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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

714-717

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Voigt, Karl Heinz

Titel/Untertitel:

Ökumene in Deutschland. Von der Gründung der ACK bis zur Charta Oecumenica (1948–2001). M. e. Vorwort von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann, Vorsitzender der ACK in Deutschland.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2015. 705 S. m. 12 Abb. = Kirche – Konfession – Religion, 65. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-8471-0417-9.

Rezensent:

André Ritter

Ökumene in Deutschland wurde als eigenständiges Thema bisher kaum wahrgenommen. Das ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass bis in die Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Verhältnis nicht nur der beiden Großkirchen, sondern auch ihr jeweiliges Verhältnis zu den kleineren Konfessionskirchen bzw. kirchlichen Gemeinschaften eher als ungeklärt gilt.
Diese Lücke schließt nun Karl Heinz Voigt, Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche, indem er mit seiner ökumenischen Hermeneutik der Geschichte die ganze Komplexität der innerdeutschen Ökumene in den Blick nimmt. In diesem rund 700 Seiten umfassenden Band stellt er nicht nur die beteiligten ökumenischen Partner dar und überwindet das in Gesellschaft und Kirche überkommene Bild einer »bilateralen Ökumene«, sondern sucht zugleich den Reichtum, die Vielfalt und die Komplexität der Ökumene in Deutschland zu begreifen (vgl. 614).
Bereits in seinem Vortrag vor der ACK Sachsen-Anhalt in Magdeburg machte der inzwischen verstorbene Braunschweiger Landesbischof Friedrich Weber 2008 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der ACK auf das fortbestehende Problem deutlich: »Die multilaterale Ökumene in Deutschland hat es nicht leicht. In ganz erstaunlicher Weise verdunstet in der öffentlichen Wahrnehmung die segensreiche Arbeit der kleineren Kirchen und Gemeinschaften und damit durchaus auch die der ACK.« Diese These wird gestützt durch die nunmehr als Band 2 vorliegende Darstellung der Ökumene in Deutschland, insbesondere mit Blick auf die Anfänge des kirchlichen Hilfswerks seit 1945 in der Spannung zwischen den evangelischen Landeskirchen einerseits und den Freikirchen bzw. kirchlichen Gemeinschaften andererseits (wobei Band 1 im Vorjahr 2014 »Internationale Einflüsse und Netzwerkbildung – Anfänge 1848–1945« behandelt hatte).
So sind in den Nachkriegsjahren die Frage nach der sichtbaren Einheit sowie der Gedanke an Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst in Deutschland zunächst noch nicht Gegenstand des ökumenischen Gesprächs gewesen, wie V. aufzeigt. »Die dramatische Nachkriegssituation, in der es um Schuld und Versagen, um Hunger, Flucht und Wohnungsnot, Entnazifizierung und Kriegsgefangenennöte ging, war auch nicht der Zeitpunkt, diese Diskussion aufzunehmen. Solche Möglichkeiten eröffneten sich erst später.« (88) Wichtig und letztlich entscheidend für die Anfänge der ökumenischen Bemühungen nach 1945 war, dass die Ökumene in Deutschland nicht nur das Verhältnis zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche umfasst. Das konfessionelle Spektrum war und ist hierzulande viel breiter als oft vermutet und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Um die ökumenische Zusammenarbeit voranzubringen, ist am 10. März 1948 in Kassel die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) gegründet worden, wobei neben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Altkatholischen Kirche auch Baptisten, Methodisten und Mennoniten und andere mitwirkten.
Den letzten Anstoß zur Gründung eines solchen umfassenden Zusammenschlusses gaben ökumenische Kontakte aus der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als es vor allem darum ging, die internationalen Kräfte zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Nöte in Deutschland zu mobilisieren. So konnte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) durch die Hilfe von christlichen Geschwistern aus England und Amerika, darunter von vielen Methodisten, Baptisten und anderen Denominationen, wesentlich zu einem Neuanfang beitragen. Der Zweite Weltkrieg hatte die Kirchen erschüttert durch die Erfahrung, dass sie nicht zu gemeinsamem Zeugnis und Handeln gefunden hatten. So begann ein neues Nachdenken darüber, wie die christliche Familie »vor der eigenen Haustür« zusammenwachsen und ge­meinsam reden und handeln sollte. Ein eigener Zusammenschluss der verschiedenen Kirchen sollte ermöglichen, die Christenheit in Deutschland bei der Gründung des ÖRK 1948 in Amsterdam ge­meinsam zu vertreten. Ziel der ökumenischen Bewegung war es, die Kirchen »zu gemeinsamem Zeugnis und Dienst« zu vereinen, so wie sich neben dem weltweiten Ökumenischen Kirchenrat in vielen Ländern nationale Kirchen- und Christenräte bildeten.
Seit 1974 gehören dann auch die römisch-katholische Kirche sowie die Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland zur ACK. Und mit Wirkung vom 1. Januar 1992 schlossen sich die seit 1970 getrennten ost- und westdeutschen Arbeitsgemeinschaften wieder zusammen und unterzeichneten eine neue Satzung. In der Folgezeit hat sich die ACK weiter vergrößert. Sie umfasst heute 17 Vollmitglieder, sechs Gastmitglieder und vier Beobachter. Die in der ACK zusammengeschlossenen Kirchen bzw. kirchlichen Ge­meinschaften »bekennen den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland und trachten darum, gemeinsam zu erfüllen, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, wie in § 1 der ACK-Richtlinien festgehalten wird. Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur ACK ist die Anerkennung ebendieser »Richtlinien«, wie sie anstelle von »Satzung« nach einigen Auseinandersetzungen dann genannt und beschlossen wurden.
Vor dem Hintergrund der damaligen Auseinandersetzungen um das jeweilige theologische Selbstverständnis und das damit verbundene ökumenische Profil der Mitgliedskirchen und ihrer Bekenntnisverschiedenheit innerhalb wie außerhalb der EKD war die Entstehung und Gestaltung der ACK in Deutschland jedoch keineswegs einfach und selbstverständlich. »Bedenkt man die Situation und das Selbstverständnis der EKD in den frühen Nachkriegsjahren, dann ahnt man, wie hoch die Genfer Erwartungen waren, als sie die Organisation einer innerdeutschen Ökumene erhofften.« (110). Aufschlussreich ist an dieser Stelle wohl auch ein Vergleich mit der wenige Wochen später erfolgten Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 – ebenfalls durch die Erfahrung des Weltkrieges geprägt. Demütig reagierte sie auf die neue Situation, scheute aber zugleich vor klaren Worten nicht zurück, denn die tragische Spaltung der Welt erforderte radikale Versöhnung im Sinne von Umkehr und Erneuerung. Auch wenn im Fall des ÖRK anders als noch bei der ACK dann nicht nur von »Arbeitsgemeinschaft« und »kirchlichen Gemeinschaften«, sondern dezidiert von der »Gemeinschaft der Kirchen« die Rede ist, so ging ihr erster Generalsekretär Willem Visser’t Hooft gleichwohl auf die beständige Sorge vor einer »Über-Kirche« ein und stellte heraus, dass mit der Verwirklichung der ökumenischen Vision vielmehr angestrebt sei, dass die Kirchen aus Schuld und Reue gemeinsam Veränderung bewirken.
Der Zielsetzung einer ökumenischen Kirchengeschichte für die fraglichen Jahre 1948–2001 gerade aus der Perspektive der kleineren christlichen Konfessionskirchen entspricht schließlich auch die Gliederung des vorliegenden Bandes, wobei die damit einhergehende Periodisierung zugleich an den Kapitelüberschriften ablesbar ist: 1. Zeit der ACK-Anfänge und Weichenstellungen, 2. Zeit der Konsolidierung und Stagnation, 3. Zeit der Neuordnung und der ACK-Erweiterungen, 4. Zeit der beginnenden Rezeptionen und Aktionen, sowie 5. Zeit, der Berufung zur Einheit zu folgen. Dabei kommt hier wie dort immer wieder eine grundsätzliche »Wahrnehmungsdifferenz« zum Ausdruck, die sich außerhalb wie innerhalb der ACK auswirkt:
»Minderheiten haben zu den sie umgebenden Landeskirchen immer ein anderes Verhältnis, als es umgekehrt der Fall ist […] Was für die Kirchen, die das öffentliche kirchliche Leben beherrschten, eher eine Marginalie war, eröffnete für Minderheiten, die lange Zeit in der Öffentlichkeit kaum akzeptiert waren, eine hoffnungsvolle Perspektive.« (161 f.)
In diesem Sinne kommt der ACK bis heute die unverzichtbare Aufgabe einer ökumenischen Verständigung zu, die einhergeht mit der nicht minder notwendigen Pflicht einer jeden Mitgliedskirche der ACK zur Selbstvergewisserung im Verhältnis zu den anderen.
Um an dieser Stelle nur ein Beispiel zu erwähnen, das im vorliegenden Band ausführlich erörtert wird: Im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) und die Vierte Vollversammlung des ÖRK in Uppsala (1968) kam es auch in Deutschland erneut zur Diskussion über Aufgaben und Strukturen der 1948 gegründeten ACK. Dabei ging es nicht nur um die Aufnahme neuer Mitglieder über die bisherigen evangelischen Partnerkirchen hinaus, sondern mit der Frage nach dem Verhältnis von ACK, ÖC (Ökumenische Centrale), DÖSTA (Deutscher Ökumenischer Studienausschuss) und EKD nicht zuletzt auch um eine angemessene ökumenische Organisation bzw. Repräsentation nach innen wie nach außen. »Es ist unübersehbar, dass es eine Tendenz gab, den infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und der ÖRK-Vollversammlung in Uppsala aufgebrochenen ökumenischen Optimismus allein auf die EKD hin zu kanalisieren und damit zu begrenzen.« (315) – eine Debatte, die 1974 eben mit der Aufnahme der Griechisch-Orthodoxen Metropolie sowie der römisch-katholischen Kirche als neue Mitglieder der ACK dann immerhin eine für manche gar überraschende Wendung nahm.
Mit dieser markanten Erweiterung von Mitgliedskirchen verband sich zugleich die Frage, welchen Stellenwert insbesondere der »bilaterale Dialog« von EKD und Deutscher Bischofskonferenz (DBK) im ökumenischen Gesamtgefüge der ACK künftig haben würde, zumal ja schon seit Längerem eine Strukturreform und organisatorische Erneuerung der ACK in Deutschland etwa als »nationaler Christenrat« oder gar als »Kirchenkonferenz« im Sinne einer kirchlichen Gemeinschaft par cum pari (vgl. 346 u. ö.) gefordert wurde. Das wurde bereits im Vorfeld der Erweiterung 1974 immer wieder deutlich: »Die unterschiedlichen Zielvorstellungen der beiden jedenfalls in Deutschland tragenden Kirchen, der Bischofskonferenz, die auf eine Mitgliedschaft in der ACK drängte, und der EKD, die es lieber bei bilateralen Beziehungen zwischen EKD und DBK belassen hätte, fallen ins Auge.« (371) – Und das eben nicht zuletzt auch mit Blick auf das jeweilige Verhältnis zu den Freikirchen und freikirchlichen Gemeinschaften.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber auch die beinahe zeitgleich verlaufende innerprotestantische Verständigung, die als »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« 1973 zur Leuenberger Kirchengemeinschaft geführt hat und heute als »Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE) in ökumenischer Hinsicht für viele, wenngleich nicht für alle modellhaft erscheint. Auf diese Weise soll zugleich einer Entwicklung Rechnung getragen werden, dass unter den Bedingungen schwindender Identifikation mit der jeweils eigenen Konfession einerseits und zunehmend pluralisierter wie säkularisierter Gesellschaft andererseits die Zusammenarbeit der verschiedenen christlichen Konfessionen gerade im europäischen Kontext eine vordringliche gemeinsame Aufgabe ist, die – um an dieser Stelle auf die »Charta Oecumenica« (2001) als Selbstverpflichtung der unterzeichnenden Kirchen zu verweisen – auch und gerade den Dialog mit nichtchristlichen Religionsgemeinschaften notwendig einschließt.
Wie aktuell dergleichen Fragestellungen sind – nicht zuletzt mit Blick auf das jeweiligen Verständnis von Schrift, Bekenntnis und Kirche, wird derzeit an der kontroversen Debatte über eine mögliche neue Grundordnung der EKD deutlich, wenn einerseits vorgeschlagen und andererseits wiederum bestritten wird, dass die EKD als Kirchenbund bzw. als Gemeinschaft von Kirchen selbst »Kirche« sei. Die im vorliegenden Band jeweils diskursiv behandelten Themen sind zwar überaus komplex, und manche Thesen des Buches bleiben über den historischen Rückblick hinaus auch weiterhin kontrovers. Doch wie am Ende auch immer, die Lektüre der umfassenden Studie von V. ist in jedem Fall hilfreich und deshalb nicht nur kirchlichen »Insidern« sehr zu empfehlen.