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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

782–784

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Jonas, Michael

Titel/Untertitel:

Mikroliturgie. Liturgische Kleinformeln im frühen Christentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIV, 405 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 98. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-154224-4.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die Arbeit von Michael Jonas, die bei Martin Wallraff in Basel angefertigt und dort im Sommersemester 2014 als Dissertation angenommen wurde, verbindet philologisch akribische Exegese biblischer und altkirchlicher Quellen mit liturgietheologisch relevanten Schlussfolgerungen. Anhand der Formeln »Amen« (21–132), »Halleluja« (133–201), »Hosanna« (203–241), »Maranatha« (243–275) sowie des eucharistischen Einleitungsdialoges, des sogenannten »Sursum Corda« (277–367), wird das Entstehen des christlichen Gottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten rekonstruiert.
Dabei ist es zunächst bemerkenswert, wie an der Geschichte dieser mikroliturgischen Elemente die Ausdifferenzierung von Chris­tentum und Judentum anschaulich wird. So enthält schon die Chris­tologisierung des Hosanna-Rufes und die Zuwendung zum Kyrios Jesus Christus im »Sursum Corda« das Entscheidende des christlichen Gottesdienst- und Gottesverständnisses. Hinzu kommt die inszenatorisch entscheidende Tatsache, dass die mikroliturgischen Formeln und Akklamationen (zur Differenzierung von beidem vgl. 10) dem Volk gehören und dass gerade diese festliegenden Stücke dem Gottesdienst auf Dauer seine Struktur und christolo-gische Signatur verleihen. Das Mikroliturgische ist in der Tat »Lit-Urgie«, das »Werk des Volkes«.
Die kleinen liturgischen Formeln sind gegenüber agendarischen und theologischen Wandlungen relativ resistent, weil sie – anders als etwa die Anaphoren – gar nicht reformuliert werden können. So hat das mikroliturgische Grundgerüst langfristige liturgische Weiterungen ebenso wie homiletische Entwicklungen überdauert. Darüber hinaus verbindet das mikroliturgische Grundgerüst die Christenheit über geographische, ekklesiologische und theologische Distanzen hinweg. Die Großkirchen seit dem 4. Jh. wie die von ihnen abweichenden Gruppierungen »verwenden das Grundvokabular christlicher Frömmigkeit.« (362) Die großen Liturgien seit dem 4. Jh. »haben sich mit oder genauer: um die Mikroeinheiten herum fixiert« (364, dort kursiv). Mit dieser Erkenntnis verbunden ist das historisch nüchterne Eingeständnis: »Für das frühe Christentum – d. h. die ersten drei Jahrhunderte der Kirche – wird sich nicht mehr als Kleines, Bruchstückhaftes über den christlichen Gottesdienst sagen lassen.« (1)
Damit stehen die größeren Elemente der Liturgie, die fünf Messgesänge Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus/Benedictus und Agnus Dei nicht zur Debatte. Es ist aber umso eindrücklicher, dass in dieser Arbeit die fundamentalen Fragen des liturgischen Verstehens und Gestaltens deutlich zur Geltung kommen, obwohl der Zugang über die kleinsten Elemente gewählt wird. Den Untersuchungszeitraum bilden die ersten drei Jahrhunderte; das Kriterium für die Untersuchung des jeweiligen Elements ist die belegte liturgische Verwendung in Quellentexten dieses Zeitraums. Formeln, die im Neuen Testament begegnen, dann aber erst wieder im 4. Jh. erscheinen, werden darum ausgeschlossen (13 f.). Dadurch ergibt sich zugleich eine heilsame Verfremdung, die nicht die seit dem 4. und dann im 16. Jh. entstandenen Formen in die Frühzeit der Kirche zurückprojiziert und diese für die eigene Tradition reklamiert: »Der urchristliche Gottesdienst, besser: die urchristlichen Gottesdienste waren jedoch weder proto-römische Eucharistiefeiern, noch frühprotestantische Bibelstunden, noch einfach freier Raum für christliche Charismen. – Sie waren etwas von alledem.« (6) Aus dieser prägnanten These leitet J. außerdem zu Recht die Forderung nach einer ökumenischen Liturgiewissenschaft ab (ebd.).
Eine durchgehende These oder besser ein Wahrnehmungs- und Beurteilungsprinzip von J. ist die konstatierte Mehrdeutigkeit bei der Verwendung der Formeln. Teleologische Gesamturteile lehnt J. mit dem Hinweis ab, dass sich kausale Schlussfolgerungen anhand der vorhandenen Quellen kaum ziehen lassen. Die meisten Umstände hinsichtlich der gottesdienstlichen Praxis der ersten drei Jahrhunderte liegen im Dunkeln – ganz abgesehen von der Frage, ob nicht auch die späteren Ordnungen wie die sogenannte Traditio Apostolica bzw. die Apostolischen Konstitutionen tatsächlich die reale liturgische Praxis widerspiegeln, oder ob es sich lediglich um individuelle oder kirchliche Modellentwürfe – in der Hoffnung auf ihre Umsetzung – handelt.
Mit Recht vorsichtig ist J. so bei der Identifizierung von liturgischen Praktiken in den neutestamentlichen Schriften; so ist das »Amen« am Schluss einer Evangelienschrift laut J. als ein literarisches Stilmittel dem Text angefügt worden (68). Auch der Aufruf zum Friedenskuss am Schluss der paulinischen Briefe markiert nicht den Übergang zur Liturgie (Mahlfeier), sondern stellt eine literarische Stilisierung nach hellenistischem Muster dar (304).
Vor allem aber gibt es den Quellen zufolge offensichtlich keine »Standard-Semantik« bei den liturgisch verwendeten Formeln. Die von J. für diesen Umstand benutzte Metaphorik ist die »Flüssigkeit« der mit den jeweiligen mikroliturgischen Elementen verbundenen Assoziationen. So schreibt J. dem »Hosanna« im Urchristentum chris­tologische, messianische und eschatologische Bedeutungsnuancen zu, ohne dieses Element im Sinne des späteren Sanctus/Benedictus eucharistisch zu verengen (217). Auch der seit dem 4. Jh. so stabile Einleitungsdialog zur Eucharistie mit dem »Sursum Corda« hat laut J. zunächst einen »flüssigen« Charakter wie die Grußformulierungen in den neutestamentlichen und anderen urchristlichen Schriften (302). Besonders deutlich wird das an der synoptischen Übersichtstabelle (318). Eine »Urform« ist kaum auszumachen (319). Damit votiert J. zugleich gegen die lange Zeit konstatierte »evolutionären Gesetzen folgende Vereinheitlichungs- oder Ausfaltungstendenz.« (302)
Mir scheinen die im 19. Jh. entdeckten biologischen und ge­schichtsphilosophischen Modelle die Wahrnehmungsmuster auch der Liturgiegeschichte bestimmt zu haben. Man kann dabei an organologische Bilder wie an das der Liturgie als eines sich immer weiter verzweigenden Baumes (bei Johann Andreas Jungmann, mehrfach aufgenommen von Joseph Ratzinger) denken, ohne dass sich J. explizit damit auseinandersetzt. Auf jeden Fall wird deutlich, dass die Metapher der »Flüssigkeit« nicht nur historische Urteile beinhaltet, sondern auch systematische Implikationen hat. Dabei ist die von J. präsentierte Stufenhypothese zum eucharistischen Einleitungsdialog, der zufolge am Anfang nur die Gebetsaufforderung stand, der dann später der Gruß und das »Sursum Corda« zuwuchsen (348), allerdings ihrerseits eine bloße Vermutung im Kontext der Grundannahme, nach der sich das geistliche Leben der frühen Gemeinden nicht bloß in die uns heute vertrauten Formen »ergoss«; man kannte eben damals eine Vielzahl von »Zwischenformen« (360).
J. hat eine Arbeit vorgelegt, die man aufgrund der Fülle des präsentierten historischen Materials und der Besonnenheit des Urteils immer wieder gern zur Hand nehmen wird. Das Buch ist wegen der Genauigkeit der Textbehandlung – u. a. ist J. auch des Syrischen kundig – bisweilen etwas mühsam zu lesen, wie das bei philologisch sorgfältigen Studien eben der Fall ist. Aber J. verliert nie das große Ganze, den einst gefeierten und den heute zu feiernden Gottesdienst, aus dem Blick. Die Quellenzitate werden durchweg übersetzt, so dass der Gebrauchswert auch über den engen Kreis der Fachleute hinaus hoch ist. Dazu tragen auch das gut gegliederte Quellen- und Literaturverzeichnis (353–393) sowie die Bibelstellen, Personen- und Sachregister (395–405) bei.