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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

818–821

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Rist, Johann

Titel/Untertitel:

Neue himmlische Lieder (1651). Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Hrsg. v. J. A. Steiger u. K. Küster.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2013. 480 S. m. 6 Abb. Lw. EUR 219,00. ISBN 978-3-05-006279-2.

Rezensent:

Jochen Arnold

Johann Rists Neue himmlische Lieder stellen in mehrfacher Hinsicht ein beachtliches Dokument aus der Mitte des 17. Jh.s dar. Sie markieren theologiegeschichtlich, poetisch (poetologisch) und hymnologisch einen Meilenstein nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–48). Gewidmet ist das 50 Gedichte umfassende opus magnum dem Grafen Anton Günther zu Oldenburg und Delmenhorst und seiner Gattin Fürstin Sophie Katharina, Herzogin zu Schleswig.
Erschienen ist die Sammlung – fast zehn Jahre nach den Himmlischen Liedern von 1641 und 1642 – als fünfteiliges »Sonderbahres Buch« bei den Lüneburger Verlegern Johann und Heinrich Stern. Es umfasst folgende Abteilungen: I. Klag- und Bußlieder; II. Lob- und Danklieder; III. Sonderbahre Lieder; IV. Sterbens- und Gerichtslieder; V. Höllen- und Himmelslieder. (Im Gegensatz zu Paul Gerhardts Dichtungen und dem von seinem Kantor und Melodisten Johann Crüger herausgegebenen Gesangbuch Praxis pietatis Melica sind die Lieder Rists – vielleicht durch ihren Ernst oder die etwas akademische Strenge der Poesie – fast in Vergessenheit geraten.)
Ein besonderes Augenmerk verdient neben der Dichtung Rists, die sich an den »modernen« Regeln der Opitz’schen Reform orientiert, die Verwendung der Melodien von acht zeitgenössischen Komponisten/Melodisten aus dem deutschsprachigen Raum. Allerdings können die Gedichte allesamt auch nach (bereits bestehenden) klassischen Melodien wie Ein feste Burg, Nun lob mein Seel, den Herren, Was mein Gott will usw. gesungen werden. Der Dichter fühlt sich also reformatorischer Tradition und »barocker« Gegenwart in gleicher Weise verpflichtet. Erwähnenswert ist außerdem, dass nicht nur norddeutsche Meister aus dem Umfeld Rists wie Jacob Praetorius (St. Petri, Hamburg) oder Heinrich Scheidemann (St. Katharinen, Hamburg), sondern auch süddeutsche und mitteldeutsche Musiker wie Sigmund T. Staden aus Nürnberg (I. Teil) und Andreas Hammerschmidt aus Zittau (II. Teil) einen der fünf Teile übernommen haben. Die Weisen sind wie in Crügers Praxis pietatis Melica jeweils mit einer (meist homorhythmischen) Bassstimme unterlegt, in Teil II (Hammerschmidt) auch mit einem Generalbass beziffert. Bei Praetorius fallen zahlreiche kleine Melismen (16tel-Läufe auf einer Silbe) ins Auge, bei Hammerschmidt – zumindest an einigen Stellen – der sonst eher seltene tänzerische Dreier.
Das eigentlich Aufregende der durch J. A. Steiger und K. Küster hervorragend kommentierten Sammlung ist allerdings die theologische Anlage der fünf Teile und ihre Kontextualität.
Die ersten beiden Teile präsentieren in Anknüpfung an den biblischen Psalter Buß- und Klagelieder bzw. Lob- und Danklieder in unterschiedlichen Lebenslagen. Diese sind geprägt von der Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges und seinen alltäglichen Katastrophen: So findet man hier – zwar in barocker, bisweilen etwas geschraubt anmutender – Sprache starke Gebete in Situationen des Krieges, der Krankheit (Pest), der Hungersnot, der Armut, einer Hitze- bzw. Dürreperiode, eines Unwetters oder einer Rechtsnot, aber auch allgemeine Gebete angesichts göttlichen Segens oder seiner unverdienten Rettung. Beispielhaft seien zwei Strophen aus diesen beiden Abteilungen zitiert:
Klage und Buße: »Das Ander’ Buhßlied zu Gott/ ümb Wiederbringung des edlen und wehrten Friedens… [zu singen nach] Durch Adams Fall ist ganz verderbt’
O Welch ein Ubel ist der Krieg
Waß schaffet Er für Plagen?
Den Christen kann noch Krieg noch Sieg
Jm Hertzen wol behagen /
Krieg nimt das Bluht /
Raubt Ehr’ und Guht /
Läst unß mit Zittern essen /
Das Schwert verzehrt /
Der Krieg verheert /
Der Liebe wird vergessen.« (82)
Dank: »Das Vierte Lob- und Dankliedlein nach überstandenen schwehren Sterbensleuften /Pestilentischen und anderen gifftigen Seuch- und Krankheiten« [gesungen nach der österlichen Melodie: Lasset uns den HERREN preisen]:
»8. HERR du schüttest nach dem Weinen
Uber uns viel Freud und Wonn’ /
Ei wie lieblich muß doch scheinen
Nach den Hagelschaur die Sonn’
Auf viel Klagen folget Lachen/
Auf das Stürmen stille Zeit/
Auf viel Heulen Fröhligkeit/
Solche Lust kann Gott uns machen
(Dreiermetrum] Drum sol auch mein Lobgesang
Preisen Jhn mein Lebenlang. Hvh JA)« (161 f.)
Der dritte Teil des Buches versammelt »Sonderbahre Lieder«. Heute würde man sagen: Es sind Gesänge, die sich in besonderer Weise auf den Gottesdienst im Alltag der drei Stände (Lehrstand, Wehrstand, Nährstand) beziehen: Das erste wird einem »andächtigen und gottseligen Prediger« in den Mund gelegt, das zweite von einem frommen Landesherren, das dritte von einem »tugendliebenden Kriegesmann« (Melodie: Ein feste Burg) gesungen. Ab dem vierten Gedicht kommt der dritte Stand (Oeconomia) in den Blick. Es wird von frommen christlichen Eheleuten, das fünfte von einer schwangeren Ehefrau, das sechste von einer Witwe, das achte von einem Menschen auf Reisen, das zehnte von einem Handwerker oder Kaufmann angestimmt.
Die letzten beiden Teile widmen sich den letzten Dingen. Teil IV konzentriert sich auf die individuelle Situation des Sterbens (1–6) und den alle Menschen treffenden Jüngsten Tag (7–10). Insgesamt dominiert hier ein sehr ernster, bisweilen auch moralischer Ton, der noch von den Schrecken des Krieges und massiven Todesdrohungen bzw. drastischen Gerichtsängsten gezeichnet scheint. Oft zeigt sich dabei erst am Ende ein bisschen Licht am Ende des Tunnels. Hier klingen Memento Mori und Christushoffnung (allerdings ohne Hinweis auf Ostern!) zusammen. Auch davon eine Kostprobe:
»Das Dritte Lied / Ernstliche Betrachtung des Elenden Zustandes Menschlichen Leibes im Tode und Absterben /auch wen Er in die Erde ist verscharret.«
»10. Gedenk O Hertz an jene Zeit/
Wen Krankheit dich einst plaget /
Wen dein Gemüht empfindet Streit /
Wen Satan dich verklaget /t
Gehör und Sprache nicht besteht /
Wen dir Gesicht und Witz vergeht /
Wen dein Gewissen zaget.
11. Alßden HERR Jesu laß Mich nicht
Jn solcher Angst verderben /
Sei du doch Meine Zuversicht
Damit Jch frölich sterben
Und endlich durch dein theures Bluht
Das gnug vor meine Sünde thut
Den Himmel müg ererben.« (275 f.; Melodie von Jacob Praetorius)
Die letzte Abteilung des Buches (Teil V) bringt erstmalig in der Mehrzahl geistliche Anrede (anstelle von Gebeten). So wechselt also auch liturgisch die »Sprechrichtung« vom Altar zur Kanzel. Vielfach wird mit der Anrede »o Mensch« jeder und jede in eine ernstliche Betrachtung ewiger Höllenstrafen versetzt, um dann in den letzten Liedern umso leuchtender die himmlische Verklärung der Leiber und der Seelen (7 und 8) bzw. die ewigen himmlischen Freuden zugesprochen zu bekommen.
Auf eine neue Melodie von H. Scheidemann bzw. Nun lob meine Seele den HErren singen sich die folgenden Strophen (9. Lied: Liebliche Betrachtung der unaußsprechlichen Freude der Kinder Gottes …), in denen u. a. ewiger Friede und himmlische Musik in den Blick genommen werden:
»1. Frisch auf und last uns singen
Ihr Kinder GOttes alzumahl
Von unerhörten Dingen/
Der grossen Freud ins HimmelsSahl/
Bald wird der Tag anbrechen/
An welchenm Gottes Sohn
Uns freundlich wird zu sprechen:
Komt her empfangt den Lohn /
Den Jch Euch geb’auß Gnaden
Komt her ererbt das Reich /
Darin Jhr ohen Schaden
Und Trübsahl lebt zu gleich.

5. O Freud in GOttes Kammer!
O Freud in seinem Fridenslicht!
Da man vom Kriegesjammer
Nicht das geringste Wöhrtlein spricht…
9. O Freud! O lieblichs Singen!
O süsses Lied! O Lustgeschrei!
O Wunder frölichs Klingen!
O nimmerstille Kantorei!
Die schnellen Himmelsgeister
Und Engel stehen da
Wie die Kapellenmeister
Das gross‘ Allelujah /
Mit uns auf hohen Geigen /
Auf Lauten und PAndor
Zu machen / nichts sol schweigen
Jm Baß/ Diskant/ Tenor.« (371.374)
Betrachtet man die Sammlung aus der Perspektive des bevorstehenden Reformationsjubiläums und der damit verbundenen Herausforderung, christliche Lieder für die Gegenwart zu sammeln oder gar neu zu schreiben, fällt auf, dass wenig Lieder einen expliziten Christusbezug haben. Es fehlen zumindest in dieser Sammlung Rists Festlieder zu Weihnachten, Passion, Ostern und Pfings­ten bzw. Lieder zum Katechismus (Zehn Gebote, Credo, Vaterunser, Taufe, Abendmahl). – Rist war im Gefolge seiner »Himmlischen Lieder« (1641 f.) durch sein Passionslied »O Traurigkeit« mit der Strophe »O grosse Noth! GOtt sselbst ligt todt/ Am Creutz ist Er gestorben« heftig kritisiert worden. Steiger sieht darin m. E. zu Recht eine konsequente applicatio der lutherischen Lehre von der Idiomenkommunikation (vgl. Einführung, 417 f.). – Rists Dichtungen oszillieren vielmehr zwischen geistlichem Leben im Alltag bzw. göttlicher Fürsorge und Bewahrung zum einen und der Ausrichtung auf die Ewigkeit zum anderen, mithin zwischen erstem und drittem Artikel. Man kann dies einerseits als anthropologisch-situative Stärke, andererseits aber auch als Engführung begreifen. Positiv fällt der Mut des Dichters zu starken Bildern und klaren Affekten ins Auge, was uns dazu anspornen mag, ebenfalls zu Liedern zu greifen, die keine Scheu vor (alltäglichen) Emotionen haben. Dass man dafür alte oder neue Melodien finden kann, muss kaum nochmals wiederholt werden. Gerade deshalb lohnt es sich auch, etliche der damals modernen – heute jedoch schon wieder »alten« – Melodien auszugraben und »neu« anzustimmen. Vielleicht lässt sich dazu auch der eine oder andere Chor- oder Choralsatz auffinden, der sicherlich von mancher Kantorei gut gesungen werden könnte.