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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

691-692

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Knecht, Achim

Titel/Untertitel:

Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie »Erlebnis« für Theorie und Praxis des Gottesdienstes.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 431 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02901-3.

Rezensent:

Klaus Raschzok

Achim Knecht geht in der überarbeiteten Fassung der im Jahr 2008 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (Betreuer: Hans-Günter Heimbrock) vorgelegten Dissertation von seinen Erfahrungen als Gemeindepfarrer aus. Die eigene Berufspraxis hat ihn für die Bedeutung des Erlebens im Gottesdienst sensibilisiert: »Nur wenn Menschen im Gottesdienst auch etwas davon erleben, wovon der Pfarrer in Liturgie und Predigt redet, wird die Botschaft des Evangeliums bei ihnen ankommen und ihnen einen Zugang zum Glauben und zur Gemeinde eröffnen.« (32) Engagiert fragt der Vf. nach den Bedingungen des Erlebens von Teilnehmenden in der Gestaltung des Gottesdienstes und verbindet damit das Interesse, »dass auch der traditionell gestaltete Gottesdienst zu einem Erlebnis wird, das die daran Teilnehmenden zum Glauben motiviert.« (11) Dabei entdeckt er ein besonderes Potential in Gottesdiensten des sogenannten »Zweiten Programms«. Diese visieren ein Publikum an, »das in den herkömmlichen Gottesdiensten kaum vorkommt« (18), und knüpfen an bekannte Formen medialer Unterhaltung an. »In der Orientierung am Erleben, die das Motiv für die Gestaltung von zusätzlichen Gottesdiensten darstellt, zeigt sich ein wesentlicher Gesichtspunkt für ein theologisch angemessenes Verständnis des Gottesdienstes. Kirche bezieht sich damit in sachgemäßer Weise zugleich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und auf die Botschaft des Evangeliums.« (26) So engagiert der Vf. für die Entwicklung neuer Gottesdienstformen wirbt (337), so unpräzise bleibt leider die Begrifflichkeit der Studie. Diese ist von einer vagen, mitunter auch polemischen, Vorstellung vom »traditionellen« Gottesdienst bestimmt.
Der Vf. geht damit von einer in der evangelischen Pfarrerschaft weit verbreiteten Vorannahme zum Gottesdienst aus, unterlässt jedoch, diese selbst zu reflektieren oder in den Kontext der aktuellen fachwissenschaftlichen Diskussion einzuzeichnen. Der nicht hinterfragte Ausgangs- und Zielpunkt der Studie wird dann auch im Ergebnis bestätigt: »Das Erlebnis hat grundlegende Bedeutung für jeden Gottesdienst. Die Bedeutung des Evangeliums wird zunächst emotional erlebt und erst von daher erkannt und verstanden. Das Erleben ist dabei das irdene Gefäß, in dem der Schatz des Glaubens zu finden ist. Es ist nicht der Schatz, aber dieser befindet sich in ihm […] Deshalb sollen die Verantwortlichen den Gottesdienst so gestalten, dass in ihm der Glaube, das Vertrauen zu Gott atmosphärisch und spielerisch-unterhaltsam erlebt werden kann. Das wird umso besser gelingen, wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin als Person dafür einsteht, was von ihm oder ihr im Gottesdienst amüsant und unterhaltsam inszeniert wird.« (407) Dem Kriterium der amüsanten und unterhaltsamen Gottesdienstgestaltung entsprechend, wird schließlich die Forderung erhoben, das Gottesdienstangebot der Kirchen milieugerecht zu differenzieren. (408) Begründet wird dies mit der Milieubedingtheit des Erlebens: »Nur wenn jemand einen milieuspezifischen Zugang zum Erleben im Gottesdienst findet, kann auch das Ritual als solches seine Erlebnisqualität für diese Person entfalten.« (153)
In der Durchführung bemüht sich die Studie um eine empirische Wahrnehmung von Gottesdiensten »unter dem Gesichtspunkt des Erlebens« (12). Der Vf. geht dabei davon aus, dass die Kategorie des Erlebnisses »sowohl der Dimension der Wirkung als auch der Di­mension der Bedeutung des Gottesdienstes gerecht« werde (46). Da­bei wird jedoch der Erlebnisbegriff nicht ausreichend zu den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen in Beziehung ge­setzt. Dieser bleibt unscharf und nebulös. Unklar ist weiterhin, weshalb der Begriff des Erlebens – wie auch der Titel der Studie voraussetzt – in der Gegenwart weithin theologisch diskreditiert sein soll (49).
Das zweite Kapitel der Studie »Empirische Untersuchung des Erlebens im Gottesdienst« (49–123) referiert breit Selbstverständlichkeiten zur Praktischen Theologie als empirischer Theologie, zur Teilnehmenden Beobachtung und zur Methodik der Dichten Beschreibung nach Clifford Gertz, während die empirische Untersuchung selbst in ihren Konturen und in ihrer methodischen Durchführung nicht näher erkennbar wird. Die im Zeitraum von neun Jahren (1999–2008) erfolgte Beobachtung und Beschreibung von 28 Gottesdiensten beschränkt sich darauf, ein Arsenal an Materialien und Beobachtungen bereitzustellen, erfährt aber selbst keine geordnete und sachgerechte Auswertung.
Die weiteren Kapitel zielen auf eine »Auslotung« (11) des Erlebnisbegriffes für Theorie und Praxis des Gottesdienstes. Dabei bleibt der Zusammenhang zur empirischen Untersuchung offen und beschränkt sich auf einzelne Ausschnitte aus Gottesdiensten, die vom Vf. scheinbar zufällig besucht wurden. Im dritten Kapitel erfolgt eine etymologische und geistesgeschichtliche Annäherung an das Phänomen. Aus kultursoziologischer Perspektive (Kapitel 4) zieht der Vf. die Kategorie der Erlebnisorientierung nach Gerhard Schulze (1992) heran. Neuere Untersuchungen wie etwa die sogenannte Bayreuther Studie (Jeannett Martin) werden nicht zur Kenntnis genommen. Unter rezeptionsästhetischer Perspektive entfaltet der Vf. das Erleben im Gottesdienstes als die Wahrnehmung von Atmosphären (Kapitel 5). Unter kulturanthropologischer Perspektive Spiel und Ritual (Kapitel 6) sowie Unterhaltung (Kapitel 7). Dabei wird die bereits 2004 von Olaf Richter als Dissertationsschrift vorgelegte Studie »Anamnesis, Mimesis, Epiklesis. Der Gottesdienst als Ort religiöser Bildung« nicht wahrgenommen. Auch spielt Romano Guardini keine Rolle!
Die Studie spiegelt klassische, in der Pfarrerschaft weit verbreitete Grundannahmen zum Gottesdienst und versucht, diese unhinterfragt und losgelöst vom Kontext der liturgiewissenschaftlichen Fachdiskussion abzusichern. Dabei greift sie missbräuchlich auf das gesamte Arsenal der Praktischen Theologie zurück. Wenn der Vf. die Entwicklung zu einer Gleichberechtigung unterschiedlicher ästhetischer Formen im Gottesdienst als ausgesprochen evangelisch etikettiert (193), verkennt er, dass die reformatorische Rede vom Priestertum aller Getauften gerade nicht als Predigertum aller Getauften missverstanden werden darf. Grundlegend problematisch und auch CA 5 nicht sachgerecht interpretierend ist das Verständnis des gottesdienstlichen Geschehens als Bedeutungserzeugung bzw. Bedeutungsvermittlung.
Auch im Blick auf die herangezogenen kulturwissenschaftlichen Diskurse verbleibt der Vf. an der Oberfläche der klassischen Positionen. Deren aktuelle Weiterführung, wie sich dies etwa am Beispiel Gernot Böhmes durch den Einbezug der Studie seiner Schülerin Eva Schürmann und deren spezifischen kulturwissenschaftlichen Praxisbegriff nahegelegt hätte, nimmt er nicht zur Kenntnis.
Die gesamte Studie bleibt einem Verständnis von Praktischer Theologie als »Bedeutungswissenschaft« verhaftet und vollzieht den Wandel zur Ereigniswissenschaft noch nicht mit. Die Studie bereichert die praktisch-theologische Forschung daher in keiner Weise und macht das Desiderat einer sachgerechten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Frage nach der Erlebnis-Dimension des evangelischen Gottesdienstes bewusst. Die angedeuteten kirchentheoretischen Konsequenzen erweisen sich als hoch problematisch.