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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

984–986

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Schäfer, Gerhard, u. Martin Brecht]

Titel/Untertitel:

Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus. Festschrift für G. Schäfer zum 75. Geburtstag am 2. Juni 1998 und M. Brecht zum 65. Geburtstag am 6. März 1997. Hrsg. von H. Ehmer u. U. Sträter.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 382 S. gr.8 = Pietismus und Neuzeit, 24. Kart. DM 94,-. ISBN 3-525-55896-1.

Rezensent:

Detlef Döring

Der vorliegende Band des eingeführten Jahrbuches ist als Festschrift für Gerhard Schäfer und Martin Brecht gestaltet worden, die zu den markantesten Vertretern der gegenwärtigen Kirchenhistoriographie zu zählen sind. Eröffnet wird der Band durch die bei solchen Anlässen üblichen Laudationes und Schriftenverzeichnisse der Jubilare (bei M. Brecht Ergänzung des Publikationsverzeichnisses zum 60. Geburtstag). Die folgenden 17 Aufsätze beschäftigen sich schwerpunktmäßig, aber nicht allein mit Themen zur Geschichte des württembergischen Pietismus. Dabei spannt sich der zeitliche Bogen von der zweiten Hälfte des 16. Jh.s bis in die Gegenwart. Die folgende Rezension muß sich aus Raumgründen auf eine Auswahl vorzustellender Beiträge beschränken. Diese konzentriert sich der Kompetenz des Rez. entsprechend auf Abhandlungen zum 17. und 18. Jh.

Auch die vorliegende Festschrift hat mit Problemen ihres Genres zu ringen, d. h. mit der bunten Mischung der Beiträge und mit der Tatsache, daß mancher Autor wohl allein aus Verpflichtung dem Geehrten gegenüber einen mit flüchtiger Hand verfaßten Aufsatz mit geringem substantiellem Gehalt einreicht.

Zu diesen Texten zählt z. B. Jörg Baurs im wesentlichen aus Zitaten bestehende Abhandlung "Der traditionale Widerspruch gegen Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzergeschichte im Werk von Johann Friedrich Corvinus". Weder erfahren wir etwas zur Person von Corvinus, noch finden sich Mitteilungen zur Einbettung von Corvinus’ "Fürbildung der Lehre ..." in die allgemeine Diskussion um Arnolds umstrittenes Werk oder zur Reaktion des Angegriffenen.

Einen merkwürdigen Eindruck hinterläßt Konrad Gottschicks Aufsatz "Der Umgang des Christopherus Jacobus Dietlinus mit Arndts Büchern von wahrem Christenthum". Der Autor stellt eine in Familienbesitz befindliche Ausgabe von Arndts Buch mit Einträgen des Theologen Chr. J. Dietlinus in "noch ordentlich lesbarer gotischer Schrift" vor. Die Einträge werden im Anhang zu diesem Aufsatz ediert. Schon beim ersten Durchlesen dieser Notizen muß Gottschick an Joseph Schaitbergers "Evangelische Christenpflicht" denken (35); Dietlinus sei deutlich von dieser Schrift beeinflußt worden. Der Rez. hat die Texte verglichen und sich bemüht, ähnlich zu denken, jedoch ohne Erfolg. Nach der Methode des Autors ließe sich die Abhängigkeit eines jeden religiösen Textes von jedem beliebigen anderen religiösen Text nachweisen. Eine bloße Sammlung von Lesefrüchten stellt der Beitrag von Martin Weyer-Menkhoff dar ("Nicht-Verstehen hilft!" Anmerkungen zu Friedrich Christoph Oetingers Pädagogik und Katechetik). Es fehlt die systematische Durchdringung des Stoffes und die Eingliederung von Oetingers pädagogischen Vorstellungen in die Pädagogikgeschichte des 18. Jh.s.

Der Vorwurf der Flüchtigkeit läßt sich gegen die Abhandlung von Walter Stäbler sicher nicht erheben (Nürtingen als Zentrum des von Bengel und Oetinger geprägten württembergischen Pietismus, mit 35 S. der umfangreichste Beitrag). Gleichwohl erweckt sie bei der Lektüre ein gewisses Unbehagen. Stäbler meint, intensive Kontakte Philipp Matthäus Hahns zu pietistischen Lehrern der Nürtinger Schule nachweisen zu können. Von den genannten acht Lehrern tauchen jedoch fünf nie in Hahns Tagebüchern (Stäblers Quelle) auf; die Beziehungen zu den anderen drei Pädagogen sind eher zweifelhaft oder periphär. An die Stelle von Quellennachweisen tritt so beim Autor die Vermutung. Gleiches gilt für die erwähnten Lehrer, die der Autor lexikonartig (unter Beibringung von umfangreichem Archivmaterial) vorstellt; über deren religiöse Vorstellungswelt finden sich dort allerdings nur ausnahmsweise Mitteilungen.

Aus der Zahl der übrigen dem Pietismus des 18. Jh.s gewidmeten Beiträgen hebe ich folgende hervor: Einem sehr anziehenden Thema widmet sich Otto Betz (Kabbala Baptizata. Die jüdisch-christliche Kabbala und der Pietismus in Württemberg), der anhand der in Bad Teinach befindlichen kabbalistischen Lehrtafel (1663 fertiggestellt) der Prinzessin Antonia den Einfluß der christlichen Kabbala auf den Pietismus darstellen will. Die ausführliche, hauptsächlich an Reuchlin orientierte Darstellung der christlichen Kabbala kann vom Rez. nicht beurteilt werden.

Die Ausführungen mögen einen durchaus überzeugenden Charakter besitzen, was aber nicht überzeugt, ist die ganz knappe Mitteilung zur Entstehung der Lehrtafel. Betz nennt die Prinzessin wiederholt als Schöpferin der Lehrtafel, erwähnt aber auch ein "Beraterteam". Auf welche Quellen stützt sich hier der Autor? Die behauptete intensive Reuchlin-Rezeption läßt sich, sieht man von Betz’ Ausführungen zu den inhaltlichen Aussagen der Tafel ab, durch den eher dunklen Hinweis auf einen Codex in Stuttgart (Anm. 8) nicht belegen. Auf der einen Seite wird der Einfluß der christlichen Kabbala der Prinzessin und ihrer Berater auf die Entwicklung des Pietismus unterstrichen, auf der anderen Seite betont der Autor das Unverständnis und die Vergessenheit, die die Tafel alsbald trafen. Die Untersuchung von Hans-Martin Kirn ("Ich sterbe als büßende Christin...". Zum Suizidverständnis im Spannungsfeld von Spätaufklärung und Pietismus) zeigt, daß der Abbau der radikalen Verurteilung des Selbstmörders nicht nur das Verdienst einer säkular orientierten Aufklärung darstellt, sondern auch theologische Begründung gefunden hat, wie der Autor am Werk des Spätpietisten Johann Ludwig Ewald nachzuweisen sucht. Die Erkenntnis, daß scharfe Lagerbildungen (die Aufklärung, der Pietismus, die Orthodoxie) die Ausnahme bilden, daß es immer wieder zu Mischungen dieser drei Komponenten kommt, wird so an einem Spezialfall bekräftigt. Zu Recht verweist Wolfgang Schöllkopf auf das Forschungsdefizit "Ehefrauen der Theologen". Die von ihm anschließend entworfene Biographie der Christina Barbara Hedinger belegt aber auch die Dürftigkeit des für solche Untersuchungen zur Verfügung stehenden Quellenmaterials. Am Beispiel Johann Reinhard Hedingers illustriert dann Wolfgang Sommer seine bekannte, den Rez. überzeugende These vom kritischen, auch den Herrscher nicht schonenden Auftreten protestantischer Hofprediger. Besonders bemerkenswert erscheint dem Rez. schließlich ein Beitrag von Thomas Kaufmann (Die Wittenberger Theologie in Rostock in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s), der zwar mit dem Pietismus-Thema unmittelbar nur im losesten Zusammenhang steht, in seiner Forderung einer "forschungsstrategischen Akzentverlagerung" der Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Theologie- und Religionsgeschichte auf das spätere 16. und 17. Jh. jedoch die Finger auf eine besonders schmerzhafte Wunde legt: die Vernachlässigung der Erschließung der deutschen Theologie-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Reformation/Humanismus und Aufklärung/Pietismus. Beide Epochen sind jedoch ohne Kenntnis dieser Zwischenzeit nicht wirklich zu verstehen. Kaufmanns Darlegungen, daß nicht Lehrstreitigkeiten das Alltagsleben der Rostocker Theologen bestimmten, sondern das Bemühen um Konsens, korrigieren das herkömmliche Bild von den "rabies theologorum" als bestimmenden Wesenszug der nachreformatorischen Zeit und geben den Blick frei für eine veränderte Einschätzung jener Periode.

Als Fazit ist festzuhalten, daß auch die Herausgeber der heute immer beliebter werdenden Literaturgattung "Festschriften" auf das Kriterium achten sollten, dem alle historiographischen Publikationen verpflichtet sind (oder sein sollten) - die Anwendung strengster Maßstäbe der Wissenschaft.