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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

751–754

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Houtman, Alberdina, Staalduine-Sulman, Eveline van, and Hans-Martin Kirn [Eds.]

Titel/Untertitel:

A Jewish Targum in a Christian World.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. VI, 318 S. = Jewish and Christian Perspectives Series, 27. Geb. EUR 1233,00. ISBN 978-90-04-26781-7.

Rezensent:

Beate Ego

Der Band, der auf eine Forschungsinitiative der Targum-Spezialis­ten der Protestantischen Theologischen Universität im niederländische Kampen zurückgeht, untersucht in mehreren Einzelbeiträgen verschiedener Autoren die Bedeutung der Targumliteratur im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Diese Frage drängt sich insofern auf, da die ursprüngliche Funktion der Targume, den hebräischen Bibeltext an ein aramäischsprachiges Publikum zu vermitteln, nach der arabischen Eroberung Palästinas und nach ihrer Verbreitung in die europäische Welt obsolet geworden war. Da die Targumtexte nicht nur im jüdischen Bereich tradiert, sondern bereits ab dem Mittelalter – und dann hauptsächlich in der Zeit der Renaissance – auch von christlichen Gelehrten rezipiert wurden, wird hier auch eine Thematik im Umfeld des jüdisch-christlichen Religions- und Kulturkontaktes abgehandelt.
Die Beiträge des ersten Buchteils »Uses and Functions of Targum in Europe« beziehen sich zunächst auf die Targumliteratur, die im europäischen Mittelalter in zahlreichen Manuskripten vorliegt, als einem innerjüdischen Phänomen. Dabei stehen Studien, die vor allem die Form der schriftlichen Darbietung des Materials in den Blick nehmen (so der Überblick von Eveline van Staalduine-Sulman, A Variety of Targum Texts [9–31], Hector M. Patmore und Johanna M. Tanja, Initial Observations Concerning the Text of Targum 2 Samuel 22 as Preserved in European Liturgical Manuscripts [63–80], Elodie Attia, Targum Layouts in Ashkenazi Manuscripts. Preliminary Methodological Observations [99–122]) neben Arbeiten, welche die liturgische und didaktische Funktion der Texte näher beleuchten. In diesem Kontext wird deutlich, dass die liturgische Funktion von Targumüberlieferungen eher marginal und auf die Liturgie von Passa und Shavuot beschränkt war (Peter Sh. Lehnhardt, The Role of Targum Samuel in European Jewish Liturgy, 32–62). Ab der gaonäischen Periode stellte nicht mehr die Synagoge, sondern vielmehr das Lehrhaus den bedeutendsten Ort für den »Sitz im Leben« der Targumliteratur dar. Übersetzungen in andere Sprachen ersetzten nun dessen ursprüngliche Funktion, und das Targumstudium selbst fungierte fortan vor allem für Sprachstudien zum Erlernen des Aramäischen, die wiederum der Lektüre des Talmuds vorausgingen. Darüber hinaus konnten jüdische Gelehrte die Targumüberlieferungen aber auch als Teil der mündlichen Tora zum Studium des Bibeltextes und als Quelle für ihre eigenen Bibelkommentierungen benutzen ( Alberdina Houtman, The Role of the Targum in Jewish Education in Medieval Europe, 81–98).
Die einzelnen Beiträge im folgenden Teil des Buches »Editing Targums and their Latin Translations« behandeln die lateinischen Übersetzungen der Targumliteratur, wie sie ab dem 16. Jh. auf der Basis der Vulgata im Zuge des christlichen Humanismus und der Entstehung verschiedener Polyglotten erfolgte. Von zentraler Bedeutung sind hier die Ausführungen von Eveline van Staalduine-Sulman und Johanna M. Tanja, die das Phänomen der christlichen Targumrezeption in den Polyglottenbibeln zu durchleuchten versuchen (Christian Arguments for Including Targums in Polyglot Bibles, 208–229). Die Autorinnen sammeln auf der Basis des Vorworts mehrerer Polyglotten (darunter die Complutensische Polyglotte 1517, die Antwerper Polyglotte von 1569–1572, die Pariser Polyglotte von 1645 und die Waltonʼsche Polyglotte von 1654–1657) die Gründe, die zu einer christlichen Targumrezeption führten und sich auch gegen zeitgenössische antijüdische Polemiken wendeten. Ein wichtiges Motiv war dabei die Annahme, dass es mit-hilfe der Targumtradition möglich sei, die wörtliche Bedeutung der Schrift zu erschließen. Aber auch die Überzeugung, sich mittels der Beschäftigung mit den Targumen der heiligen Sprache Gottes annähern zu können, sowie didaktische Überlegungen spielten hier u. a. eine Rolle (Chris­tian Arguments for Including Targums in Polyglot Bibles, 208–229). Interessant ist auch der Vergleich zwischen den Rabbinerbibeln (Bomberg 1517 und 1525) und den christlichen Polyglotten (Complutensische Polyglotte Madrid 1517 und Antwerpen 1569–72), wie er in dem Beitrag von Hans van Nes und Eveline van Staalduine-Sulman »The ›Jewish Rabbinic Bibles‹ versus the ›Christian Polyglot‹ Bibles« (185–207) durchgeführt wird. Im Zentrum stehen hier die Vermarktung der Bibelausgaben, ihr Inhalt und paratextliche Elemente. Dabei wird deutlich, dass der Einfluss der Rabbinerbibel auf die Polyglottenentwicklung stärker war als Bewegungen in die andere Richtung.
Weitere Beiträge dieses Buchteils widmen sich dem Fortleben der Manuskriptkultur auch nach der Erfindung des Buchdrucks (Jésus de Prado Plumed, The Commission of Targum Manuscripts and the Patronage of Christian Hebraism in the Sixteenth Cent-ury Castile, 146–165) sowie dem Phänomen der Paratexualität (Johanna M. Tanja und Eveline van Staalduine-Sulman, A Jewish Targum in a Remarkable Paratext. Paratextual Elements in Two Targum Ma­nuscripts of Alfonso de Zamora, 166–184). Hintergrundinformationen zur Vulgata, ihrer handschriftlichen Verbreitung, verschiedenen Druckausgaben sowie zu Fragen des Kanons gibt der Beitrag von Geert Lorein (The Latin Version of the Old Testament, 125–146).
Der dritte Teil des Bandes schließlich »Targum and Christianity« fokussiert sein Interesse auf das Targumstudium christlicher Ge­lehrter und Theologen, das – wie Judith Olszowy-Schlanger zeigt – nicht erst mit der Renaissance, sondern bereits im 12. bis 14. Jh. einsetzt (The Study of the Aramaic Targum by Christians in Medieval France and England, 233–249) und das auch in den folgenden Jahrhunderten – so der Überblick von Stephen G. Burnett (The Targum in Christian Scholarship to 1800, 250–265) – eine bedeutende Rolle spielt.
Auf einen wichtigen Aspekt der Thematik weist Hans-Martin Kirn in seinem Beitrag »Traces of Targum Reception in the Work of Martin Luther« (266–288) hin, wenn er die direkten und indirekten Spuren der Targum-Rezeption im Werk Martin Luthers zusammenstellt. Luther rezipierte dabei vor allem mittelalterliche Quellen, aber auch die zeitgenössische christliche Hebraistik. Die Targume (die er als ein vorchristliches Phänomen einschätzte) repräsentieren dabei – wie auch das Alte Testament – die göttliche Wahrheit, wohingegen die Überlieferungen des rabbinischen eine pejorative Rolle einnehmen. Vor diesem Hintergrund konnten Targumüberlieferungen – so die messianische Auslegung von Gen 49 – auch in einem polemischen Kontext benutzt werden.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Yaacov Deutsch zu Hamans Anklagerede gegen die Juden, ein freie Wiedergabe von Est 3,8 in Targum Sheni (›And their Laws are Diverse From All People.‹ Hamanʼs Protests against the Jews in Targum Sheni to Esther, 289–301). Deutsch untersucht hier eine Passage aus dem Zweiten Estertargum, in dem Haman eine Rede in den Mund gelegt wird, in welcher der gesamte jüdische Festkalender als Ausdruck vermeintlich jüdischer Menschenverachtung und Staatsfeindlichkeit gelesen wird. Wenn auch der generelle Duktus dieser Motive bereits in der antiken Literatur gefunden werden kann, so fallen insbesondere engere Parallelen dieser Passage zu der judenpolemischen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ins Auge. Nach Deutsch reflektiert der Targum-Text christliche Vorurteile gegenüber dem jüdischen Festkalender, ohne aber konkrete schriftliche Quellen zu rezipieren. Die Frage, ob die anti-jüdische Polemik hier unter Umständen durch den Targumtext angeregt wurde, wird allerdings nicht gestellt.
Wenn auch eine klarere Gliederung der einzelnen Beiträge und eine explizite Vernetzung hilfreich gewesen wäre – der vorliegende Band ist sowohl für Bibelwissenschaftler und Judaisten als auch für Kirchengeschichtler hoch interessant, da er das Augenmerk auf eine bislang kaum beachtete Fragestellung der Auslegungsgeschichte und Rezeption der Hebräischen Bibel lenkt und gleichzeitig wichtige Beispiele für die interreligiöse Dynamik zwischen Judentum und Christentum gibt. Der Band gibt aber auch interessante Einblicke in die Geschichte der jüdischen und christlichen Schrift- und Buchkultur. Wie die Herausgeber es selbst in ihrem Vorwort feststellen, steht die Aufarbeitung der in diesem Band angerissenen Thematik noch ganz am Anfang und ist ein Desideratum der Forschung. Mit der hier vorliegenden Publikation, die gleichzeitig die Vielseitigkeit der aktuellen Targumforschung zeigt, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan und man kann dem Autorenteam für seine Initiative danken.