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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

806–809

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Werner Schüßler [Hrsg]

Titel/Untertitel:

Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext.

Verlag:

Berlin: De Gruyter 2014. VIII, 275 S. = Tillich Research, 5. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-035161-3.

Rezensent:

Georg Neugebauer

Tillichs Mythosbegriff ist innerhalb der Forschungsliteratur bislang eher stiefmütterlich behandelt worden. Der hier zu besprechende Band leistet daher Pionierarbeit und schlägt erste Schneisen in diesen weitgehend unbekannten Bereich des Tillichschen Denkens. Die Beiträge, die den Untersuchungsgegenstand sowohl in systematischen Problembezügen diskutieren als auch forschungsgeschichtlich kontextualisieren, gehen teilweise auf die Jahrestagung der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft zurück, die 2013 in Hofgeismar stattfand.
Im Anschluss an eine kurze Einleitung, in der die Herausgeber des Bandes schlaglichtartig die problemgeschichtliche Entwicklung des Mythosverständnisses bis zu Tillich nachzeichnen, legt der Philosoph Christoph Jamme das Augenmerk auf das rationalitäts- und wahrheitskritische Potential des Mythos. Dieser stelle ein spezifisches Ineinander von Wirklichkeitsauffassung und -ausdruck dar und bewege sich auf einer Reflexionsebene, die kategorial von derjenigen des Wahrheitsbegriffs unterschieden sei. Der Mythos erschließe daher auch keine Wahrheiten, sondern müsse als eine »Form elementarer Sinngebung« (26) begriffen werden. Die Position Tillichs bleibt hier noch außen vor. Das gilt auch für den Beitrag Dietrich Korschs, der dem Mythos die Signatur des Notwendigen verleiht. Die bleibende Relevanz sowie die Plausibilität des Mythos erörtert er am Beispiel der Philosophie Schellings. Er entfaltet dessen Mythoskonzept in werkgeschichtlicher Perspektive und rückt die Frage nach der »Darstellung des Absoluten« (35) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Die Schlussreflexionen versuchen an Schelling anknüpfend und zugleich über diesen hinausgehend, das mythenkritische Potential des Freiheitsgedankens zu plausibilisieren und damit einen Weg zu eröffnen, das Programm der Entmythologisierung fortzuführen.
Stefan Dienstbeck setzt sich sodann mit dem Stellenwert des Mythosbegriffs innerhalb des theologischen Systems Tillichs auseinander. Dabei rechnet er mit einem bleibenden Einfluss Schellings auf Tillichs Mythosbegriff und erblickt – wie Korsch – in der »Darstellung des Unbedingten« (66) die spezifische Funktion des Mythos. Um die Aufbauelemente von Tillichs Mythosverständnis auf den Begriff zu bringen, nimmt Dienstbeck die offenbarungs- und symboltheoretischen sowie die metaphysischen Implikationen desselben ins Visier. Dieser Anfahrtsweg mündet in die These ein, dass für Tillich das Dogma die vollendete Ausdrucksgestalt des Mythos sei (vgl. 71).
Dass die Beschäftigung mit Tillichs Mythosbegriff ein hochgradig vermintes Gelände ist, macht Roderich Barth deutlich, der zunächst die debattenpolitischen und methodischen Voraussetzungen dieses Begriffs diskutiert. Im Unterschied zu Korsch und Dienstbeck legt Barth sodann den Fokus jedoch nicht auf das besagte Darstellungsproblem. Vielmehr müsse der Mythosbegriff bei Tillich im Horizont einer »Erscheinungslehre der Religion« (84) interpretiert werden. Die entscheidende Stärke von Tillichs My­thosbegriff erblickt Barth in dessen religionstheoretischer Fundierung. Die religionsphänomenologische Zuspitzung von Tillichs Mythostheorie ist schließlich mit der These verbunden, dass sich hinter dieser Theorie ein genuin protestantisches Anliegen verberge, mögliche Erscheinungsformen des modernen Protestantismus auszuloten, was einmal mehr verdeutliche, dass die Arbeit am Symbol und am Mythos zu den bleibenden Aufgaben protestantischer Theologie gehöre.
Erdmann Sturms Ausführungen konzentrieren sich auf zwei weniger bekannte Texte Tillichs, die für das Verständnis von dessen Mythosbegriff einschlägig sind: Religion und Weltpolitik (1938) sowie das Kolleg Christology and human existence (1937/38), das wiederum zum Vorlesungszyklus Advanced Problems in systematic theology gehört. Vor allem der zweite verdient Beachtung, da Sturm hier eine bislang weitgehend unbekannte Quelle zu Rate zieht (der gesamte von Sturm herausgegebene Vorlesungszyklus ist im Frühjahr 2016 erschienen). Die Pointe von Tillichs Interpretation des Sündenfallmythos erblickt Sturm darin, ein irreduzibles Strukturmoment allen Daseins zum Ausdruck zu bringen (vgl. 115), das in kosmisch-universaler als auch in psychologisch-ethischer Perspektive begriffen werden müsse.
Der Aufsatz von Christian Danz erweitert die Perspektive des Bandes um die Darstellung der politischen Anwendungsrelation von Tillichs und Cassirers Mythosverständnis. Auch wenn der Mythosbegriff beider Autoren auf unterschiedlichen Theoriefundamenten steht, stimmen sie in ihrer Kritik an der Instrumentalisierung des Mythos in den politischen Debatten der Moderne überein. Die Macht des technisch erzeugten, modernen Mythos artikuliere sich in einer Reflexionshemmung und gründe damit in einer Krisis des autonomen Geistes (Tillich) bzw. – bei Cassirer – in einer »Pathologie des Symbolbewusstseins« (140).
Bultmanns Konzeptualisierung des Mythos wird von Ulrich H. J. Körtner ins Spiel gebracht und mit derjenigen Tillichs ins Verhältnis gesetzt. Im Anschluss an die Erörterung der für beide Positionen maßgeblichen Gesprächspartner und Theoriesegmente widmet er sich im Schlussteil dem von ihm identifizierten Problemkern der Entmythologisierungsdebatte: der »Semantik religiöser Rede« (165). Über die »Aporien« (169) der Positionen Tillichs und Bultmanns führt Körtners Auffassung nach die neuere Metapherntheorie hinaus. Religiöse Rede bedürfe absoluter Metaphern (Blumenberg), die zwischen narrativem Mythos und Metaphysik anzusiedeln seien.
Der Beitrag Werner Schüßlers verlagert den Schwerpunkt auf Jaspers’ Mythostheorie, die in werkgeschichtlicher und systema-tischer Perspektive entfaltet wird. Jaspers’ existenzphilosophisch konzeptualisierter Mythosbegriff lege sich in einer diesem entsprechenden Chiffrensprache aus, die wiederum nur existentiell verstanden werden könne. Schüßler stellt mehrfach das wissenschafts-, vernunft- und aufklärungskritische Element von Jaspers’ Mythosverständnis heraus, das dieser aber im Interesse einer »Aufklärung über die Aufklärung« (204) entfaltet habe und das ihn teilweise mit Tillich verbinde. Die vielfältigen Übereinstimmungen, die zwischen den Mythosbegriffen Jaspers’ und Tillichs bestehen, könnten nach Auffassung Schüßlers auf deren jeweilige Prägung durch die Philosophie Schellings verweisen.
Elisabeth Grözinger erweitert das Themenspektrum des Bandes um den Beitrag, den der Begründer der analytischen Psychologie – C. G. Jung – für die Mythosdebatte geleistet hat. Ausgehend von Jungs Konzeption, wonach Mythen Ausdrucksgestalten unbewuss­ter archetypischer Muster menschlicher Selbstauslegung sind, sowie von Tillichs existentialontologischer- und anthropologischer Fixierung dieses Begriffs lotet sie Gemeinsamkeiten und Un­terschiede zwischen beiden Konzeptionen aus, in denen sie »Weg­bereiter gegenwärtiger Mythenkonzepte« (229) erblickt.
Bemerkenswerte Konvergenzen zwischen Adornos Odysseus-Interpretation und Tillichs Deutung des Sündenfallmythos arbeitet Michael Murrmann-Kahl heraus. Im Mittelpunkt stehe hier wie dort der Versuch, die Urgeschichte des bürgerlichen Subjekts aufzudecken. Flankiert werden diese Ausführungen durch Überlegungen zur Beziehung von Mythos und Aufklärung. Letztere besäßen eine Tendenz zum jeweils anderen und befänden sich damit in einem Verhältnis wechselseitiger Kontamination.
Der Schlussbeitrag Linus Hausers versucht Tillichs Mythos- und Symbolbegriff sowie das Konzept nichtkirchlicher, autonomer Religion für die begriffliche Fixierung der Neomythen fruchtbar zu machen. Ein Namen- und ein Sachregister schließen den Band ab.
Auf das Ganze gesehen eröffnet das Buch wegweisende Interpretationsperspektiven für eine Beschäftigung mit Tillichs My­thosbegriff. Es ist aber nicht nur für die interessant, die sich mit Tillichs Denken beschäftigen, sondern auch für die, die sich über die breitgefächerte Diskussion des Mythosbegriffs vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jh.s informieren wollen. Am Ende bleiben aber – wie sollte es anders sein – auch Fragen offen. Zwei seien genannt. Die erste nimmt auf den Titel des Bandes Bezug und betrifft den Machtbegriff. Worin der Machtcharakter des Mythos besteht, ob es sich um eine Kategorie etwa des metaphysischen oder soziologischen Denkens handelt, diese Frage bleibt – bis auf wenige Andeutungen (vgl. etwa 38.71 f.) – unbeantwortet. Sodann gibt der Zusammenhang von Symbol- und Mythosbegriff zu denken auf. Dass sie unmittelbar miteinander verwoben sind, ist von Tillich selbst mehrfach betont und auch in den einzelnen Beiträgen herausgestellt und teilweise kommentiert worden (vgl. 62 f.227). Es wird jedoch nur ansatzweise deutlich, worin die kategorialen Differenzen beider Größen bestehen, und welche operationalen Leistungen des Bewusstseins der Verknüpfung von Symbol und Mythos im Sinne eines Symbolkomplexes zugrunde liegen. Die Anfragen schmälern aber in keiner Weise den Wert des hier besprochenen, hochgradig informativen Buchs.