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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

760–763

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Jeremias, Jörg

Titel/Untertitel:

Theologie des Alten Testaments.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. XV, 502 S. = Grundrisse zum Alten Testament. Das Alte Testament Deutsch. Ergänzungsreihe, 6. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-51696-6.

Rezensent:

Walter Groß

Im Folgenden ist ein Buch vorzustellen, dem zu wünschen ist, dass es mit seinem Materialreichtum, seiner umfassenden Kenntnis der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion, seinen feinfühligen, eindringenden Textanalysen, seiner Kraft zur Synthese und zur systematischen Zusammenschau alttestamentlicher Entwürfe, deren individuelle Gestalt zuvor herausgearbeitet wurde, als Standardwerk breite Anerkennung findet.
Als Ziel einer Theologie des Alten Testaments bestimmt Jörg Jeremias »die Ergebnisse der wissenschaftlichen Bemühungen um das Verständnis der alttestamentlichen Texte sowohl für die Theologie als auch für die Kirche zu bündeln und insbesondere die zentralen Gottesaussagen des Alten Testaments zu erheben« (1). Obgleich sie die gesamte Bibel aus Altem und Neuem Testament im Blick hat, formuliert J. zum Abschluss aber keinen Ausblick auf das Neue Testament, sondern verbleibt im Rahmen des alttestamentlichen Kanons. Leitend ist die Frage, inwiefern »Aussagen des biblischen Glaubens den Horizont überschreiten, der für altorientalisches Denken generell typisch ist« (13), und durch diese Besonderheit ermöglichten, dass die Religion Israels das Ende der beiden Staaten, in denen sie heranwuchs, und der altorientalischen Kultur mit ihren Religionen überlebte. Da die Eigenart der biblischen Gottesvorstellung sich erst in einem vielschichtigen Prozess herausbildete, verschränken sich historische und systematische Fragestellungen. Dem versucht J. durch den Aufbau seines Werks gerecht zu werden. Den entscheidenden Einschnitt sowohl in der Geschichte Israels als auch in dessen theologischer Reflexion sieht J. im Untergang der beiden Teilstaaten Israel und Juda und dem Exil. Daraus ergibt sich eine grobe Dreiteilung: vorexilisch – exilisch – nachexilisch. Den Eigenheiten der in diesen drei Phasen entstandenen Texte entsprechend wählt J. für jede einen je eigenen methodischen Zugang. Weil er sich aber, um die Stoßrichtung der Texte zu verdeutlichen, in jeder der drei Phasen auch auf die anderen beiden beziehen muss, verdichtet und vertieft sich deren Verständnis im Fortgang der Darstellung.
Bezüglich der ersten Phase, der vorexilischen Zeit, gliedert J. nach Großgattungen bzw. den fünf »Denkformen« (Textblöcke, die eine je eigene »gemeinsame Logik der Gedankenführung und Argumentation besitzen«, 6) Geschichte, Kultus, Recht, Weisheit, Prophetie. Die weitere Denkform Apokalyptik kann, weil spät entstanden, erst im Rahmen der dritten Phase behandelt werden.
J. setzt ein mit den Psalmen, vor allem den Hymnen, behandelt dann die frühe Spruchweisheit, Recht und Ethos, die Ursprungs­traditionen (Erzväter, Mose [einschließlich einer Vorform der Sinai-Perikope], David) und die Prophetie (von Elia bis Ezechiel [einschließlich der Auseinandersetzung um »falsche« Prophetie]). Wie Passa und Sinaiperikope zeigen, war »Thema der ältesten Sinaierzählung […] die unerwartete Verschonung von Menschen im Zuge einer lebensgefährlichen Gottesbegegnung mit dem Ziel einer bleibenden Gottesbeziehung« (105). Wie sowohl aus Gründen des theologischen Einflusses als auch aufgrund der vorausliegenden Publikationen J.s zu erwarten, nehmen die Ausführungen zur Prophetie den größten Raum ein. Speziell mit dem Kapitel Hos 11, auf das J. in den späteren Phasen mehrfach zurückkommt, begegnet hier ein Thema, das in diesen immer wichtiger wird: »Gottes Unfähigkeit zur Vernichtung Israels« (143).
Die zweite Phase in der exilischen Zeit mit Vorlauf seit dem Untergang des Nordreichs stellt J. unter die Überschrift Die großen Neuentwürfe. Hier behandelt J. das Deuteronomium, Katastrophe und Neubeginn (Jeremia und Ezechiel, Ex 32–34), die deuteronomis-tische Theologie (»eine popularisierte Prophetentheologie«, 18), die Priesterschrift und Deuterojesaja. Hier liegt, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, das kreative Zentrum der alttestamentlichen theologischen Reflexion. Diese Neuentwürfe mussten erstmals die vielfältigen älteren Traditionen zusammenfassen und angesichts der Katastrophen beider Staaten und ihrer Institutionen im Rückgriff auf die klassische Prophetie unter der Frage, ob bzw. inwiefern es noch eine Zukunft mit dem Gott Israels geben könne, neu durchdenken; sie haben »die Basis aller theologischen Reflexion in der Spätzeit gelegt« (9) und haben, indem sie versuchten, »die Kontinuität Gottes in den Brüchen der Geschichte nachzuweisen,« bewirkt, »dass Glauben und Denken des biblischen Israel innerhalb des Alten Orients immer stärkere Eigenarten angenommen haben« (10). Deuterojesaja kündigt »eine unüberbietbare und letztgültige Gestalt der Offenbarung Gottes« (261) als Heilshandeln an.
Die dritte Phase unter der persischen und hellenistischen Fremdherrschaft ist in ihrer Vielgestaltigkeit am schwierigsten zu fassen. Ihr widmet J. fast die Hälfte seines Buches, hier liegt wohl seine größte Leistung. Bis in kleinste Details zeichnet er die Eigenheiten der jeweiligen Entwürfe nach und versucht doch, eine einheitliche Grundlinie aufzuweisen. Er geht hier systematisierend vor und behandelt folgende tragenden Themen: Gottes Zorn und seine Güte, Vergewisserungen (Gottes »Bund« mit seinem Volk, der Zion, der [neue] Gottesdienst, Gottes Schöpfung, Gottes Wort), Orientierungen (der Dekalog, das Gebet im Psalter), Hoffnungen (die Rettung am »Tag JHWHs«, der Mensch nach Gottes Willen, das Königtum Gottes, der Kommende, das Heil der Völker, die Apokalyptik, die Auferstehung von den Toten), bohrende Fragen (Das Leiden des Gerechten [Hiob], die Frage nach dem Sinn des Lebens [Kohelet]). Da der protestantische Kanon zugrundegelegt und die »zwischentestamentarische Literatur« (479) (aus Gründen des Umfangs verständlicherweise) nicht behandelt wird, finden Jesus Sirach, Weisheit Salomonis und z. B. 2Makk 7; 12,32–45 keine Erwähnung.
Der auf den ersten Blick erstaunliche Einsatz mit dem zumeist unterbelichteten Theologumenon des Zornes Gottes erklärt sich daraus, dass J. die Entwicklung des Gottesbildes in dieser dritten Phase überzeugend dahingehend bestimmt, dass Gott seinen Zorn beschränkt und zugunsten seiner Vergebungsbereitschaft seine Allmacht freiwillig dauerhaft einschränkt und dass Gottes Heil endgültig sein wird. Nicht zufällig verweist J. im letzten Absatz seines Buches auf Luthers Rede vom Deus absconditus und vom Deus relevatus (495).
Obgleich oder gerade weil J. die Eigenheiten einzelner Texte und Textgruppen und ihre Unterschiedenheit von anderen sorgfältig herausarbeitet, will er, u. a. im Hinblick auf die Verbindlichkeit, den­noch vermeiden, dass am Ende mehrere alttestamentliche Theologien unverbunden nebeneinanderstehen. Er verwendet drei Strategien. 1.) Er weist nach, wie – vor allem in der dritten Phase – Prophetenbücher aufeinander Bezug nehmen, wie redaktionelle Schichten die deuteronomisch-deuteronomistischen und die priesterlichen Gesamtentwürfe miteinander zu kombinieren suchen, wie neue Texte »Spannungen älterer Texte« ausgleichen oder »Fragen, die bei älteren Texten offen geblieben waren« beantworten, speziell »Gottes Liebe ins Verhältnis zu seinem Strafen setzen, seine Güte ins Verhältnis zu seinem Zorn und […] das Problem erörtern, ob Gott sein Volk im Fall schwerster Schuld verwerfen kann« (8 f.). 2.) Im Ausblick zeigt er an der Voranstellung des Dekalogs vor die Einzelgesetze des Bundesbuches und des Deuteronomiums, der (doppelten) Voranstellung der auf die gesamte Menschheit ausgerichteten Urgeschichte vor die Erzählungen von den Erzvätern und von Mose und der Voranstellung des Bundes mit den Vätern vor den Sinaibund, dass »schon die jüngeren Autoren im Alten Testament selbst […] vorgegebenen Textkomplexen hermeneutische Lesehilfen vorangestellt haben, die eine Vielzahl an Verständnismöglichkeiten einschränken und eine eindeutige theologische Intention fördern wollen« (479).
3.) Die dritte Strategie besteht darin, dass er eigene, stark wertende Formulierungen über das Buch verstreut, die sich stets auf die zweite und besonders auf die dritte Phase beziehen: »das ›reife‹ Alte Testament« (65 u. ö.), »die ›reifen‹ Gottesvorstellungen des Alten Testaments« (110), »die ›reifen‹ Gottesaussagen der Spätzeit« (10 u. ö.), »das ›reife‹ nachstaatliche Israel« (14), »das Gottesbild des reifen biblischen Glaubens« (105 u. ö.). Dieses Sprachbild suggeriert eine gleichsam eigengesetzliche und eindeutig zielgerichtete Entwicklung, die sich allerdings angesichts der Vielgestaltigkeit jüngerer alttestamentlicher Texte nur in einigen generellen Tendenzen festmachen lässt. Tatsächlich weist J. nicht auf Texte hin, die man als Rückfälle in ältere Denkweisen oder sogar als deren Radikalisierung qualifizieren könnte. Ganz selten äußert er zurückhaltende Kritik, so z. B. zur Apokalyptik: Sie versteht Prophezeiungen als Geheimlehren, die nur der Fachmann entschlüsseln kann. Darin »deutet sich ein problematischer Umgang mit den überlieferten Schriften der Propheten an. Sie können dem einzelnen Gläubigen nicht länger unmittelbarer Trost- und Hoffnungsgrund sein, weil er sie nicht richtig zu verstehen vermag, sondern sie sind ihm eine verschlossene Schatztruhe, zu der nur Andere, Eingeweihte, den Schlüssel besitzen« (453).
Mehrere Theologien im Alten Testament und dennoch eine Theologie des Alten Testaments: Darüber ließe sich wohl eine fruchtbare Diskussion mit diesem Meisterwerk J.s führen.