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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

768–770

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Buscemi, Alfio Marcello

Titel/Untertitel:

Lettera ai Colossesi. Commentario Esegetico.

Verlag:

Milano: Edizioni Terra Santa 2015. XL, 554 S. = Studium Biblicum Franciscanum. Analecta, 82. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-88-6240-313-9.

Rezensent:

Horacio E. Lona

Der ausführliche Kommentar zum Kolosserbrief von Alfio Marcello Buscemi hat klar erkennbare Schwerpunkte: 1. Anwendung der klassischen Rhetorik. Im Anschluss an die Arbeit von J.-N. Aletti (Épître aux Colossiens, Paris 1993) wird der Text nach einer klassischen rhetorischen Struktur in vier Abschnitten analysiert: Einleitung: Praescriptum: Kol 1,1–2; Exordium: 1,3–8. Belehrender Teil: Propositio: 1,9–11; 1° Probatio: 1,12–20; 2° Probatio: 1,21–2,5; 3° Probatio: 2,6–15; 4° Probatio: 2,16–23. Paränetischer Teil: Subpropositio 3,1–4; 1° Locus ab effectis: 3,5–17; 2° Locus ab effectis; 3,18–4,1. Schlussteil: Peroratio; 4,2–6; Postscriptum 4,7–18; 2. Bedeutung der Textkritik. Die textkritischen Varianten werden bei jedem Vers eingehend erörtert, auch in den Fällen, die kein großes Problem darstellen; 3. Sprachanalyse. B. bemüht sich, den griechischen Text philologisch so exakt wie möglich zu erschließen, und bietet eine grammatikalische Erklärung der sprachlichen Formen. Manchmal fragt man sich, ob die angewandte Mühe im richtigen Verhältnis zur Aufgabe der Textauslegung steht, etwa bei der Erklärung zum Terminus philosophía, der aus phílos und sóphos mit dem Suffix »ía« besteht, und »Liebe zur Weisheit« bedeutet, oder auch »Philosophie«, »Denkart« (237; vgl. ferner zur agápe 43 f., Anm. 114; zur ekklesía 135, Anm. 207 usw.); 4. Vorrang der Synchronie. Die Textanalyse erfolgt weitgehend synchronisch, mit der Folge, dass die Frage nach der Tradition aus der Sicht der Diachronie entschieden zu kurz kommt. Selbst bei einer so oft behandelten Stelle wie dem Christushymnus in Kol 1,15–20 taucht die Frage nach einer traditionellen Herkunft der Perikope nicht auf. Der Leser erfährt nicht, dass die Frage in der Forschung auch ganz anders behandelt wurde als im vorliegenden Kommentar. Der religionsgeschichtliche Hintergrund zu manchen Passagen, wie dem erwähnten Christushymnus und dem Profil der Gegner (2,8.14–19), scheint mir nicht ausreichend untersucht zu sein.
B. behauptet die Echtheit des Briefes. Er schlägt Rom als Entstehungsort vor und datiert das Schreiben in der Anfangszeit der Gefangenschaft des Paulus ca. 60–61 (XXXVII). – Von einem Kommentar mit einem Umfang von fast 600 Seiten darf man eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Argumenten erwarten, die gegen die paulinische Verfasserschaft des Kol vorgetragen werden. B. erwähnt zwar manche Einwände im Bereich des Vokabulars und des Stiles (XXIX–XXX) sowie hinsichtlich theologischer Einsichten (XXXI–XXXVI), aber sie werden schnell ohne eine überzeugende Argumentation zurückgewiesen. Es überrascht, dass B. – Ordinarius im Studium Biblicum Franciscanum in Jerusalem – ausgerechnet den Kommentar von J. Gnilka zum Kol (HThK.NT X,1, Freiburg 1980), der noch heute in der katholischen Exegese zu den wichtigs­ten Arbeiten zum Thema gehört, unberücksichtigt lässt. Dort hätte er einen anderen Ansatz zum Verständnis des Kol vorgefunden, der sicherlich nicht uneingeschränkte Zustimmung erweckt, aber auch nicht folgenlos ignoriert werden kann.
Die Arbeit zeichnet sich durch Fleiß und Liebe zum Detail aus, die jede sprachliche Nuance herausstellen möchte. Das Interesse aber, die Kontinuität des Kol zu den echten Paulusbriefen aufrechtzuerhalten, führt zu exegetischen Entscheidungen, die m. E. fraglich sind. Einige Beispiele dazu: 1. Der Leib und das Haupt: In Kol ist nicht nur vom »Leib Christi« die Rede. Darüber hinaus wird Christus als das »Haupt« des Leibes dargestellt (Kol 1,18). Nach B. hat Paulus damit seine Vorstellung von »Leib Christi« zur Vollendung gebracht (XXXIII). Wenn Kol in Rom geschrieben wurde, dann setzt das Schreiben den Römerbrief voraus. In Beziehung auf den »Leib Christi« als ekklesiologisches Bild (vgl. 1Kor 12,12–30; Röm 13,3–8) besagen die Bilder von »Leib« und »Haupt« keine Vollendung, sondern sie beinhalten eine andere Bestimmung der Ekklesiologie, die nicht durch die Wirkung des Geistes geprägt ist. In diesem Fall ist die Kontinuität mit dem paulinischen Denken alles andere als selbstverständlich gegeben. 2. Das Taufverständnis: Nach Kol 2,12 sind die Gläubigen in der Taufe mit Christus begraben und in ihm wurden sie auch mitauferweckt. B. versteht die Aussage als gleichbedeutend mit Röm 6,4–11 (250–252). Dabei übersieht er, dass Paulus die Auferstehung der Gläubigen immer als künftiges Ereignis betrachtet (Röm 6,6.9). Sie sollen in einem neuen Leben wandeln (Röm 6,4), aber auferstanden in der Taufe sind sie nicht. Im Unterschied zum Kol ist die Auferstehung für Paulus keine Metapher für das Heil in der Geschichte. Im Kol hängt dies mit einer vornehmlich räumlich geprägten Vorstellung zusammen, die in Kol 3,1–4 den adäquaten Ausdruck findet: Das Leben der Gläubigen ist oben mit Christus in Gott verborgen. Offensichtlich hat B. die Verschiebung der Perspektiven gegenüber Paulus – Phil 3,20 verdeutlicht den Unterschied – nicht wahrgenommen (vgl. 320–332). 3. Die Haustafel (Kol 3,18–4,1): B. zufolge ist diese eigentümliche Form keine absolute Neuheit in den Paulusbriefen. 1Kor 7,20–24 und 7,25–40 seien ebenfalls Belehrungen »di tipo domestico« (XXXIV). Ein schneller Vergleich würde zeigen, dass diese Einschätzung unhaltbar ist. In der Behandlung des Abschnitts weist B. auf Handlungsmodelle hin, die den »oikos« als Bezugspunkt haben (415–417), aber die Tragweite der Übernahme eines solchen Modells wird nicht erkannt. Für eine Aussage wie 1Kor 7,31b gibt es hier keinen Platz mehr. Die reiche Literatur zur Oikos-Tradition in Bezug auf die neutestamentlichen Haustafeln – spätestens nach dem Aufsatz von K. Thraede (Zum historischen Hintergrund der »Haustafeln« des NT, in: JAC.E 8, Münster 1980, 359–380) – findet keine Erwähnung.
Auch in der Zeit globalisierten Denkens bestehen sehr unterschiedliche Ansätze in der Art und Weise, Exegese zu treiben, die sprachlich, kulturell und konfessionell bedingt sind. Das Phänomen ist verständlich und legitim. Der Kommentar von B. lässt sich in ein exegetisches Milieu einordnen, das manche Akzente anders setzt als im deutschsprachigen Raum. Niemand wird etwas dagegen einwenden. Aber ein wissenschaftlicher Kommentar – und von seinem Um­fang und Inhalt ist die Arbeit B.s ein solcher – müsste den Stand der Forschung widerspiegeln und sich eingehend mit den dazu gehörenden Fragen auseinandersetzen. Aber dieser Kommentar mu­tet oft anachronistisch an, als hätte sich in der paulinischen Forschung in den letzten Jahrzehnten kaum etwas bewegt. Es geht nicht darum, allen Wegen – und Irrwegen – der Forschung nachzugehen, aber das Ausblenden von wichtigen Ansätzen und das Übersehen von maßgebenden Beiträgen beeinträchtigen den Wert der Arbeit.