Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

843–844

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Irrgang, Ulrike, u. Wolfgang Baum [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Wahrheit meiner Gewissheit suchen. Theologie vor dem Forum der Wirklichkeit.

Verlag:

Würzburg: Echter 2012. 575 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-429-03550-1.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Bei der anzuzeigenden Publikation handelt es sich um die Festschrift anlässlich des 65. Geburtstags von Albert Franz, seinerzeit Inhaber der Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dresden. Mit der Titelformulierung haben die Herausgeber eines von Franz’ Arbeitsgebieten in den Mittelpunkt gerückt: die philosophischen Grundfragen der Theologie und namentlich die Frage nach deren Wahrheitsfähigkeit angesichts der Verbindung jeder theologischen Aussage mit »unseren je eigenen Gewissheiten« (Klappentext). Die Suche soll »einem tragfähigen, theologisch verantworteten und an gegenwärtige Diskurse anschließenden Wahrheitsbegriff« gelten (ebd.). Wie häufig bei Festschriften zu beobachten, haben sich die Autorinnen und Autoren allerdings längst nicht alle von dieser Schwerpunktsetzung der Herausgeber leiten lassen. Vielmehr werden auch andere Arbeitsgebiete des Jubilars thematisiert, seien sie geistesgeschichtlich (Deutscher Idealismus, Gnosis) oder an der gegenwärtigen Gestalt der Kirche (Kirchenreform, Kirche und Ge­genwartskultur) orientiert. Auf diese Weise entsteht eine Sammlung von 26 Beiträgen, deren Vielfältigkeit die Herausgeber vor jeder internen Strukturierung zurückschrecken ließ, indem sie sich für die schlichte Anordnung nach der alphabetischen Reihenfolge der Namen der Autorinnen und Autoren entschieden haben. Typisch für eine Festschrift sind auch die breite Altersstruktur der Beitragenden – die Geburtsjahre reichen von 1931 bis 1983 – und die unterschiedliche inhaltliche Relevanz ihrer Texte.
Bei der Vorstellung von Einzelbeiträgen muss der Rezensent schon aus Raumgründen selektieren. Die Wahl fällt dabei auf die sieben Aufsätze, die im engeren, systematischen Sinn der titelgebenden Wahrheits- und Begründungsfrage gewidmet sind.
Lieven Boeve (Theologie, Rekontextualisierung und das zeitgenössische kritische Bewusstsein. Lehren Richard Schaefflers für eine postmoderne theologische Epistemologie, 41–66) legt eine leicht überarbeitete Übersetzung eines bereits 2007 publizierten Textes vor, der im Wesentlichen eine fokussierte Nachzeichnung von Schaefflers »opus magnum« (62) »Religion und kritisches Bewusstsein« von 1973 ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Herausgeberin Ulrike Irrgang (Wahrheit und Begründung. Suchbewegungen im hermeneutischen Denken Gianni Vattimos, 143–165) versucht, Parallelen zwischen Vattimos Überlegungen zur Wahrheit des christlichen Glaubens und Albert Franz’ »Gesamtkonzept theologischer Rationalität« (146) aufzuweisen. Relevant wird dabei insbesondere Vattimos Verbindung eines hermeneutisch-geschichtlichen Ansatzes mit der Rede von einem Absoluten, sofern dieses nämlich »inhaltlich als sich geschichtlich ereignende und sich selbst vermittelnde Liebe gedacht wird«, ohne dass es »prinzipielle Letztgültigkeit beansprucht« (164).
Klaus Müller (Letzte Gedanken und erste Gründe. Scharniere theologischer Epistemologie, 233–250) plädiert unter Rückbezug insbesondere auf Gedanken Dieter Henrichs für das Programm einer transzendental begründeten Theologie, »dergestalt, dass eine Ausarbeitung der Subjektstruktur intendiert wird, die aus sich für eine vollständige Grundlegung der Theologie aufzukommen vermag« (238). Mit Blick auf Vattimo ist dabei interessant, dass auch Müllers Erstphilosophie nicht ohne Bezug auf ein »Faktum« (245) bzw. ein »Geschehen[]« (248) auskommt, wenn dieses auch – anders als bei Vattimo – primär im Selbstbezug verortet wird.
Thomas Rentsch, philosophischer Kollege von Albert Franz an der TU Dresden, bringt ebenfalls einen programmatischen Beitrag, der vom Selbstbewusstsein ausgehend »sinnkonstitutive Tran-s­zendenzdimensionen der Immanenz« (327) aufzeigen will (Transzendenz und Wirklichkeit. Kritisch-hermeneutische Analysen, 325–339). Aus der Perspektive der »Alltäglichkeit« (326) und im »Re­kurs auf lebensweltliche Erfahrung« (327) ergibt sich für Rentsch die Gleichursprünglichkeit und Relationalität der vier Transzendenzdimensionen von Welt, persönlicher und mitmenschlicher Existenz sowie Sprache.
Karlheinz Ruhstorfer, inzwischen Franz’ Nachfolger in Dresden, beschäftigt sich mit einem Argument aus der Theodizeedebatte (Free Will Defence? Einige Anmerkungen zu Theodizee und Freiheit, 355–388). Der leicht überarbeitet auch in Ruhstorfers Aufsatzsammlung »Glaube im Aufbruch« publizierte Aufsatz stellt kritisch die theologischen Implikationen heraus, wenn man mit Plantinga, Swinburne und anderen die Willensfreiheit der Geschöpfe als ursächlich für die Übel der Welt verantwortlich bestimmt. Aufgrund der klaren Darstellung würde dieser Beitrag in jedes Textbuch zur Theodizeeproblematik passen (ohne dass damit gesagt sein soll, dass der Rezensent ihm in allem zustimmt).
Christian Schwarke, systematischer Theologe in Dresden am Institut für Evangelische Theologie, legt einen Beitrag vor, der sich mit dem Verhältnis von Menschen und Affen beschäftigt und vordergründig nichts mit der theologischen Begründungsfrage zu tun hat (Menschen und Affen. Über die Bildlichkeit der christlichen Anthropologie, 469–486). Dieser Eindruck ändert sich freilich, wenn man sich klarmacht, dass Schwarke auf der Basis einer gründlichen geistes- und kunstgeschichtlichen Recherche aus den wechseln-den Affenbildern eine Entwicklungsgeschichte des Gedankens der Gottebenbildlichkeit rekonstruiert, die aufgrund der Begründungsfunktion dieses Gedankens für das Selbstverständnis des Menschen hoch relevant ist.
Der Beitrag von Saskia Wendel ist der vorletzte des Bandes, was etwas unglücklich ist, da gerade Wendel ausdrücklich über die Titelformulierung nachdenkt und sie problematisiert (»Die Wahrheit meiner Gewissheit suchen«. Anmerkungen zu einem irritierenden Thema, 537–548). Der Beitrag plädiert dafür, zwischen der Selbstgewissheit, dem »puren Faktum, dass ich bin« (539), und den Gewissheiten dieses Selbst im Sinne von festen Überzeugungen strikt zu unterscheiden. Während Erstere »irrtumsimmun« (538 u. ö.) ist, sind Letztere der rechtfertigenden Wahrheitssuche unterworfen, wobei es laut Wendel bei religiösen Überzeugungen nicht um theoretische, sondern um praktische Überzeugungskraft geht.
Die Singularität, die dem hier zuletzt kurz vorgestellten Beitrag innerhalb des Bandes zukommt, spricht für sich. Wer aufgrund des Titels einen theologischen Referenzband zu den Themen Wahrheit, Gewissheit und Wirklichkeit erwartet, wird das Buch enttäuscht zur Seite legen. Wer hingegen mit verstreuten Einsichten aus dem großen Themengebiet der vernunftgeleiteten Reflexion von Glaube und Kirche zufrieden ist, kommt durchaus auf seine Kosten.