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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

832–834

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wallich, Matthias

Titel/Untertitel:

Minusglaube. Gott ohne Grund, ohne Sein, ohne Symbol. Grundmuster elementarer/relationaler Theologie.

Verlag:

St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2015. 832 S. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-86110-586-2.

Rezensent:

Wolfgang Pauly

Bescheiden nennt Matthias Wallich sein opulentes Werk »Kollagen von Leseerfahrungen« (12). Dabei beschreibt das Buch des 1967 geborenen Privatdozenten einen Paradigmenwechsel in der christlichen Theologie im Sinn einer »Dekonstruktion einer Überfrachtung« (28). Die vorausgegangenen ebenfalls über 800 Seiten starken Werke »Autopoiesis und Pistis. Die theologische Relevanz der Dialogtheorien des radikalen Konstruktivismus« (1999) und »@-Theologie. Medientheologie und Theologie des Rests« (2004) weisen den Weg: Statt mit dem Rückgriff auf einen übermächtigen Gott, der auch jenseits menschlicher Erfahrung als seiend vorgestellt wird, Welt und Mensch zu begründen, steht hier die »Konzentration auf das christliche Bekenntnis, auf einen lebensnahen, existenztragenden Glauben« (28). Dementsprechend bedeutet der Titelbegriff »Minusglaube« auch nicht »Mangel und Privation, sondern Opposition, Distanz und Neubestimmung« (20/21). Angesprochen ist dabei ein »subtileres, sensibleres Denken, um Spuren Gottes in mitmenschlichen Beziehungen zu entdecken« (13).
Diese »elementare Theologie« analysiert drei »Theorien menschlicher Grunderfahrungen« (35). »Gott ohne Grund« meint die Entmythologisierung der biblischen Schriften durch Rudolf Bultmann und die Ausweitung dieses Ansatzes auf alle Traktate der Dogmatik im Werk von Gotthold Hasenhüttl. »Gott ohne Sein« untersucht die »Theologie der Spur« bei Emmanuel Lévinas. Die Kulturanalysen von Slavoi Žižek dienen W. unter dem Aspekt »Gott ohne Symbol« dazu, mögliche Desiderate der anderen Theorieansätze zu erkennen und zu ergänzen.
In Bultmanns Entmythologisierung erkennt W. das »Vertrauen als Existential eigentlicher Existenz« (106), was bedeutet, »dass Exis­tenz mehr Geschenk ist als Leistung« (104). »Gott« bezeichnet folgerichtig nicht ein dem Menschen vorgegebenes Seiendes: »Gott ist nicht mehr als Subjekt, sondern als Prädikat zu verstehen, kein Woraufhin, keine Adresse, sondern das Wie vertrauender Existenz« (108). Dabei wird die Ambivalenz menschlichen Lebens nicht ne­giert, sondern »Gotteserfahrung« ereignet sich als »Erfahrung des Eindeutigen im Zweideutigen, des Absoluten im Kontingenten« (123).
In dem dialogischen Ansatz Hasenhüttls stellt Letzterer idealtypisch zwei unterschiedliche Wahrheitstypen einander gegenüber: die relationale und die objektivierende. In seiner Beziehungstheologie kann Gott nicht als prima causa verstanden werden. Vielmehr gilt mit den Worten W.s: »Der Ausdruck ›Gott‹ dient der Auszeichnung und der Betonung besonderer dialogischer Momente oder relationaler Erfahrungen« (145). Der »Begriff des Letztgültigen« wird zum Ausdruck für die »Erfahrung des Sinns von Mitmenschlichkeit«, die sich jeder Begründung, die von außerhalb ihrer selbst kommt, entzieht: »Erfahrungen des Nichtverfügbaren, aber unbedingt Eindeutigen in menschlicher Zweideutigkeit« (150). Für das Projekt eines »Minusglaubens« bedeutet dies: »Der Minusglaube fungiert als Kritik eines theologischen All-Inclusive-/Rundum-Sorglos-Programms, einer Projektionsmaschine, die in ihren Versprechen oder Hoffnungen keine Wünschbarkeit enttäuscht.« (213) Mit anderen Worten: »Die Suche nach einer Wahrheit über Gott, die mehr ist als eine Wahrheit über den Menschen, wird sinnlos.« (214) Bei aller Zustimmung zum Projekt seines theologischen Lehrers bleibt für W. die Frage, »wie mit dem grundlosen Bösen, der Dynamik der kalten Faszination des Grauens umgegangen wird« (214).
Auch im Werk von Lévinas erkennt W. eine »Theologie der elementaren Beziehung« (278). »Alles, was man nicht auf eine zwischenmenschliche Beziehung zurückführen kann, stellt nicht die höhere Form der Religion dar, sondern ihre auf immer primitivere Form« (280). Religiös deutbare Erfahrung verweigert sich der Vergegenständlichung ihrer Inhalte. Als zentralen Unterschied zwischen Bultmann und Hasenhüttl einerseits und Lévinas andererseits zeigt W. die Erschütterung durch die Shoa bei Lévinas auf. Bedeutet eine Ich-Du-Beziehung von Buber über Bultmann bis zu Hasenhüttl die Hoch-Zeit gelingenden Lebens, so ist eine erfüllende symmetrische Beziehung für Lévinas nach dieser Katastrophe nicht mehr möglich. Im Angesicht des Opfers sieht er die »Spur Gottes«: »Gott fällt mir ein, wenn das Antlitz des Anderen mich berührt« (284). Das »Bild Gottes ist der Leidende« (285). Diese asymmetrische Nähe ist geprägt von absoluter Schuld. Offenbarung erschließt sich nicht in der Erfüllung gelingender Kommunika-tion, »sie offenbart nicht etwas (kein Sein), sondern Andersheit, Fremdheit« (338). Für W.s Projekt bedeutet dies: »Der Minusglaube ohne Inhalt löst sich in Ethik oder Gerechtigkeit auf.« (341) Dieser Glaube als »Sensibilität für den Anderen meint keine Eigenschaft oder eine Aktivität oder Reaktion, sondern einen Ausdruck der Passivität des Subjekts, das sich dem Anderen ausgesetzt sieht, und seines Abtragens der Schuld in der Sühne« (342). Bezogen auf das eigene Projekt: »Minusglaube verlangt die subversive Treue zur Spur des Anderen.« (345) »Spur« intendiert dabei »unauflösliche Ambivalenz und Infragestellung wider den Augenschein, nicht dispensierbare ethische Beanspruchung« (362). Wenn das Subjekt durch die Augen des Anderen von einem ›Dritten‹ angeschaut wird, dann ist dies in der »Religion für Erwachsene« bei Lévinas und seinem Bild von der »Leere des kindlichen Himmels« (vgl. 280) nicht ein über allem Geschehen stehender Gott: »Der Dritte ist ein weiterer oder potentieller Anderer«, »Der Dritte auf dem Gesicht des Anderen ist die Menschheit« (352).
Die Zeitdiagnosen von Slavoi Žižek und dessen Kapitalismuskritik bieten W. die Möglichkeit, die »Desiderate, die von den subjekttheoretischen Annahmen der beiden bisherigen Theologien herrühren«, zu bearbeiten (479). Žižek sieht das Christentum zwischen »Perversion und Subversion«. In seiner »Theorie des Rests« fragt er nach denjenigen, die in traditionellen Symbolordnungen ausgeschlossen sind. Insofern befragt sie »die vorhandenen Ordnungen auf ihre Hohlheit und Leere« (745). Das subversive Poten-tial des Christentums vermag diese Verwerfungen aufzudecken: »Das Moment des Unverfügbaren […], der religiöse Akt, stellt die vorfindliche soziale Ordnung in Frage« (476). ›Gott‹ ist »größter Störenfried« (vgl. 481). Dies gilt insbesondere gegenüber der entpolitisierten Wirtschaft, in der das Kapital als das Reale »gespenstig- abgründig alles menschliche Leben steuert« (418). Nach Žižek verspricht das Christentum nicht präsentisch erfahrbares Heil, sondern beinhaltet »einen Moment der Irritation«, der »im Nachhinein als Glück interpretiert wird, der aber zunächst nicht als solcher erscheint« (488). Gemeinsam aber bleibt in allen drei Modellen der Gedanke, »dass sich nicht mehr von Gott jenseits der Erfahrung oder menschlicher Phänomenalität reden lässt, Offenbarung relational zu denken ist« (778).
W.s Buch ist mehr als eine Fundgrube postmoderner Lebens-erfahrung und Theoriebildung. Die erstaunliche Belesenheit des Autors bietet Argumentationsmuster aus fast allen Bereichen des philosophischen, theologischen und politischen Diskurses. Die Zuordnung der drei dargestellten Modelle zu den trinitarischen Dimensionen von Vater, Sohn und Geist wirkt hingegen konstruiert. Die Begeisterung für die negative Theologie von Lévinas und die Kulturanalysen von Žižek lässt allerdings fragen, ob der Mensch nicht doch auch auf präsentisch gelingende und erfüllende Erfahrung angewiesen ist. Gerade das Christentum sieht sich in die Spannung von »jetzt« und »jetzt noch nicht« gestellt. Löst man beide Aspekte von ihren mythologischen Vorgaben, dann könnte der erfüllte Augenblick gelingender Beziehung zum Anlass werden, dafür zu arbeiten, dass solche Erfahrungen dem Anderen und letztlich der ganzen Menschheit möglich sind.