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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

758–760

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gurtner, Daniel M.

Titel/Untertitel:

Exodus. A Commentary on the Greek Text of Codex Vaticanus.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill, 2013. XIV, 522 S. = Septuagint Commentary Series. Lw. EUR 196,00. ISBN 978-90-04-25428-2.

Rezensent:

Eberhard Bons

Die einzelnen Bände der Reihe »Septuagint Commentary Series« bieten den Septuaginta-Text eines biblischen Buches mit einer englischen Übersetzung sowie einem ausführlichen Kommentar. Dabei folgen sie jedoch keiner modernen kritischen Ausgabe der Septuaginta, z. B. der Göttinger Septuaginta, sondern einem der alten Codices, meist dem Vaticanus oder dem Alexandrinus. Inzwischen (Ende 2015) liegen zwölf Bände in der Reihe vor. Mit dem 2013 publizierten Titel zum Buch Exodus sind zwei der fünf Bücher des Pentateuchs übersetzt und kommentiert: das Buch Genesis (S. Brayford, Genesis, Leiden 2007) und nun auch das Buch Exodus, dem sich Daniel M. Gurtner gewidmet hat. G. lehrt das Fach Neues Testament am Bethel Seminary (St Paul, Minnesota, USA) und hat sich in seiner Forschung vor allem mit dem Matthäusevangelium und der syrischen Baruch-Apokalypse beschäftigt.
Das zu rezensierende Werk umfasst im Wesentlichen drei Teile: eine relativ knappe Einleitung (1–27), den griechischen Text des Exodusbuches nach dem Codex Vaticanus sowie seine englische Übersetzung (30–169), schließlich einen umfangreichen Kommentar (171–488). Ergänzt wird das Buch durch eine Bibliographie (489–498), ein Stellenregister (499–519) und ein Verzeichnis moderner Autoren (520–522). Neben J. W. Wevers’ Notes on the Greek Text of Exodus (Atlanta Ga. 1990) konnte G. auf die kommentierte französische Exodusübersetzung von A. Le Boulluec und P. Sandevoir, La Bible d’Alexandrie. L’Exode (Paris 1989), zurückgreifen. Andere neuere Übersetzungen und Kommentare wurden dagegen nicht berücksichtigt, z. B. M. V. Spottorno Díaz-Caro, »Libro del Éxodo«, in: La Biblia Griega Septuaginta, Bd. 1, Salamanca 2008, 141–226, sowie J. Schaper, »Exodos / Exodus«, in: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament, Stuttgart 2011, 258–324.
Die Einleitung liefert verschiedene nützliche Informationen zum Codex Vaticanus des Exodusbuches, etwa zur Schreibweise der nomina sacra und zur Gliederung des Textes in Abschnitte. Zu begrüßen ist auch, dass G. die griechische Exodusübersetzung als ein literarisches Werk ansieht, dem der alexandrinische Übersetzer durch zahlreichere kleinere Retuschen einige neue Akzente verliehen habe (12 f.). Damit folgt G. einer Richtung der Septuagintaforschung, die in der griechischen Bibel keine Wort-für-Wort-Übersetzung einer hebräischen Vorlage erkennt. Vielmehr sucht sie der Tatsache Rechnung zu tragen, dass jedes Buch ein bestimmtes literarisches und theologisches Profil besitzt. Dieses gilt es jeweils zu beschreiben. Einige Beispiele von Abweichungen, die vor allem durch syntaktische, stilistische und inhaltliche Gründe bedingt sind, werden aufgezählt (13–23), darunter auch verschiedene theologisch motivierte Korrekturen. So liest die LXX in Ex 8,18 nicht wie der MT »so dass du erkennst, dass ich, der Herr, mitten im Land bin«, sondern »so dass du erkennst, dass ich, der Herr, der Herr der ganzen Erde bin« (20).
Insgesamt gesehen ist jedoch festzustellen, dass die Einleitung kaum dem heutigen Forschungsstand zur Septuaginta des Exodusbuches gerecht wird. Da aber in der Einleitung die methodischen Grundlagen für die Kommentierung des griechischen Bibeltextes erarbeitet werden, wirken sich diese Defizite auf die Kommentierung aus. Dabei sind fünf Fragestellungen zu unterscheiden:
1. Die Bemerkungen zur Geschichte des griechischen Exodustextes sind völlig unzureichend (2 f.). Es bedarf hier weder einer Zusammenfassung der Entstehungslegende der Septuaginta noch einer Erläuterung des Begriffs »Hexapla«. Stattdessen sollten andere Fragen zur Sprache kommen. Unerwähnt bleibt z. B. das Problem, das spätestens seit Origenes die Exegese des griechischen Exodusbuches beschäftigt: Wie ist es zu erklären, dass dieses – im Vergleich zu den Kapiteln 35–40 der hebräischen Bibel – einen kürzeren Text bietet, der zudem einen anderen Aufbau aufweist? Außerdem fehlen in der Einleitung jegliche Hinweise auf die äl-tes­ten derzeit bekannten Textzeugen des griechischen Exodusbuches (Papyri, Qumran-Fragmente; vgl. hierzu die Einleitung von M. V. Spottorno Díaz-Caro, »Libro del Éxodo« [s. o.], 144) und auf den von ihnen jeweils überlieferten Text. Schließlich vermisst man Bemerkungen zu den Zitaten des griechischen Exodustextes in der hellenistisch-jüdischen Literatur (besonders Philo und Josephus) sowie im Neuen Testament. Weichen diese vom überlieferten Septuagintatext mit seinen Varianten ab? Oder bestätigen sie ihn? Im Kommentar fehlen entsprechende Hinweise.
Ein Beispiel: In Ex 3,4 antwortet Mose auf die Stimme aus dem brennenden Dornbusch nicht mit »hier bin ich« – so die Hebräische Bibel –, sondern erstaunlicherweise mit τί ἐστιν; »was ist?«. Ähnliche Wiedergaben sind schon in Gen 22,7; 31,11; 46,2 zu beobachten, und ein neutestamentliches Beispiel für eine derartige Antwort liegt noch in Apg 10,4 vor. G. notiert zwar die Abweichung der Septuaginta vom hebräischen Bibeltext (199). Ein Hinweis auf Philo könnte jedoch den Kommentar ergänzen. Denn dieser geht auf Ex 3,4 und vergleichbare Stellen ein (De somniis I, 194–197) und zitiert Moses Antwort in der Form, wie ihn die Septuaginta kennt. Die Septuaginta-Lesart ist offenbar alt.
2. Wenig hilfreich sind weiterhin die Ausführungen zu den Qumran-Fragmenten des Exodusbuches sowie zu ihrem Verhältnis zur Septuaginta einerseits und zum Masoretentext andererseits (3 f.). Gewiss ist die textkritische Diskussion komplex und bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Dennoch wäre es nützlich gewesen, die Qumran-Fragmente kurz zu präsentieren, die hier und da mit der Septuaginta, nicht aber mit dem Masoretentext übereinstimmen. Schließlich sollten hier die Fragen vorgestellt werden, die die Auslegung der Septuaginta des Exodusbuches leiten. Wie ist es etwa zu bewerten, wenn diese Gemeinsamkeiten mit bestimmten Qumran-Fragmenten aufweist? Welche Varianten geben Aufschluss über diejenigen Stellen des Exodusbuches, die – aus welchen Gründen auch immer – umstritten waren und zu Korrekturen veranlassten? Da derartige Fragen nicht gestellt werden, mangelt es auch den Kommentaren immer wieder an der notwendigen Tiefenschärfe.
Ein Beispiel mag genügen: In Ex 9,28 bittet der Pharao Mose, für ihn beim Herrn einzutreten, damit dieser dem Donner und dem Hagel ein Ende setze. Nach der Septuaginta erwähnt der Pharao neben Donner und Hagel auch noch das Feuer, so zumindest nach dem Codex Alexandrinus, nicht aber nach dem Codex Vaticanus. Dieser Befund wird im Kommentar referiert (296). Es fehlt jedoch der ergänzende Hinweis darauf, dass vom Feuer im Qumran-Fragment 2Q2 ebenfalls die Rede ist. Das bedeutet, dass die Variante des Codex Alexandrinus von einer bestimmten hebräischen Texttradition, die in Qumran bezeugt ist, bestätigt wird. Die Variante lässt sich relativ leicht durch den Kontext erklären. Denn nach Ex 9,23 f. kam mit dem Hagel ja auch das Feuer vom Himmel. Anscheinend war jedoch in der hebräischen Texttradition, auf die der Masoretentext zurückgeht, in Ex 9,27 die Erwähnung des Feuers weggefallen. Die zitierten Varianten dagegen bezeugen Texttraditionen, die den Zusammenhang zu E x9, 23 f. explizit herstellen.
3. G. zeigt zwar ein großes Interesse an der Erklärung des griechischen Sprachbefundes (vgl. 2), berücksichtigt jedoch kaum, dass dieser zumindest teilweise vom sprachlichen Kontext des hellenis­tischen Ägypten beeinflusst wird. Die Feststellung, dass der Übersetzer den Ausgangstext in einer verständlichen Weise in der Zielsprache wiedergeben wollte (23), genügt einfach nicht. Dass gerade die Papyri zu einem besseren Verständnis mancher Begriffe und Ausdrücke der Septuaginta beitragen können, bleibt im Abschnitt »Exod[us] in its Hellenistic Setting« völlig unerwähnt (23–25). Einschlägige neuere Publikationen werden nicht zitiert, lediglich die einschlägigen Griechisch-Lexika.
Dies gilt etwa für die Erklärung des Begriffs θῖβις (284), mit dem der Behälter bezeichnet wird, in dem der neugeborene Mose versteckt wird (Ex 2,3.5.6), ebenso für das Verb γογγύζω (358), das in Ex 17,3 für das »Murren« Israels in der Wüste steht. Beide Wörter sind in zeitgenössischen Papyri belegt und wahrscheinlich gewählt worden, weil sie den Übersetzern und ihrem Publikum bekannt waren. Aber auch anderswo fehlt jeder Hinweis auf den hellenistischen Hintergrund des Vokabulars des griechischen Exodusbuches. Im Kommentar zu Ex 15,2 (340) wird zwar erwähnt, dass Gott im Moselied als βοηθός »Helfer« bezeichnet wird (im MT steht »meine Stärke«); es fehlt aber jeder Hinweis darauf, dass dieser Begriff gerade in der Bedeutung »(militärischer) Bundesgenosse« verwendet wird (z. B. Polybius, Historien, 3.31.5), was in Ex 15,2 bestens passt.
4. Die Überlegungen zur Übersetzungstechnik (13–17) berühren nur einige meist syntaktische Phänomene, die bisher in der Forschung beobachtet worden sind, vor allem von den Vertretern der sogenannten Helsinki-Schule (I. Soisalon-Soinenen, R. Sollamo, A. Aejmelaeus), während andere Phänomene, z. B. der Gebrauch der Partizipialkonstruktionen sowie der Hypotaxen, nur oberflächlich oder überhaupt nicht behandelt werden.
Dass der griechische Exodustext zahlreiche Hebraismen kennt (z. B. ψυχή im Sinne von »Person, Individuum« in Ex 1,5; 4,19), wird in der Einleitung nicht einmal erwähnt und in der Übersetzung und Kommentierung nicht immer erkannt. In Ex 11,2 etwa sollte γυνή nicht mit »eine Frau« übersetzt werden, schon gar nicht als Akkusativ (so S. 65: »let everyone ask from the neighbor and the wife of the neighbor«, vgl. 308), sondern im Sinne von »eine jede«.
5. G. schenkt der Rezeptionsgeschichte des griechischen Exodusbuches bewusst keine Beachtung (vgl. 2). Eine solche Entscheidung lässt sich vertreten; sie hat jedoch gravierende Nachteile. Man verschließt sich nämlich den Zugang zu den Quellen, die dem Septuagintatext zeitlich noch relativ nahestehen und die Aufschluss geben können über seine Interpretation in hellenistisch-jüdischen Kreisen.
Ein Beispiel: In Ex 22,27 wird ’ælohîm nicht singularisch verstanden: »Gott sollst du nicht lästern«, sondern pluralisch: »Götter sollst du nicht lästern«. G. notiert diese Abweichung ohne weiteren Kommentar (399). Hinweisen könnte man in diesem Kontext etwa auf Flavius Josephus. Dieser deutete das Verbot in dem Sinne, dass Mose es den Israeliten nicht gestattet habe, diejenigen zu lästern, die von anderen als Götter angesehen werden (Antiquitates iudaicae IV, 207; Contra Apionem II, 237 f.). Ob diese Interpretation schon von den alexandrinischen Übersetzern intendiert war, muss offen bleiben. Sie zeigt aber, dass jüdische Autoren der hellenistisch-römischen Zeit dem Verbot durchaus einen Sinn abgewinnen konnten.
Abschließend sei festgehalten, dass G. in seinem Kommentar viel Material bietet, das für eine erste Beschäftigung mit dem griechischen Exodusbuch wichtig ist. Wer jedoch an einer gründlicheren Analyse dieses Textes interessiert ist, sollte auch die anderen neueren Übersetzungen und Kommentare der Septuaginta konsultieren.