Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

981 f

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Goertz, Hans-Jürgen]

Titel/Untertitel:

Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, hrsg. von N. Fischer u. M. Kobelt-Groch.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. VIII, 312 S. gr.8 = Studies in Medieval and Reformation Thought, 61. Lw. hfl 188,50. ISBN 90-04-10498-4.

Rezensent:

Volker Leppin

Die Festschrift für den auf kirchenhistorische Themen spezialisierten Hamburger Sozialhistoriker Hans-Jürgen Goertz kann als ausgesprochen gelungenes Beispiel dieses Genres gelten. Die grundlegenden Studien von G. zum "linken Flügel" der Reformation gaben das Thema vor: Mit der nicht in jedem Beitrag ganz streng genommenen Konzentration auf "Außenseiter" ist es den Herausgebern gelungen, eine Festschrift zu konzipieren, die einen wesentlichen Beitrag zur klareren Erfassung eines bestimmten Sachkomplexes darstellt. Ein einleitendes Interview, in dem die Herausgeber dem Jubilar Stichworte zur Darlegung seines bewegten wissenschaftlichen Lebens geben, geht allerdings zunächst in ganz ungewöhnlich persönlicher Weise auf den Geehrten ein.

Die Festschrift ist sogar noch stärker konzentriert, als es der Titel vermuten läßt: Von Tom Scotts Beitrag zum "Oberrheinischen Revolutionär" und der instruktiven Studie von Norbert Fischer über Friedhofsverlagerungen um 1500 abgesehen, wird Mittelalterliches kaum nennenswert berührt. Dies gilt auch für den Grundlagenaufsatz "Wie wird man Außenseiter?" von Bob Sribner, der sich ausdrücklich auf die Frühe Neuzeit beschränkt. In diesem Kontext legt er rechtliche und soziale Prozesse der Definition von Nicht-Zugehörigkeit zu Gruppen dar. So wird von den Rändern her eine Sozialgeschichte der überschaubaren sozialen Subsysteme erkennbar. Besonders fruchtbar scheint es dabei, daß Scribner das Außenseiterphänomen gerade nicht von den bekanntesten und populären Beispielen her in den Blick nimmt, sondern eine Vielfalt von Außenseitern vorstellt. Dabei wird deutlich, daß dieses Phänomen alles andere als starr ist; je nach wechselnden Bezügen kann etwa der Pfarrer einmal - als Dorffremder - exemplarischer Außenseiter sein, ein andermal selbst als strafender Prediger Außenseitertum anderer konstituieren. Freilich vermißt man eine stärkere theoretische Durchdringung des breit dargelegten Materials, wie sie etwa mit Hilfe der Systemtheorie ohne Zweifel möglich wäre.

Eine pointierte These entwickelt Peter Blickle, der anhand der Religionsgespräche in Memmingen und Kaufbeuren im Januar 1525 darlegt, daß die nach Zürcher Vorbild an vielen Orten zur Durchsetzung der Reformation in Gang gesetzten Religionsgespräche als judikative Akte zu verstehen sind. Hier wird sichtbar, wie Städte sich durch die Begründung neuer Entscheidungsformen Ersatz für die fraglich gewordenen bischöflichen Gerichtsinstanzen schufen.

Ein beeindruckendes Beispiel der von ihm gern gepflegten narrativen Geschichtswissenschaft führt Ronnie Po-Chia Hsia in seinem Beitrag über den Wormser Bürgeraufstand 1614 vor: Die Zulassung von Juden zu bislang verbotenen Berufen und die Gestattung eines über den reichsrechtlichen Bestimmungen liegenden Zinssatzes durch den Rat schürten im Bürgertum Angst, die sich in Aktionen gegen den Rat und dann direkt gegen die jüdische Gemeinde von Worms entluden. Anschaulich macht Hsia auf diese Weise den Prozeß der Genese von Antijudaismus am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges deutlich. Zu den Kabinettstückchen gehört auch die biographische Skizze Jörg Malers von Heinold Fast, die anhand einer Person zeigt, wie sich das Täufertum nach dem Enthusiasmus der zwanziger Jahre zunehmend in Konventikel zurückgedrängt sah. Offen bleibt die Frage, ob man dergleichen Phänomene der zweiten Generation des Täufertums irgendwann in Beziehung zu der regen Konfessionalisierungsdebatte wird setzen können.

Selbst mit einem kurzen Hinweis auf die forschungsgeschichtlichen Studien von Günter Vogler zu Bloch und von James M. Stayer zu Holl ist längst nicht alles erfaßt, was dieser Band bietet. Er versammelt durchweg anregende Beiträge. Das ist ein Verdienst der Herausgeber; es ist aber auch der Tatsache zu verdanken, daß diese Festschrift einem Forscher gilt, der das wissenschaftliche Gespräch seit langem neugierig begleitet und belebt.