Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

83–85

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Souletie, Jean-Louis

Titel/Untertitel:

La Croix de Dieu. Eschatologie et histoire dans la perspective christologique de Jürgen Moltmann. Préface par J. Doré.

Verlag:

Paris: Cerf 1997. 409 S. 8 = Cogitatio Fidei. Kart. fFr 170.-. ISBN 2-204-05531-X.

Rezensent:

Gerhard Ludwig Müller

Was hat Gott zu tun mit den Leiden der Menschen? Wie wird die Geschichte bestimmt und auf Zukunft hin ermöglicht durch das Leiden Gottes am Kreuz und durch die Auferweckung Christi von den Toten als Ursprung von Freiheit und Hoffnung? Wie kaum ein zweiter evangelischer Theologe aus dem deutschen Sprachraum hat sich Jürgen Moltmann in den letzten 40 Jahren diesen Fragen existentiell und intellektuell ausgesetzt. Seine Werke, angefangen von der "Theologie der Hoffnung" (1964) über den "Gekreuzigten Gott" (1972) bis hin zu "Jesus der Messias Gottes" (1989), sind je neue Anläufe, um in den wechselnden Konstellationen der geistigen Befindlichkeit der Zeit die Revelanz des Glaubens an den Gott aufzuweisen, der in seinem Sohn das Kreuz der Welt in sich selbst aufgenommen und ihr im eschatologischen Geschehen der Auferstehung Mut zur Kritik des Bestehenden (K. Marx, E. Bloch) und zur mitleidenden Solidarität wie zur Überwindung bestehender Unrechtsstrukturen gegeben hat. Indem Moltmann den metaphysisch-theistischen Gott der Apatheia verabschiedet, gelingt ihm eine einmalige, u. a. von der lutherischen Kreuzestheologie angeregte Konkretisierung und Fokussierung der Offenbarung im Kreuz Christi. Er überwindet die Enteschatologisierung der Botschaft und des Schicksals Jesu in der liberalen Theologie wie auch in Anknüpfung und Widerspruch die Enthistorisierung des Christentums in der existentialen Interpretation Bultmanns. Die Theologie des Gekreuzigten steht ebenso gegen eine Privatisierung des Glaubens wie eine Instrumentalisierung für bestimmte politische Ideologien. Eschatologie und Geschichte sind aufeinander bezogen in einer radikal trinitätstheologisch ausgelegten Christologie, die im Gottverlassenheitsschrei Jesu am Kreuz und in der Eröffnung des Für-Seins Gottes in der Auferweckung Jesu von den Toten sich als die Manifestation der Geschichte eines Leidens und seiner Aufhebung in Gott zwischen Gott und Gott erweist. Die Frage, was Gott mit dem Menschen zu tun hat, fällt zusammen mit der Frage, was Gott mit dem Leiden und der Geschichte zu tun hat. Umgekehrt läßt sich nur von daher klären, ob Gott für den modernen Menschen jenseits von Theismus und Atheismus, Religion und Religionskritik unter seinen konkreten existentiellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Daseinsbedingungen überhaupt relevant ist und ob das Christentum noch eine Chance hat.

Im Interesse dieser Fragen setzt sich der Vf., Professor am renommierten Institut Catholique in Paris, in der vorliegenden umfangreichen Studie mit Moltmann auseinander. Ausgestattet mit bester Kenntnis des gesamten Werkes und der bisherigen Rezeption und Kritik begegnen dem Leser die wichtigsten Namen der Theologie und Philosophie des Jahrhunderts sowie die zentralen Probleme der historisch-kritischen Exegese (historischer Jesus - Christus des Glaubens, Heilsbedeutung des Kreuzes, Auferweckung als Interpretament oder heilsbedeutsames Ereignis), der Suche nach einer Grundhermeneutik in der systematischen Theologie (Heil-Geschichte-Existenz, Glaube als Hingabe und Praxis, trinitätstheologischer Horizont) und die ideologische Auseinandersetzung zwischen Antikommunismus und Antikapitalismus aus der Zeit des Kalten Krieges.

Der exklusiv kreuzestheologische Ansatz der Frage nach Gott bedeutet, sich der Frage nach den Beziehungen zwischen Eschatologie und Geschichte zu stellen. Im ersten der drei Teile (21-144) seiner Studie entwickelt S. eine Hermeneutik des Gekreuzigten als Aufweis der Relevanz der christlichen Botschaft für den heutigen Menschen (nach Aufklärung, Religionskritik, postulatorischem, militantem Atheismus, nach Auschwitz und Gulag, inmitten von Ausbeutung und Inhumanität in der "dritten" Welt), um die radikal staurologische Erschließung der Trinität innerhalb der Alternative "Geschichte in Gott oder Gott in der Geschichte?" einer kritischen Analyse zu unterziehen. Liegt nicht bei Moltmann eine hegelianisch anmutende Übervermittlung vor, so daß die Eigenaktivität Jesu in seiner menschlichen Natur und die jedem Menschen eigene Freiheit und das ihm eigene Leiden in das Geschehen zwischen Gott und Gott aufgehoben und damit ihres Eigenseins beraubt werden? Diese kritische Frage entfaltet S. im zweiten Teil (145-258), in dem nach der Möglichkeit einer Eschatologie des Kreuzes gefragt wird, um auf dem Hintergrund einer erneuerten Trinitätstheologie, die die Aporien einer innertrinitarischen Leidens- und Versöhnungsgeschichte hinter sich gelassen hat, die bleibende, aber fruchtbare Spannung zwischen Eschatologie und Geschichte aufzuweisen.

Diesem Ziel dienen die Überlegungen des dritten Teils (259-367), in dem das Eschaton als Qualifizierung der Geschichte durch die Identifikation Gottes mit dem Menschen in Christus und die Geschichte als Feld der Bewährung des Glaubens und der Bewahrheitung der Solidarität Gottes mit den Menschen zusammengeführt werden in einer sakramentalen Eschatologie. Dies wird durchgeführt an der Eucharistie in ihren Grundmomenten des Gedächtnisses von Kreuz und Auferstehung Christi und der begründeten Hoffnung auf die Parusie und damit die Eröffnung geschichtlicher Zukunft, die reale Repräsentation des Heilsgeschehens und seine Partizipation wie auch die sehr tiefgründige Hermeneutik der Rede vom Opfer Christi und den Konsequenzen für die Ethik. Die Eucharistie als Gabe ermöglicht, daß durch das ethisch-solidarische Handeln von Menschen aus der Kraft der Solidarität Gottes mit den Leidenden und bis hinein in den Abyssus des Todes und der Gottverlassenheit in Leiden Unfreiheit und Ausbeutung in der Geschichte die Gottesherrschaft proleptisch Gestalt wird und die Kirche den (sozialen) Leib Christi in Praxis und Bekenntnis antizipiert. Die Eucharistie als Gabe entlastet die an Christus Glaubenden von der unmöglichen Aufgabe, selbst die Ankunft der Gottesherrschaft zu initiieren und damit die Vollendung der Geschichte leisten zu müssen (vgl. 385).

Mit der souveränen Analyse und Würdigung der Theologie Moltmanns im problemgeschichtlichen Kontext seiner Epoche wie auch mit der tieferen Klärung der trinitarisch-christologisch begründeten Verhältnisbestimmung von Eschaton und Geschichte im Licht des sakramentalen Verständnisses von Kirche und Liturgie hat S. einen wichtigen Beitrag für die Theologie der Gegenwart geleistet. Dies betrifft sowohl die wechselseitige Befruchtung deutscher und französischer Theologie als auch die evangelische und katholische Christen gemeinsam bewegende Frage, wie wir "nach Auschwitz" so von Gott sprechen können, daß sich die Menschen in ihrem Leiden ernstgenommen sehen, damit sie "im Kreuz Gottes" den Ernst der Liebe und damit Gott erkennen können.