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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

798–800

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Schacht, Ulrich, u. Thomas A. Seidel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

… wenn Gott Geschichte macht! 1989 contra 1789. Hrsg. im Auftrag d. Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 248 S. = Georgiana. Neue theologische Perspektiven, 1. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-374-04132-9.

Rezensent:

Andreas Lindner

Der Tagungsband ist der Erstling einer neuen Reihe in Herausgeberschaft der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (St. GO). Mit seiner Titel gebenden geschichtstheologischen These »… wenn Gott Geschichte macht! 1989 contra 1789« beweist er Mut zur Provokation innerhalb des eingespielten Geschichtsdiskurses in Deutschland. Der Versuch, die Denkbarkeit eines Wirkens Gottes in diesen Diskurs zurückzuholen, wird durch einen Leitessay des Publizisten Ulrich Schacht eröffnet. Er bietet eine kurze Morphologie der Gegenpoligkeit von 1789 und 1989. Die Französische Revolution, begonnen unter den hehren Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, verkehrte diese Begriffe in die Offenbarung ihrer Schattenseite des »Terreur« der jakobinischen Herrschaft. Sie wurde so zur Mutter aller weiteren Gewaltrevolutionen des 19. und 20. Jh.s aus ihrer Ambivalenz von weit in die Zukunft reichenden Ansätzen einer Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft und der im Namen dieses revolutionären Fortschritts propagierten und realisierten Gewalt unvorstellbaren Ausmaßes, am schrecklichsten in der Revolution der Bolschewiki ab 1917. Dieses Paradigma be­stimmte die Theorie einer jeden Revolution in der Moderne. In dieser Denkweise erscheint die Friedliche Revolution von 1989 als ein nicht mögliches Ereignis. Das »Dennoch« ihres Stattfindens stürzte die altbundesdeutsche Geschichtsphilosophie um die Ha­bermas-Schule in erhebliche Deutungsschwierigkeiten. Die Frage, ob dies tatsächlich eine Revolution gewesen sei, blieb als zweifelhaft im Raum stehen, sekundiert von einer alltagssprachlichen Rezeption als »Wende«. Das »Erfurter Gespräch zur geistigen Situation der Zeit« diagnostizierte hingegen einen epochalen Paradigmenwechsel. 1989 sei das Zeitalter der Französischen Revolution zu Ende gegangen. Die Beiträger beschäftigen sich mit verschiedenen Perspektiven auf Aspekte des neuen Revolutionsparadigmas.
Der Basler Philosoph Harald Seubert wiederholt Schachts These von der paradigmatischen Gegenpoligkeit beider Revolutionen und spezifiziert sie im Anschluss an die deutsche idealistische Philosophie, besonders Kant und Hegel. Sein Beitrag »Die ›Furie des Verschwindens‹ und der Geist wahrer Freiheit. Zur Phänomenologie zweierlei Revolutionen« fragt, ob sich Kants Diktum von den »Ge­schichtszeichen« als Handeln Gottes interpretieren lässt und die Friedliche Revolution von 1989 ein Beispiel dafür sei. Die Antwort, ob Gott hier einen »Kairos« in der Geschichte gesetzt habe, lässt er einerseits in einem literarischen Überschritt offen, bejaht sie ab­schließend jedoch mit Schachts Gedicht »Tagtraum in B.«. Seine ernüchternde Erkenntnis lautet allerdings, dass die Revolution von 1989 zwar das Selbstzerstörungspotential der Freiheit nach dem Muster der Revolution von 1789 überwunden habe, aber unter dem Stichwort der Ökonomisierung wieder eine »bleierne Zeit« über Deutschland zu liegen scheine und der politische Aufbruchsgeist der DDR-Bürgerrechtsbewegung kaum noch zu spüren sei.
Der Jenaer Systematiker Martin Leiner widmet sich mit »Versöhnung. Zeichen für Gottes Wirken in den Revolutionen 1789 und 1989« einer Eigenart der Friedlichen Revolution: dem Be­wusstsein, dass nach den Auseinandersetzungen weiterhin ein friedliches Zusammenleben aller Beteiligten möglich sein müsse. Hier sei ein beispielloses Versöhnungspotential angelegt gewesen, das den Charakter der 1989er Revolution geprägt habe. Im Vergleich macht er auf den im öffentlichen Gedächtnis wenig be­kannten Versöhnungstag der Französischen Revolution vom 14. Juli 1790 aufmerksam, der aber keinen ethischen Initialcharakter haben konnte, da er formaler Akt blieb und nicht zur verinnerlichten Absicht wurde.
Der Theologe Peter Voß, »›Gott widersteht den Hoffärtigen!‹: Der 9. November 1989: Ein moralischer Gottesbeweis?«, versucht der These des Bandes eine konkrete Gestalt zu geben. In den Vorgängen der 12. Tagung des ZK der SED vom 12. Dezember 1989 und der Genese des berühmten Notizzettels, der zum Auslöser des Mauerfalls wurde, könne man Gottes Wirken erkennen. Und zwar in dem biblischen Schema, dass hier einerseits die Mächtigen in ihrer Verblendung zu ihrem eigenen Untergang handelten, andererseits die Revoltierenden in ihrer durchgehaltenen Gewaltlosigkeit dem Willen Gottes entsprachen.
In einem zweiten Beitrag: »Geschichtsgott oder Gott der Ge­schichte. Eine theologisch-philosophische Meditation in fünf Schritten« wird von U. Schacht eine fundamentalontologische Skizze über das Wesen von Geschichtstheologie geliefert, die eben die Geschichte selbst nicht vergötzt. Denn immer dann, wenn die menschliche Vernunft als alleiniges Leitmedium von Geschichte ideologisiert wurde, würden sich die Tore zu einer Unheilsgeschichte öffnen. Über sein Verständnis von Geschichtstheologie, das mit dem teleologischen Wirken des lebendigen Gottes rechnet, holt er den »radikalsuspendierte(n) Begriff« (Schacht) der Heilsökonomie Gottes zurück. Inhaltlich hätte dieser Text eigentlich den Band eröffnen müssen.
Möglicherweise soll aber auch der anschließende Beitrag des Publizisten Sebastian Kleinschmidt, »Am Punkt der äußersten Utopie. Was heißt es, theologische Fragen an die Geschichte zu richten?«, als Subtext zu Schacht gelesen werden. Eingangs erfolgen mehrere eigenwillige Versuche, zu definieren, was eigentlich Theologie sei. Theologie geht jedenfalls nicht als »wissenschaftlich definierte Religion« auf, noch ist sie »Selbstauslegung des gläubigen Menschen«. Letzteres ist eher das Gegenteil von Theologie, einem Begriff, den man etymologisch schlicht ernst nehmen sollte als »die Lehre von Gott«. Auf sicherem Boden stehen die Ausführungen zum Selbstverständnis des Marxismus als geschichtsbestimmender Macht und dessen zwangsläufigem Scheitern. Im Rückgriff auf Luthers Anschauung vom Wirken Gottes erscheint es stringent, dass Gott auch in den Katastrophen der Geschichte wirkt. Insofern können die Friedliche Revolution von 1989 und der Untergang des real existierenden Sozialismus als wunderbarer Glücksfall auf der großen Bühne der Geschichte verstanden werden. Kleinschmidts Quintessenz, dass der Mensch gerade dann zu Fall kommt, wenn er versucht, die äußerste Utopie zu verwirklichen, wie auch immer diese heißen mag, gehört zu den zentralen Erkenntnissen einer jeden Geschichtstheologie.
Der Althistoriker Wolfgang Schuller vollzieht in »›Kein Tropfen Blut ist geflossen!‹ Kerzen, Glockengeläut und Choräle: Die gewaltlose Volksrevolution von 1989« noch einmal die Genese dieser Re­volution nach, die verborgene unscheinbare Quellorte in Ge­meinderäumen und Kirchen hatte, deren Rinnsale in Gestalt von Bürgerrechts-, Friedens- und Umweltgruppen, gefälschten Kommunalwahlen vom Mai 1989 und Ausreisebewegung zu einer Flut anschwollen, die an jenem legendären 9. Oktober 89 den Damm des Systems brach. Er zeichnet damit scharf nach, was heute gern und meist mit Absicht vergessen wird: Diese Revolution kam aus den Kirchen und ihr grundlegend christlicher Charakter formte ihre Besonderheit und bis dato Einmaligkeit. Es war ein Auszug aus Ägypten und es ist die Ursprungserzählung der Demokratie in den sogenannten Neuen Bundesländern.
Den Abschluss bildet der Theologe Gottfried Küenzlen: »›Um Mensch zu sein, sich weigern Gott zu sein‹. Revolte oder Revolution: Camus mittelmeerisches Denken«. Er stellt Camus als Denker vor, der im Gegensatz zur Marxismusaffinität französischer Intellektueller nach dem Krieg den zerstörerischen Charakter moderner Revolutionen in ihrer Verabsolutierung bestimmter Ideologien und Menschenbilder erkannte. Die intellektuelle Wurzel allen Übels war ihm die deutsche Philosophie, besonders Hegel und Marx. Dagegen setzte er seinen »Menschen in der Revolte«. Wenn dieser Mensch, wissend um die Begrenztheit seiner selbst und seines Lebens sowie um dessen Sinnlosigkeit, sich nicht umbringen will, bleibt als Alternative, das Leben in all diesem Wissen bewusst zu leben und zu feiern. Das »mittelmeerische Denken« ist ein Denken im Bewusstsein von Grenzen, das entspannt sein kann, weil es seine Kräfte nicht bündeln muss, um »die letzte Utopie« zu erreichen, die Vergöttlichung des Menschen. Hier trifft sich der Christentums- und Kirchenkritiker mit der christlichen Einsicht in die Begrenztheit des Menschen sowie dem von Bonhoeffer geleisteten Durchbruch für einen neuen Mut zur Diesseitigkeit im christlichen Glauben und kirchlichen Handeln. Der Verfasser stellt diese Konvergenz her, ohne, wie er betont, Camus christlich vereinnahmen zu wollen. Er vermutet, Camus wäre über die Revolution von 1989 begeistert gewesen – eine Revolution ohne nach Absolutheit heischender Utopie.
Man muss nicht in allem mit den einzelnen Beiträgen mitgehen und kann sie doch Gewinn bringend lesen. Das Grundanliegen besteht letztlich nicht darin zu klären, ob Gott tatsächlich in der Geschichte wirke, weil es zu dieser Frage keine abschließende Antwort oder einen Konsens geben kann. Es geht vielmehr darum, die Friedliche Revolution von 1989 als neues Grundparadigma, als neuen christlich grundierten europäischen Aufbruch zu begreifen, der erkennbar gegen die bisherige, Schulbuch beherrschende Gründungsideologie einer säkularen, säkularisierenden und vermeintlich durchweg »fortschrittlichen« Französischen Revolution steht. Im Unterschied zu dieser blutigen Revolution von 1789 blieben 1989 und die Folgezeit aufgrund des bewussten Verzichts auf die große Menschheitsutopie – zu der es durchaus Ansätze gab – von den Abgründen gewaltsamer gesellschaftlicher Selektion befreit. So gesehen birgt das Buch provokatives Potential für eine breite geschichtspolitische Debatte. Allerdings bleibt fraglich, ob es mit diesem Anliegen die öffentliche Aufmerksamkeit erringen kann. Es würde jedenfalls den eingespielten säkularisierten Geschichtsdiskurs in erfrischender Weise durcheinanderwirbeln.