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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

804–806

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bringeland, Hans

Titel/Untertitel:

Religion und Welt: Martin Dibelius (1883–1947). 3 Bde.

Verlag:

Münster u.a.: LIT Verlag 2013. Bd. 1: Dibelius in seiner Frühzeit (bis 1915). VIII, 272 S. = Beiträge zum Verstehen der Bibel, 20. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-12079-3. Bd. 2: Dibelius in seiner Heidelberger Zeit (bis 1933). VI, 460 S. = Beiträge zum Verstehen der Bibel, 21. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-643-12080-9. Bd. 3: Dibelius im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit. VI, 350 S. = Beiträge zum Verstehen der Bibel, 22. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-12081-6.

Rezensent:

Konrad Hammann

Der Neutestamentler Martin Dibelius gehört zweifellos zu den einflussreichsten und innovativsten Vertretern seiner Disziplin in der ersten Hälfte des 20. Jh.s. Der immens produktive Gelehrte lieferte bedeutende Beiträge zur religionsgeschichtlichen Kontextualisierung des Urchristentums, besonders der Theologie des Paulus, zur formgeschichtlichen Erforschung der Evangelien und weiterer Schriften des Neuen Testaments sowie darüber hinaus der außerkanonischen urchristlichen Literatur und schließlich auch zur Rekonstruktion der urchristlichen Ethik und Paränese. Zugleich wusste sich Dibelius in der Pflicht, als Theologe Verantwortung zu übernehmen im öffentlichen Leben, in Politik und Gesellschaft. Zwar waren in der jüngeren Vergangenheit Teilaspekte seines wissenschaftlichen Werkes und seines kirchlich-ökumenischen wie auch politischen Engagements wiederholt Gegenstand einzelner Untersuchungen; was aber bisher fehlte, war eine Gesamtdarstellung seines Lebenswerkes in dessen zeithistorischem Umfeld.
Eine solche umfassende Darstellung liegt nun, seit 2013, vor, verteilt auf drei Bände und verbunden mit dem Anspruch, mehr als nur eine Werkbiographie des Neutestamentlers Dibelius zu bieten. Der norwegische Theologe Hans Bringeland ist der Verfasser dieses akribisch recherchierten opus. Nachdem er sich fast drei Jahrzehnte mit Dibelius beschäftigt hatte, wurde er 2011 mit der ursprünglichen Fassung dieser Arbeit von der Universität Bergen (Norwegen) zum Dr. phil. promoviert. Beides, die lange Entstehungszeit seiner Studien und deren Zuschnitt als akademische Qualifikationsschrift, merkt man dem gedruckten Ergebnis an, im Guten wie im weniger Guten.
In der wortreichen Einleitung zum ersten Band stellt B. sein Projekt vor. Es geht ihm darum, »sowohl die sachliche Struktur, Bedeutung und Funktion des Polaritätsdenkens bei Dibelius als auch dessen endogene und exogene Genese zu untersuchen – im Rahmen einer biographisch angelegten Darstellung, die nach Zeitabschnitten, Lebens- und Sachbereichen eingeteilt ist« (10). Die Ausführungen B.s zur methodischen Anlage der Untersuchung, zur Quellenlage und zur Forschungsgeschichte sind indes nicht etwa auf die Einleitung beschränkt, sondern sie kehren auch im weiteren Gang der Darstellung in regelmäßigen Abständen wieder. Dieses Verfahren hat zahlreiche Redundanzen und eine bemerkenswerte Umständlichkeit in der Entfaltung der Themen und Stoffe zur Folge.
Der erste Band handelt von »Dibelius in seiner Frühzeit«. Der Vater, der theologisch konservative lutherische Pfarrer und spätere Oberhofprediger Franz Dibelius, prägte seinen einzigen Sohn in dessen Kindheit und Jugend in Dresden stark. Während des Theologiestudiums mit den Stationen Neuchâtel (Propädeutikum), Leipzig, Tübingen und Berlin öffnete der junge Dibelius sich insbesondere den wissenschaftlichen Anregungen A. Harnacks, daneben nahm er auch die religionsgeschichtlichen Impulse H. Gunkels auf. Fr. Naumann sensibilisierte ihn für die soziale Frage. In charakteristischer Eigenständigkeit qualifizierte Dibelius sich für das akademische Lehramt. Mit der von Gunkel angeregten, aber von Ch. Seybold betreuten Studie »Die Lade Jahves« erwarb er 1905 in Tübingen den Doktorgrad in semitischer Philologie. Die Promotion zum Lic. theol. erfolgte unter Harnack als Promoter 1908 in Berlin; das Referat über die Licentiatenschrift »Die Geisterwelt im Glauben des Paulus« – dies Thema hatte Dibelius selbst gewählt – besorgte O. Pfleiderer. Gegen den Widerstand von B. Weiß, der die von Dibelius als Habilitationsschrift gedachte Monographie »Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer« ablehnte, konnte der Nachwuchswissenschaftler schließlich dank der Fürsprache Harnacks und A. Deißmanns 1910 in Berlin die venia legendi erlangen. Ein Jahr später brachte Dibelius im »Handbuch zum Neuen Testament« den ersten von mehreren Kommentaren heraus. In jenen Reifejahren war ihm die »Kulturkrise« seiner Zeit zunehmend bewusst geworden; Bezüge seiner religions- und literaturgeschichtlichen Forschungen zur Gegenwart stellte er freilich vorerst kaum heraus.
Dies änderte sich in den ersten beiden Jahrzehnten seiner Heidelberger Zeit, in denen Dibelius, zumal nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, zunehmend politisch aktiv wurde und als Mitglied der DDP (bis 1930) durch Reden, Wahlaufrufe und publizistische Beiträge für die Weimarer Demokratie eintrat. Sein distanziertes Verhältnis zur verfassten Kirche und seine Mitarbeit in der ökumenischen Bewegung bildeten für den liberalen Theologen keinen Gegensatz. Im zweiten Band rückt B. all diese Themen in das Zentrum seiner Darstellung. Er konstatiert für Dibelius ein theologisches Konzept, mit dem der Neutestamentler versucht habe, das Christentum in seinem dialektischen Verhältnis zur Welt und zur Gegenwart näher zu bestimmen. Etwa in seinem Büchlein »Ge­schichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum« (1925; 21929: »Evangelium und Welt«), aber auch in weiteren Publikationen verfolgte er das Anliegen, das Christentum in seiner individuellen Gestalt als persönlichen christlichen Glauben und in seiner öffentlichen, kollektiven Erscheinungsform als ethische Orientierungsinstanz für die kulturpraktische Arbeit in Politik und Gesellschaft zur Geltung zu bringen (vgl. Bd. 2, 303 f.). Dass dieser ausgeprägte Wille zur gegenwartsbezogenen theologischen und politischen Positionierung seine wissenschaftliche Arbeit keineswegs beeinträchtigte, zeigen seine Forschungen zur hellenistischen Religionsgeschichte, zu Paulus und zur urchristlichen Paränese ebenso wie seine Beiträge zur urchristlichen Literaturgeschichte. Mit seiner programmatischen Untersuchung »Die Formgeschichte des Evangeliums« (1919) wurde Dibelius neben K. L. Schmidt und R. Bultmann einer der Begründer und der Namengeber der formgeschichtlichen Methode.
Der dritte Band ist »Dibelius im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit« gewidmet. B. betont, Dibelius habe sich sukzessive bestimmte Positionen der Dialektischen Theologie zu eigen ge­macht, ohne seine liberale Grundausrichtung einschließlich der kritischen Einstellung zur historischen Überlieferung und der Ablehnung jeglicher Orthodoxie aufzugeben. Symptomatisch da­für dürfte seine Distanz zur Bekennenden Kirche sein; deren Konzentration auf das überkommene Bekenntnis und die kirchlichen Belange empfand er als Verengung des Protestantismus und der in ihm möglichen Diversität an Frömmigkeitsmodellen. Als dezidierter Gegner des Nationalsozialismus war Dibelius wiederholt einschneidenden Repressionen des NS-Staates ausgesetzt. In seiner theologischen Arbeit fanden nun, wohl nicht ganz zufällig, Fragen der Ethik des Neuen Testaments verstärkt seine Aufmerksamkeit. Abhandlungen wie »Rom und die Christen im ersten Jahrhundert« (1942) oder »Nero und die Christen« (1942) ließen seine Ablehnung der nationalsozialistischen Diktatur subkutan, aber erkennbar hervortreten. Die Auftragsarbeit »Britisches Christentum und britische Weltmacht« (1940), die Dibelius als einer der mit der angelsächsischen Welt am besten vertrauten deutschen Gelehrten dem Auswärtigen Amt und dem Reichssicherheitshauptamt zu Propagandazwecken zur Verfügung stellte, hätte er im späteren Rückblick selbst lieber nicht zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht (vgl. dazu auch L. Bormann, »Sie sagen Christus und meinen Weltherrschaft«, in: Angermion 6 [2013], 85–99). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligte sich Dibelius mit beachtlichen Beiträgen an den Diskussionen über die Frage der Schuld der Deutschen an der geschichtlichen Katastrophe des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges (»Selbstbesinnung des Deutschen«, hrsg. v. F. W. Graf, 1997) und über Perspektiven der demokratischen Neuorientierung Deutschlands (»Protestantismus und Politik«, 1947). Die Amerikaner betrauten den politisch integren liberalen Theologen nach 1945 mit zahlreichen Aufgaben bei der Neugestaltung der kommunalen und universitären Verhältnisse in Heidelberg. Dort starb M. Dibelius am 11. November 1947.
Durchaus anzuerkennen ist der Sammlerfleiß, mit dem B. das irgend erreichbare Material zu Dibelius zusammengetragen und ausgewertet hat – davon vermittelt das 90 Seiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis einen anschaulichen Eindruck. Die literarische Gestaltungskraft B.s hingegen, also das Vermögen, den umfangreichen Stoff bündig und konzis zu präsentieren, unterliegt deutlichen Grenzen. Ob B. sich womöglich zu viel aufgebürdet hat mit dem Versuch, eine Werkbiographie und eine Analyse der Dibelius leitenden systematisch-theologischen Vorstellungen darzubieten? Diese Frage legt sich schon deshalb nahe, weil das theologisch-weltanschauliche Konzept des Heidelberger Neutestament­lers – auch nach dem Urteil B.s – »unter erheblichen Schwächen und Brüchen« litt (Bd. 3, 223). Wie dem auch sei – 1.100 Seiten über Martin Dibelius sind bei Weitem zu viel. Weniger wäre mehr gewesen. Das hätte Dibelius allemal verdient gehabt, das wäre ganz gewiss auch den Lesern dieses aus den Fugen geratenen Werkes zugute gekommen.