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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

793–795

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Köbele, Susanne, u. Bruno Quast [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Literarische Säkularisierung im Mittelalter.

Verlag:

Berlin u. a.: Akademie Verlag (De Gruyter) 2014. 429 S. = Literatur – Theorie – Geschichte, 4. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-05-006515-1.

Rezensent:

Angila Vetter

Schon seit Längerem wird in der mediävistischen Forschung die Vorstellung vom Mittelalter als ein »goldenes Zeitalter des Glaubens« in den Bereich romantischer Legendenbildung verwiesen (zuletzt etwa Jan-Dirk Müller: Wie christlich ist das Mittelalter oder: Wie ist das Mittelalter christlich? Zum ›Herzmaere‹ Konrads von Würzburg. In: PBB 137 [2015] 3, 396–419). So lassen sich Tendenzen der Säkularisation nicht erst in der Frühen Neuzeit, sondern schon im Mittelalter feststellen.
Die hier versammelten Beiträge widmen sich dem in seiner Vielfalt schwer fassbaren Phänomen einer immer stärker werdenden Distanzierung des Glaubens. Im Modus einer »literarischen Säkularisierung« werden religiöse Vorstellungen und Denkmuster dabei in der Literatur anverwandelt und produktiv funktionalisiert. Als »einschüchternd vieldeutig« (14) bezeichnen die Herausgeber selbst den Säkularisierungsbegriff. Dies schlägt sich in den 19 Beiträgen nieder: Die Untersuchung narrativer, figurativer genauso wie spiritualitätsgeschichtlicher und politisch relevanter Strategien erfolgt in verschiedensten Textsorten. Die Bandbreite reicht von Romanen und Mären sowie lyrischen Gedichten bis hin zur Heldenepik und Mystik. Die Beiträge fragen nach der historischen Signatur dieser sich literarisch ausbildenden »Verweltlichung« zwischen dem 11. und 15. Jh. – und dies aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: aus der Germanistik, der Romanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Die Beiträge eint die Untersuchung der wechselseitigen Durchdringung geistlicher und weltlicher Diskurse in der Literatur, so dass die unterschiedlichen kulturellen, geistesgeschichtlichen, historischen und religiösen Prozesse deutlich werden, die die literarische Säkularisierung im Mittelalter ausmachen. Die nicht wie in der Neuzeit klar verlaufende Trennlinie zwischen »weltlich«/»geistlich«, die sich immanent manifestierende Transzendenz, das Verschwimmen der Begriffe »heilig«/»profan« verweisen auf eine »Säkularisierung vor dem Zeitalter der Säkularisierung«, in einem Spannungsfeld aus Bewältigungsversuchen des »Gott und der Welt-Gefallens«. Man stellt, lapidar ausgedrückt, die »Gretchenfrage« – wie halten es die Texte mit der Religion?
Das Sakrale ist ein klar zu definierender Raum, umgrenzt vom Transzendenzbezug, insofern als dass er keine Zeitlichkeit besitzt; »geschichtsresistent«, nennt Warning (388) ihn. Gott ist endlos, zeitlos. In Erzählungen ist er die histoire, das Erzählen der discours (Albrecht/Hausmann). In der Heilsgeschichte kann alles verortet werden; was aber, wenn diese »ins Stocken« gerät (Prica), wenn sich der Deutsche Orden nicht mehr allein Heidenkampf und Glaubens­sicherung widmet, sondern dessen literarische Zeugnisse mehr und mehr die wachsende Verweltlichung und den politischen Einfluss erkennbar werden lassen? Biblische Stoffe und apokryph Gewordenes werden benutzt als Legitimation, aber auch als Form der Selbstverortung. Gerät die Heilsgeschichte ins Stocken, zählt das Jetzt, die eigene Welt. Man kommt von der Ewigkeit zur Zeit, von der Heilsgeschichte zur Historie. Die literaturwissenschaftlichen Beiträge widmen sich diesem »Diesseits« der Erzählungen, jenseits des Metanarrativs der Heilsgeschichte. Die göttliche Inspiration tritt in der Erzählung hinter das Erzähler-Ich zurück. Sie wird nicht negiert, aber die eigenständige Leistung der Autoren steht im Vordergrund. Besonders spannend sind diese erzählerischen Manifestationen, wenn es sich bei den Untersuchungsgegenständen um genuin geistliche Literatur handelt, wie etwa Bruno Quasts Beobachtungen zur zweiten Verkündigung an Maria in Priester Wernhers Driu liet von der maget (entstanden 1172), eine deutschsprachige Bearbeitung der Kindheit Jesu-Kompilationen, die man unter dem Sammelbegriff Pseudo-Matthäusevangelium zusammenfasst. Die Verkündigung an die Gottesmutter durch den Erzengel gerät zum Spiel – Engel und Heilige Jungfrau spielen Verstecken miteinander. Die Profanisierung der Szene ist hier Voraussetzung von Epiphanie. Die »gottdurchwaltete Ordnung« (Müller, 63) ist innerhalb der Erzählung keine Voraussetzung mehr.
Die Folgen für den höfischen Roman untersuchen Chinca und Müller. Wie »christlich« ist dann ein Erec oder ein Tristan? Sind die Marienvergleiche zitierenden Oden des Minnesangs an adlige Damen Parodie oder ästhetische Erhöhung (Köbele)? Beispielhaft für diese Fragstellungen der Beiträge an die »weltliche« Literatur kann hier die Vorgehensweise von Susanne Reichlin angeführt werden. Sie untersucht einige Kreuzliedstrophen Hartmanns und Reinmars im Spannungsfeld von Minnedienst und Gottesdienst. Aber nicht, um sich für oder gegen die Säkularisierungsthese zu entscheiden, sondern vielmehr, um nach dem »Warum« zu fragen. Dieser Ansatz eint die Beiträge des Sammelbandes. Sämtlich schauen sie nach den Aktualisierungen der untersuchten Texte an ge­wandelte Sinnansprüche der Rezipienten in ihrem jeweilig historisch zu bestimmenden Umfeld (Reichlin nennt dies »Bedeutungsgeschehen«, 176).
Nicht nur die Autoren arbeiten sich offensichtlich an dem spannungsgeladenen Verhältnis dieses »Gott-und-der-Welt-Gefallens« ab, sondern auch das adlige Publikum. Kern des adligen Konflikts ist die Unvereinbarkeit der Ansprüche, die Gott und Welt stellen. Denn »wenn sich die Spannung von Immanenz (nunc) und Trans-zendenz (tunc) endgültig erst nach dem Tod auflöst, konkret: wenn man erst aus der Welt sein muss, um jenseits der Welt selig sein zu können, ist diese Lösung allenfalls für Märtyrer eine Op-tion« (Köbele, 227). Oder noch drastischer mit Haferland (138) gesprochen: »Die säkulare Welt besteht aus Lebenden«. Es ist aber kein endgültiger Abschied vom Sakralen, der hier herausgearbeitet wird, sondern vielmehr das Aufzeigen der Umbewertung einer ge­schichtsphilosophischen Verlaufsform zu einer hermeneutischen Kategorie (Friedrich). Die Spannung bleibt bestehen. Literarisch manifestieren sich die Prozesse der Säkularisierung ebenso wie die Sakralisierung des Profanen in »Schichtungen, Konsensen und Konflikten« (Bastert).
Schlaglichthaft beleuchten die Beiträge damit nicht nur das, was die Autoren in ihren Texten anlegten, sondern insbesondere auch die Rezipientenseite. Sie zeigen das komplexe Phänomen der »Säkularisierung vor der Säkularisierung« in einem Umfang, der sowohl weiterführend die Übertragbarkeit der festgestellten Tendenzen auf die unterschiedlichsten Gattungen und Textsorten zulässt, als auch das »Dazwischen« konzis beschreibt: zwischen Weltdienst und Gottesdienst, Heilsgeschichte und Historie, Endlosigkeit und Vergänglichkeit. Dabei verliert sich keiner der Beiträge in dieser Hybridität, sondern sie beschreiben, was wie erzählt wird, wo Grenzen gezogen oder Mauern eingerissen werden. Auf diese Weise wird deutlich, wie das komplexe Phänomen literarischer Sä­kularisierung perspektivische Inversionen und paradoxe Gegenläufigkeiten thematisiert, das die Dichotomie »weltlich«/»geistlich« als weniger eindeutig zeigt, als uns unser neuzeitliches oder modernes Weltverständnis annehmen lässt. Damit leistet der Sammelband einen hilfreichen Beitrag zur aktuellen Säkularisierungsdebatte in der Mediävistik und offeriert über die Vielfalt der behandelten Themen neue Perspektiven sowohl auf den vielbesprochenen Gegenstand der Säkularisierung als auch auf die volks­sprachige Literatur des Mittelalters.