen der Frage nach, ob dem nach Dresslers Urteil religionspädagogisch eher überschätzten Bildungsverständnis Meister Eckharts nicht doch gegenwartsfähige Orientierungspotenziale entlockt werden können. Im Dialog mit Ernesto Laclau und Jean-Luc Nancy verweist er besonders auf die bei Eckhart theologisch begründete und gewahrte »un­ab-schließbare Offenheit« religiöser Bildungsprozesse (43). Während die bislang skizzierten Beiträge oft mehr implizit auf die Leitperspektive einer bildungsrelevanten »Differenz-Kompetenz« eingehen, zielt Martina Kumlehn in ihrem gehaltvollen Beitrag zur »Dynamis der Differenz« explizit auf eine differenztheoretische Grundlegung religiöser Bildung. Wichtig ist ihr Hinweis, dass die besagte Dynamis »nicht nur immer wieder Differentes hervorbringt, sondern den unauflöslichen Zusammenhang von Identität und Differenz, von Verstehen und Nicht-Verstehen geradezu stiftet«, was religionsdidaktisch »ein dynamisiertes Verhältnis von Eigenem und Fremdem« nach sich zieht (57). Letztgenannter Aspekt wird von Friedrich Schweitzer aufgenommen und mit Blick auf interreligiöses Lernen weitergedacht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die »doppelte Fremdheitserfahrung«, die darin besteht, dass für immer mehr Menschen nicht nur die »andere«, sondern auch die »eigene« Religion als »fremd« erfahren wird – und von Schweitzer als »Chance für religiöse Bildung« verständlich gemacht wird. Im Anschluss entwickelt Ralf Koerrenz unter Rückbezug auf Siegfried Bernfeld und Bernhard Hell originelle Konturen einer »Didaktik des Arrangements«, mit der er der Integrationsperspektive einer »systemischen Religionspädagogik« aus falschen Oppositionen heraushelfen will. In anderer Weise knüpft David Käbisch an diesen Diskussionsstrang an. Er ermutigt dazu, Konfessionslosigkeit stärker als »religionsdidaktische Herausforderung« zu begreifen (85). Was er damit meint, illustriert er am medial und bibeldidaktisch konkretisierten Beispiel einer elementaren »Konflikthermeneutik, die zu verstehen hilft, warum bestimmte Differenzen zu Konflikten führen, andere hingegen nicht« (95).
Der zweite Teil der Festschrift ist mit »Religion« überschrieben. Entsprechend breit gefächert sind die Beiträge.
Zunächst fragt Rainer Kessler »nach dem Beitrag eines an der Tora geschulten Denkens zur Menschenrechtsdebatte« (109). Er akzentuiert dabei besonders den »Gedanke[n], die Menschenrechte nicht nur von der Gleichheit, sondern vom Anderssein der Menschen her zu begründen« (104). Karl Marx’ Überlegungen zur religiösen Dimension des modernen Kapitalismus dienen Dietrich Korsch dazu, eine religionspädagogisch oft vernachlässigte Einsicht herauszuarbeiten: dass nämlich zur vielgeforderten religiösen Differenzkompetenz auch die Religionskritik unabdingbar dazugehört. Auf andere Weise gesellschaftskritisch ist der empirische Beitrag von Andreas Feige, der aufzeigt, dass das politisch umstrittene Konzept einer christlich-abendländischen »Leitkultur« durchaus Anhalt in der Selbst- und Fremdwahrnehmung heutiger Deutscher hat. Rolf Schieder wiederum setzt sich im Schnittfeld gleich mehrerer religionssoziologischer Gegenwartsdiskurse anregungsreich mit der Gefahr auseinander, »dass der Religionsunterricht auf der Grundlage von Art. 7(3) GG unter der Hand zu einem staatlich kontrollierten Zivilreligionsunterricht verkommt« (157). Als wirksamste Prophylaxe empfiehlt er, auf eine Begriffsprägung Foucaults zurückgreifend, die »heterotopischen« Anteile des Religionsunterrichts und der Religionslehrerbildung zu stärken. Im letzten Beitrag dieses Teils versucht Michael Meyer-Blanck, das legitime Anliegen der Problemorientierung im Licht der theologischen Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium differenztheoretisch zu reformulieren.
Der dritte Teil ist der »Politik« gewidmet.
Zu Beginn macht Bernd Schröder darauf aufmerksam, dass die Religionspä-dagogik ungeachtet ihres kontextuell bestimmten Selbstverständnisses der Ökonomie nur wenig Aufmerksamkeit schenkt. Damit werde ausgerechnet jener Teilbereich vernachlässigt, dessen gesamtgesellschaftliche Bedeutung ständig zunimmt – eine wichtige Problemanzeige, der Schröder erste systematisierende Perspektiven zur Behebung folgen lässt. Anschließend zieht Wilhelm Gräb Lehren aus dem Berliner Streit um den Religionsunterricht. Für ihn stellt die Einrichtung eines religions- und kulturhermeneutischen Religions- und Ethikunterrichts die geeignete Antwort auf das im besagten Konflikt virulent gewordene Bündel an Herausforderungen dar. Der von Gräb namhaft gemachte Plausibilitätsschwund kirchlicher Prägungsansprüche im Kontext öffentlicher Bildung wird von Thomas Schlag zum Anlass genommen, die öffentliche Bedeutung und den öffentlichkeitsbezogenen Auftrag kirchlicher Bildungsarbeit theologisch, gesellschaftspolitisch und religionspädagogisch zu durchleuchten. Martin Rothgangels Beitrag setzt sich grenzbewusst und kompetenzbezogen mit zwei besonders problematischen Einstellungen auseinander, dem Fundamentalismus und dem Antisemitismus. Einen wunden Punkt der oft emphatisch geführten Debatte um Bildungsgerechtigkeit treffen Gudrun Neebe und Insa Meyer-Rohrschneider, die darauf aufmerksam machen, dass die tatsächlich Benachteiligten in diesen Debatten zumeist keine eigene Stimme haben.
Didaktisch konkreter wird der Zusammenhang von Bildung und Unterscheidungsfähigkeit im vierten Teil der Festschrift thematisiert.
Eröffnet wird er mit in der Konsequenz durchaus radikalen »Anmerkungen zu Aufgaben und Grenzen des Ethikunterrichts« durch Ulrich Vogel, die auf eine Abschaffung des herkömmlichen Ethikunterrichts zugunsten eines Schulfachs »Philosophie« hinauslaufen. Bärbel Husmann warnt mit einleuchtenden Argumenten vor einer religionspädagogischen Überfrachtung des durch die Kompetenzorientierung popularisierten Konzepts der »Anforderungssituationen«. Interessant ist vor allem ihr Hinweis, dass diese Aufgabengattung in der allgemeinen Didaktik »kaum eine Rolle« spielt (255). Anhand einer nuancierten Unterrichtsanalyse zeigt Albrecht Schöll auf, dass Dilemmageschichten didaktisch an Reiz und Sinn einbüßen, wenn sie nach einer strikten »Entweder-Oder-Logik« unterrichtlich eingesetzt werden. Dietlind Fischer schließlich nimmt sich der spezifischen Ausdrucksform des Tanzes an. Beim Rezensenten wirkt besonders ihr Impuls nach, »Tanzbiographien und Tanzgeschichten« zu erforschen (289).
Der letzte Teil ist mit »Kirche« eher missverständlich tituliert. Genau genommen werden zentrale Motive aus dem Werk Bernhard Dresslers aus der Sicht verschiedener praktisch-theologischer Handlungsfelder bzw. Teildisziplinen durchleuchtet.
Bernd Abesser reflektiert die für Dressler zentralen Figuren der Differenz und des Perspektivenwechsels in homiletischer Perspektive, während Thomas Klie der Performanz gottesdienstlicher Lektionen nachgeht. Klie schreibt vor allem gegen Tendenzen an, aufgrund einer vermeintlich empirisch erwiesenen Dysfunktionalität »von den Lesungen abzurücken, sie zu reduzieren […] oder über Präfamina vorab zu erklären« (313). Um eine etwas andere Dysfunktionalität geht es Michael Domsgen, der analytisch und handlungsorientiert den Befund bearbeitet, dass die gegenwärtige Konfirmandenarbeit Schülerinnen und Schüler der Hauptschule unterproportional »erreicht«. Im letzten Beitrag des Bandes legt Ulrike Wagner-Rau feinsinnig, weil differenzsensibel, ausgewählte Berührungsflächen von Bildung und Seelsorge frei.
Natürlich kann man – angesichts der angerissenen Fülle an Beiträgen, Themen und Referenzkontexten sowie mit Rücksicht auf die vorliegende Gattung – von dieser Publikation nicht erwarten, ihren Gegenstand handbuchartig-systematisch, monographisch-stringent oder auch vernetzt-diskursiv erschlossen zu haben. So ist die titelgebende Fragestellung in vielen, aber längst nicht allen Beiträgen präsent. Und doch führt diese Festschrift die von Bernhard Dressler eröffnete Leitperspektive einer »Differenz-Kompetenz« in mehrerlei Hinsicht entscheidend weiter. Sie enthält einzelne Beiträge, denen ein hoher Orientierungswert für die diesbezügliche Diskussion zukommt, wirkt aber auch als Ganzes. Gerade in der Zusammenschau der Aufsätze wird nämlich deutlich, dass dem, was in den einschlägigen Beiträgen als »Differenz-Kompetenz« an­ gesprochen wird, höchst unterschiedliche Differenzlogiken zu­grunde liegen. Kompetenter Umgang mit Differenz zeigt sich offenbar in interreligiösen Erschließungssituationen anders als etwa im Umgang mit Konfessionslosen. Und natürlich macht es einen Unterschied, ob der leitende Erschließungszusammenhang Religion und Bildung mit Ethik, Politik, Ökonomie etc. in Beziehung gesetzt oder im Kontext von Liturgie, Seelsorge oder Unterricht reflektiert wird. So gesehen bietet der Band eine hervorragende Grundlage dafür, solche spezifischen Logiken situationsgerechten Unterscheidens religionspädagogisch aufzuschlüsseln und auf ihre praxisbezogenen Implikationen hin zu befragen. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, was in dieser Veröffentlichung nicht oder nur am Rande thematisiert wird, etwa die mit der Binnenpluralität des Christentums gegebene Herausforderung einer ökumenischen Differenzhermeneutik.
Eines sei abschließend hervorgehoben: Dieser Veröffentlichung gelingt vorzüglich, was eine gute Festschrift letztlich auszeichnet, nämlich dass in ihr nicht nur ein Thema, sondern gleichzeitig auch ein Schaffen entfaltet wird. Indem die Beiträge durchgängig Anstöße aus Bernhard Dresslers Denken aufnehmen und eigenständig weiterdenken, stellen sie in eindrücklicher Weise unter Beweis, in welchem Maße das Werk, das mit diesem Band gewürdigt wird, den in ihm eingeforderten Differenzierungsleis­tungen förderlich ist.