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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

765–767

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Webb, Barry G.

Titel/Untertitel:

The Book of Judges.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2012. XX, 555 S. m. 1 Abb. = The New International Commentary on the Old Testament. Geb. US$ 52,00. ISBN 978-0-8028-2628-2.

Rezensent:

Reinhard Müller

Die Einleitung zu dieser umfangreichen Neukommentierung des Richterbuches in der Reihe NICOT, deren Autor Barry G. Webb am Moore Theological College, Sydney, lehrte, beginnt mit einer kurzen Reflexion zur Frage »What is a book?«. Beigefügte Zitate aus Philo, Josephus und Talmud belegen, dass das Richterbuch bereits in der Antike als »Klassiker der israelitischen Literatur« galt. Anschließend wird das historische Fundament der Kommentierung gelegt, indem die Richterzeit unter der Annahme, der Exodus habe ca. 1446 v. Chr. stattgefunden (scil. 480 Jahre vor Salomos Tempelbau laut 1Kön 6,1), auf ca. 1326–1062 v. Chr. datiert wird. Das biblische Geschichtsbild wird also mehr oder weniger vollständig als historisch vorausgesetzt; in der Richterzeit hätten im Lande Kanaan neben Israeliten, Philistern und Sidoniern auch Perisiter, Jebusiter, Amoriter, Hiwwiter und Hethiter gelebt, bei einem jährlichen Fest sei Israels Bund mit Jahwe erneuert worden, das Richteramt habe als zentrale Gerichtsbarkeit fungiert, und obwohl die fremden Götter Israel immer wieder zum Abfall verführt hätten, sei die Richterzeit auch durch lange Zeiten von Frömmigkeit, Frieden und Wohlstand geprägt gewesen.
Den »neueren Minimalismus« (der Vf. nennt N. P. Lemche, Ph. Davies und K. Whitelam) lehnt der Vf. unter Berufung auf W. Dever, J. Hoffmeier, I. W. Provan, T. Longman, V. Ph. Long, K. Kitchen, A. Millard ab; so sei etwa die Kritik am Modell einer kriegerischen Landnahme u. a. deshalb unberechtigt, weil das Josuabuch gar nicht, wie üblicherweise unterstellt, eine weitreichende Zerstörung der kanaanäischen Städte behaupte (nur Jericho, Ai und Hazor seien laut Jos zerstört worden) oder weil sich nach Y. Kaufmann der chronologische Fortschritt von Josua zu Richter als »real und nicht künstlich« (»real and not artificial«) erweise. In einem forschungsgeschichtlichen Überblick referiert der Vf. zunächst die wichtigsten Stationen der redaktionskritischen Analyse; die Entwicklung von M. Noth über W. Richter, T. Veijola, R. Boling und G. Auld bis zu W. Groß habe gezeigt, dass das Buch in seiner Endgestalt eine abgerundete literarische Gestalt aufweise: Es beantworte die Frage »Why didn’t Israel ever fully possess the land that God promised to their ancestors?«, indem es von Israels wiederholter Apostasie erzähle, wobei die Epiloge in Kapitel 17–21 zusätzlich zeigten, dass Israel mehr als durch äußere Feinde durch moralischen und geistlichen Verfall gefährdet gewesen sei. Vor diesem Hintergrund gibt der Vf. einen zweiten forschungsgeschichtlichen Überblick zu Auslegungen des »canonical criticism« sowie des »new literary criticism«, u. a. durch M. Bal, L. Klein, E. J. Hamlin, Y. Amit, G. Yee, R. O’Connell, D. Block, T. Schneider, J. C. McCann, M. Z. Brettler, V. Matthews, S. Niditch und T. Butler; auch W. Groß’ Überlegungen zum Sinn des Endtexts werden hierbei referiert. Die Einleitung schließt mit ausführlichen Bemerkungen zur Theologie des Richterbuches: Im Lichte der vorausgesetzten deuteronomischen Alternative von Leben und Tod (Dtn 30) schildere das Buch vor allem, dass sich Israels Überleben in der Richterzeit allein dem Wunder der göttlichen Gnade verdanke; zugleich zeige das Ende des Buches, dass Israel trotz seiner »unheilbaren Untreue zu Gott« (»incurable unfaithfulness to God«) unter dem avisierten Königtum gleichwohl eine Zukunft gehabt habe. In christlicher Perspektive, zu der sich der Vf. bekennt, sei dieser Gedanke untrennbar mit der Vollendung der Heilsgeschichte in Jesus Christus verknüpft: Gegenüber einer christlichen Infragestellung oder gar Ablehnung des Richterbuches zeigten die wenigen neutestamentlichen Rekurse auf das Buch – namentlich in Hebr 11 –, dass die Richter eine ty­pologische Funktion im Blick auf Person und Werk Christi hätten.
Ein weiterer theologischer Aspekt betrifft das Frauenbild des Richterbuches: Die feministische Exegese habe gezeigt, dass Frauen hier wie in der gesamten Bibel nicht stereotyp gezeichnet seien; vielmehr dienten ihre Darstellungen »as foils for the evaluation of the character and behavior of leading men«, auch wenn das Buch die gesamtalttestamentliche patriarchale Grundhaltung zeige, die vom Neuen Testament affirmiert werde (»men will and should normally exercise leadership in the home and in the wider covenant community, especially in crisis situations such as war«). Im Blick auf die zahlreichen Fälle göttlich sanktionierter Gewalt, von denen das Buch handelt, sei zu beachten, dass es sich um Kämpfe handelte, bei denen Israel am Rande der Auslöschung stand. Die in Ri 1 erzählte kriegerische Landnahme scheine zwar in Spannung zu christlichen Moralvorstellungen zu stehen, jedoch hätten Christen sich dem Zeugnis der gesamten Schrift zu unterwerfen und daher auch von der biblischen Darstellung des »Heiligen Krieges« in positivem Sinne zu »lernen«; anhand der Kanaanäerkriege erweise sich, dass das Böse mit Stumpf und Stiel auszurotten sei: »Without hell there can be no heaven.« Die Bücher Josua und Richter machten am Beispiel der kanaanäischen Religion klar, dass nicht jede Religion »gut« sei; zwar seien die Kriegsdarstellungen des Richterbuches nicht einfach Beispiel für das christliche Leben, jedoch solle der Gegensatz zum Neuen Testament nicht überzeichnet werden, vor allem weil ja laut Röm 13 staatliche Gewaltausübung auf göttlichen Auftrag zurückzuführen sei.
Es liegt auf der Hand, dass nach dieser Einleitung ein an Literatur- und Religionsgeschichte interessierter Exeget, der das Alte Testament als historische Urkunde liest – und gerade in dieser Betrachtungsweise christlicher Theologe zu sein beansprucht –, eher gedämpfte Erwartungen an die vorliegende Kommentierung hegt. Tatsächlich bietet die Auslegung des Textes im Wesentlichen – mehr oder weniger erbauliche – Paraphrasen, in denen die angedeuteten Linien ausgezogen werden. Vorausgesetzt ist eine flächige Wahrnehmung des gesamtbiblischen Textes, die auf literargeschichtliche Zuordnungen praktisch keine Rücksicht nimmt. Auf die eingangs genannten redaktionsgeschichtlichen Studien wird nur noch selten zurückverwiesen; forschungsgeschichtlich grundlegende Beiträge – etwa zu Gideonspruch und Jotamfabel – übergeht der Vf. jetzt mit Stillschweigen. Er gesteht dabei durchaus zu, dass der biblische Text eine Vorgeschichte gehabt haben mag (z. B. 161 zu Ri 3,11); wie diese aber ausgesehen haben könnte, wird höchs­tens schemenhaft deutlich.
Mit der Orientierung am »final text« geht, wie bei diesem Zu­gang naheliegend, eine stark harmonisierende Tendenz einher: Spannungen werden – wenn der Vf. sie überhaupt notiert – zu programmatischen Kontrasten erklärt; zu den unterschiedlichen Gideonbildern in Ri 6,1–8,3 und 8,4–28 etwa schreibt der Vf.: »The man who started by being a ›Moses‹ ends […] by being an ›Aaron,‹ the fashioner of an idol for Israel to worship (Exod. 32:2–4).« Anderes bleibt gänzlich unerklärt; so wird z. B. nicht deutlich, wie sich Gideonspruch und Jotamfabel zum »königsfreundlichen Kehrvers« in Ri 17–21 verhalten. Die vorausgesetzte naive Historisierung der biblischen Darstellung kommt bei den Auslegungen in regelmäßigen Abständen zum Vorschein, auch wenn auf ihr nicht das eigentliche Interesse des Vf.s liegt. Ihm geht es vielmehr um »meaning« und »significance« des Textes, die aus gewissen Beobachtungen zur literarischen Anlage – Parallelstrukturen, »ironic twists« etc. – in dezidiert religiöser Perspektive zu erschließen sei; so entspreche z. B. die Buße der Israeliten in Ri 10 der Reue der Gileaditen über die Verwerfung Jiftachs in Ri 11,1–11, woran zu lernen sei, dass die Buße bzw. Reue hier wie dort kein Wandel des Herzens, sondern Berechnung gewesen sei: »That is the deep problem Yahweh faced repeat-edly in the period of the Judges, and no solution is yet in sight.«
Die in derlei Aussagen enthaltene Hermeneutik mag manchen Zusammenhängen des Richterbuches auf gewisse Weise kongenial werden, auch wenn sich die Frage aufdrängt, ob hier nicht immer wieder sperrige Texte in plakative Schablonen gepresst werden. Für eine methodisch transparente historische Betrachtungsweise bleibt der Ertrag dieses Kommentars äußerst gering.