Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

817–818

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Fischer, Michael

Titel/Untertitel:

Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg.

Verlag:

Münster u. a.: Waxmann Verlag 2014. 350 S. m. Abb. = Populäre Kultur und Musik, 11. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-8309-2901-7.

Rezensent:

Konrad Klek

Dass im Vorfeld von 2017 das Lutherlied Ein feste Burg Thema wird, ist sehr zu begrüßen, zumal es hier speziell um die Rezeption des Liedes geht in Zeiten seiner gesellschaftlichen und kulturellen »Hochkonjunktur« bis zum Gipfelpunkt 1917. Das angezeigte Buch ist keine theologische und keine im engeren Sinne hymnologische Arbeit. Luthers Lied wird nirgends inhaltlich analysiert, die Fragen der Entstehung, Erstpublikation, der verschiedenen Melodiefassungen und der Repräsentanz in Gesangbüchern werden nicht erörtert. Es geht allein um die nicht innerkirchliche Rezeptionsgeschichte zwischen 1800 und 1918. Der Autor Michael Fischer wurde mit dieser Arbeit im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld promoviert. Er orientiert sich methodisch an wirkungs- und diskursgeschichtlichen Modellen und nimmt dabei das gerade bei diesem Lied so evidente Wechselspiel von politischen, religiösen und kulturellen Motiven in den Blick. Ebenfalls nicht Thema sind die prominenten Zitationen des Chorals in Werken der Kunstmusik von Mendelssohns Reformationssinfonie (1830) über Wagners Kaiserwalzer (1870), Regers 100. Psalm (1908/09) bis zu Debussys Klavierwerk En blanc et noir (1915).
Die Quellenbasis ist enorm breit und eben nicht primär fachwissenschaftlich. F. hat viele populärwissenschaftliche Kleinschriften gesammelt und nutzt gezielt die reichen Bestände seines Arbeitgebers, des Freiburger Volkslied-Archivs, ergänzt um über Jahre hinweg selber gesammelte Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg mit einschlägigen Ein feste Burg-Motiven. Namentlich der 90-seitige Anhang mit einerseits großzügig präsentierten Umdichtungen des Liedes als Rezeptionszeugnissen, andererseits 37 farbigen Abbildungen macht diese Arbeit zur Fundgrube und liefert viel »Stoff« für etwas alternative Erinnerungskultur im Jahre 2017.
Die Deutungsgeschichte des Liedes im genannten Zeitraum wird in drei Kapiteln aufgearbeitet. Zunächst geht es um seinen Status als nationalprotestantisches Identifikationssymbol, erstmalig virulent in den antinapoleonischen Kriegen und dem Wartburgkult seit 1817. Das 1868 in Worms errichtete Lutherdenkmal hat das Lied sozusagen als Programm und bringt es gegen den Erzfeind im Westen in Stellung. Die Reichsgründung 1870/71 und das Lutherjahr 1883 im preußisch dominierten Deutschen Reich bestätigen diese Frontstellung. Interessant sind die Ausführungen zur alternativen Legende in den Kreisen von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie. Auch hier taugt das Lied als kämpferischer Trutzgesang (mit zahlreichen Textparodien), und Heines viel zitierte Wendung von der »Marseiller Hymne der Reformation« (1834) ist tatsächlich so gemeint, dass dies ein Prototyp für revolutionäre Gesänge sei.
Das zweite Kapitel stellt sich der vielfachen Funktionalisierung des Liedes im Ersten Weltkrieg. Untersucht werden zunächst Kriegspredigten, Vorträge und Erbauungsliteratur (viele mit Ein feste Burg im Titel) aus dem Jahr 1914, sodann Kleinschriften zum Lied selber als Thema, schließlich der Kulminationspunkt 1917, des Weiteren Motive aus dem Lied in Kriegslyrik und eben auf Liedpostkarten, zentrales Kommunikationsmedium für den Briefverkehr der Frontsoldaten mit den Lieben zuhause.
Im kürzeren dritten Kapitel wird noch die Aufarbeitung des Ein feste Burg-Phänomens in der Nachkriegszeit referiert in der Entgegensetzung von Monumentalisierung (B. Doehring) und konfessionalistischer Dekonstruktion (H. Grisar).
Das 30-seitige Résumé spiegelt den erhobenen historischen Befund auf Fragestellungen der rezeptionsgeschichtlichen Forschung, der Nationalismusforschung und Theologiegeschichte, der symbol- bzw. motivgeschichtlichen Forschung und beschreibt die hier dingfest zu machenden gesellschaftlichen Funktionalisierungen des Religiösen (Fundierung, Integration, Legitimierung, Kompensation, Protest).
Methodisch wie inhaltlich leistet diese Arbeit einen wesentlichen und sehr ergiebigen Beitrag zu den Diskursen im Umfeld des Reformationsjubiläums 2017, gerade weil sie eine Außenperspek-tive einnimmt gegenüber dem innerkirchlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs der Theologie. Weniger als Kritik an dieser Arbeit denn als Plädoyer an die eigenen Zünfte bleibt Desiderat eine Untersuchung zur Rolle von Ein feste Burg auf der Basis weiterer Quellen wie Kirchenzeitungen, Tageszeitungen, aber auch auf kirchliche Praxis wie Verbände (Kirchengesangverein, Evangelischer Bund) bezogener Zeitschriften. Auch die Funktion des Liedes im Luther-Heldenkult, der als solcher bei F. nicht thematisiert wird, wäre noch zu erheben.
Ein kleines Monendum an F.s Arbeit bleibt: Der Terminus »Lutherchoral« ist fragwürdig. Erstens hat Ein feste Burg gerade außerhalb der Kirchenmauern als »Das Lutherlied« Karriere ge­macht, zweitens ist »der Choral« auch als Bezeichnung für das Kirchenlied in der Hymnologie definitiv abgeschafft (um »Choral« als Bezeichnung für den gregorianischen Gesang freizugeben).