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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

773–776

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kollmann, Bernd, u. Ruben Zimmermann[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XII, 716 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 339. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-152465-3.

Rezensent:

Werner Kahl

Bernd Kollmann und Ruben Zimmermann legen mit diesem umfänglichen Band 30 deutsch- bzw. englischsprachige Beiträge von 27 Exegeten und Exegetinnen zum Verständnis frühchrist-licher Wundererzählungen vor. Die Beiträge der vor allem aus Deutschland, Großbritannien und den USA stammenden Autoren und Autorinnen sind im Umfeld des zweibändigen von Zimmermann hauptverantwortlich herausgegebenen Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen entstanden. Sie werden in den folgenden vier Rubriken dargeboten: Grundfragen, Geschichtliche Perspektiven, Literarische Perspektiven, Rezeptionsperspektiven. Autorenverzeichnis, Stellen-, Autoren- sowie ein Namen- und Sachregister schließen den Band ab.
I. Grundfragen: Bernd Kollmann zeichnet die Entwicklung der Wunderdebatte von der Aufklärung bis zur Gegenwart nach und unterbreitet die von ihm bevorzugte Betrachtung Jesu als »Magier der besonderen Art«. Ruben Zimmermann problematisiert die Frage des Verstehens von Wundererzählungen »im Horizont der Anti- und Posthermeneutik« und lotet Chancen des Verstehens zwischen literarischen, geschichtlichen und rezeptionsorientierten Perspektiven aus. So richtig seine Beobachtung ist, dass es sich bei den Wundererzählungen narratologisch um »faktuale Erzählungen« handelt, so problematisch erscheint mir die Näherbestimmung, wonach hier auf »realitätsdurchbrechende«, »unverständliche« und »unerklärliche« Ereignisse Bezug genommen werden würde, was vor »dem Hintergrund der Naturgesetzlichkeit […] umso deutlicher« werde (42 f.) und es sich also bei den Wundererzählungen genauer um »phantas­tische Tatsachenberichte« handele. Hier offenbart sich eine grundsätzliche Problematik der Wunderhermeneutik und des Wunderbegriffs Z.s: Das in den frühchristlichen Schriften vorausgesetzte Weltwissen, das durchweg von der Realität Gottes und seines sich im Wunder offenbarenden, innerweltlich real erfahrbaren Wirkens in der Welt ausgeht, wird nicht ernst genommen, sondern durch anachronistische Eintragungen eines modernen Wirklichkeitsverständnisses überblendet. Unter Rekurs auf ethnologische Beobachtungen und das weltweite Pfingstchristentum macht Craig S. Keener nachvollziehbar, dass Christen im 1. Jh. Ereignisse als tatsächliche Wunder haben deuten können. Gerd Theißen stellt zu Recht fest, dass die Wunderheilungserzählungen über Jesus eine soziale Dimension haben. Für unangemessen halte ich die hier vollzogene Reduzierung der Wundererzählungen auf diesen Aspekt, einhergehend mit einer Enttheologisierung und Ethisierung der Wundererzählungen.
II. Geschichtliche Perspektiven: Axel Graupner meint, in der Wüs­tenerzählung in Ex 15,22–18,27 literarkritisch fünf Quellen bzw. Überarbeitungen mit je spezifischen theologischen Akzentuierungen ausmachen zu können. Detlev Dormeyer diskutiert in seinem informativen Beitrag neutestamentliche Wundererzählungen im Vergleich mit denen, die in hellenistischer Medizin (Asklepios) und Geschichtsschreibung überliefert sind. Hier rückt er einige Fehleinschätzungen früherer Forschung zurecht (u. a. Un­tergattungen Theißens). Wichtig ist die grundsätzliche Feststellung, dass die Wundererzählungen der Antike insgesamt als »wahre Geschichten verstanden werden (wollen), also als faktuale Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren« (145). Manfred Clauss ist darin zu­zustimmen, dass Menschen der Antike sich auf Erden wandelnde Götter vorstellen konnten. Dafür aber ist Vespasian gerade kein Beispiel. Nach Tacitus (Hist. 4,81) ist er Mittler, nicht Träger numinoser Macht. Clauss’ Wiedergabe der Passage lässt die seine Interpretation infrage stellende Information einfach aus. Erkki Koskenniemi argumentiert nachvollziehbar dafür, die Kategorie theios anêr weder für Apollonius von Tyana noch für an­dere antike Wunder-täter anzuwenden. In Bezug auf alttestamentliche Wundererzählungen betont er, dass Gott als der eigentliche Wundertäter vorauszusetzen sei. Neutestamentliche Wundererzählungen reflektierten bereits im Palästina zur Zeit Jesu anzutreffende diverse und diffundierende Wundertraditionen der mediterranen Antike. In einem umsichtigen Beitrag verortet Eric Eve die Wundererzählungen Jesu im historischen und kulturellen Kontext des antiken Ju-dentums (interessante Referenz auf Ez 34). Die ethnologische Differenzierung in etische und emische Betrachtungsweisen erweist sich als produktiv: Wunder im Frühchristentum und antiken Judentum beschreiben in der Binnenperspektive Gott mögliche Durchbrechungen des Normalen, was auch von gebildeten Juden jener Zeit Gott zugestanden wurde. Jesus konnte aufgrund der Wunder im Zusammenhang mit seiner Reich-Gottes-Verkün-digung von einigen Zeitgenossen als eschatologischer, gottgesandter Messias erkannt werden, insbesondere nach dem Gotteswunder der Auferweckung Jesu. Graham H. Twelftree analysiert Exorzismuserzählungen und -verweise in den ersten beiden Jahrhunderten, um zu einer Neueinschätzung von Harnacks Be­hauptung zu kommen, wonach Exorzismen eine wesentliche Rolle in der Ausbreitung des Christentums spielten. Dies galt nach T. nur in Verbindung mit der Evangeliumsbotschaft. Reinhard von Bendemann legt eine differenzierte und verlässliche Analyse frühjüdischer und hellenistisch-römischer Fieberheilungserzählungen vor. Die entsprechenden neutestamentlichen Passagen reflektierten nach B. nicht eine dämonologische Pyretologie. Dem wi­derspricht sicher Lk 4,38 f., das von B. ignoriert wird. Nach Pieter F. Craffert könne es in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Wundererzählungen nicht darum gehen, positiv oder negativ nach ihrer Historizität zu fragen, sondern in anthropologischer Perspektive darum, die in ihnen reflektierten Realitätskonstruktionen zu erhellen. Marco Frenschkowski fordert zu Recht ein, dass sich Exegese von der undifferenzierten Vorstellung eines »gemein­antiken Wunderglaubens« verabschieden sollte. Die von ihm aufgerufenen antiken kritischen Wunderstimmen machen aber doch entgegen F.s Stoßrichtung deutlich, dass Menschen der An-tike tatsächlich weithin mit der grundsätzlichen Möglichkeit nu­minoser Durchbrechungen von Alltagserfahrungen gerechnet haben.
III. Literarische Perspektiven: Zimmermann ist bei seinen Überlegungen zu einer literaturwissenschaftlichen Definition der Gattung »Wundererzählung« sicher darin zuzustimmen, dass sie nicht essentialistisch misszuverstehen sei, sondern danach zu fragen wäre, inwiefern sich dieses Konstrukt in Bezug auf den zu erfassenden Gegenstand als angemessen und sinnstiftend erweist. Problematisch erscheint mir der Versuch, am sêmeion-Begriff in Joh 2,11 »ein analoges Gattungsbewusstsein« neutestamentlich festzumachen, denn hier ist das Wunderereignis, nicht die Erzählung gemeint. Die Entscheidung, in diesen Erzählungen Wundertäter nur »im Sinne einer anthropomorphen Figur« (339) gelten zu lassen, scheint angesichts der textlichen Evidenz einerseits und des Weltwissens der Antike andererseits nicht haltbar. Nach Susanne Luther erlaube erst die Berücksichtigung des jeweiligen Makrotexts Aufschluss darüber, ob Wundererzählungen einen fiktionalen oder faktualen Anspruch erheben. Dies zeigt sie am Beispiel von Lk 7,11–17. Allerdings gibt es auch bei L. die Tendenz, modernes Weltwissen darüber, was möglich oder unmöglich sei, in neutestamentliche Wundererzählungen hineinzuprojizieren (363). Michael Labahn meint am Beispiel der sogenannten Geschenkwunder zeigen zu können, dass die in diesen Wundererzählungen kommunizierte »Neubestimmung der Erzählzeit als eschatologische Heilszeit« pragmatisch zur Zukunftsbewältigung befähige (392). Wendy J. Cotter macht überzeugend auf die in der Exegese von Wundererzählungen vernachlässigte, aber in den markinischen Wundererzählungen oft zentrale Figur des »outra-geous petitioner« aufmerksam, dessen/deren Jesu Aufmerksamkeit gilt. Die Analyse von »minor characters« in markinischen Wundererzählungen durch Cornelis Bennema weist in eine ähnliche Richtung: Diese Figuren hätten vornehmlich die Funktion, Jesu Identität und Mission zu klären und pragmatisch Glauben und Nachfolge hervorzurufen. Paul Borgman verortet die sieben Zeichen-Erzählungen des JohEv im Kontext der in diesem Evangelium maßgeblichen Opposition von Glaube versus Unglaube in Reaktion auf Jesu Auftreten. Kristina Dronsch kommt aufgrund einer innovativen Re-Lektüre des MkEv gut begründet zu einer Kurskorrektur in der Mk-Forschung: »Die Kreuzestheologie des Markusevangeliums ist […] kein Korrektiv für eine Wundertäter-Christologie, vielmehr ermöglichen die Wundergeschichten in der Botenperspektive das Kreuz nicht als Endpunkt des Botenamtes Jesu zu verstehen, sondern als Ermögli­chungsgrund für ein Verständnis, dass trotz des Todes des Boten seine Geschichte weiter geht, die in dem Auferweckungshandeln Gottes gründet« (465). In seinem dritten Beitrag verortet Zimmermann Wundererzählungen wiederum »im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik« (469). Ich halte es für angemessener, Wundererzählungen als faktuale Narrative göttlichen Wirkens zu begreifen. Dass diese Bestimmung von Wundererzählungen der neutestamentlichen Binnenperspektive gerechter wird und sie sich als theologisch produktiv erweist, legen die beiden folgenden Bei­träge nahe.
IV. Rezeptionsperspektiven: Christian Münch weist zu Recht auf die Problematik einer Bewertung der historischen Plausibilität der Wundererzählungen mittels einer modernen Welterfahrung hin. Es komme vielmehr darauf an, »sich […] dem Anspruch zu stellen, den die Texte erheben, in Jesus sei Gottes Kraft gegenwärtig gewesen« (514). In semiotisch-kritischer Perspektive entwickelt Stefan Alkier in einem gewichtigen Beitrag im Gegenüber zu einer formgeschichtlichen Verkürzung der Wunderforschung eine staurologische Interpretation der neutestamentlichen Wunder, die konsequent aus kreuzestheologischer Perspektive und damit fiktional zu lesen wären. Kognitionstheoretisch bestätigt István Czachesz, dass die Deutung von Wundererzählungen immer von angelegten Interpretationshorizonten abhängig ist. Luther arbeitet in ihrem zweiten Beitrag die Tendenz zu einer Ethisierung der Wundererzählungen in den apokryphen Thomasakten heraus. Eugen Drewermann stellt die von ihm entwickelte tiefenpsychologische Hermeneutik von Wundererzählungen dar. Die hier an den Tag gelegte Universalisierung bestimmter psychologischer Konzeptionen der westlichen Moderne bleibt unreflektiert. Ulrike Metternich entfaltet »Elemente einer feministisch-theologischen Wunderhermeneutik« (606). Markus Schiefer Ferraris Darstellung einer »dis/abilitykritischen Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen« weist auf das Problem der Normalitätserwartungen hin, die in Wundererzählungen evoziert werden, und reflektiert diese kritisch. Reinhold Zwick macht auf die produktive Irritation von Wunderdarstellungen in gelungenen Jesusfilmen (Pasolini) aufmerksam. Annike Reiß plädiert differenziert für die Berücksichtigung von biblischen Wundererzählungen im Religionsunterricht.
Den beiden Herausgebern ist außerordentlich zu danken für diesen Band, der wie kein anderer die Breite des gegenwärtigen exegetischen Wunderdiskurses aufzeigt.